Zwischen Enklave und Vernetzung: Kunstgeschichte an der TU Darmstadt
Ausgangspunkt für das eintägige Symposium “Zwischen Enklave und Vernetzung: Kunstgeschichte an der TU Darmstadt“ bildete das 150-jährige Jubiläum des Fachs Kunstgeschichte an der TU Darmstadt im Wintersemester 2019/20. Wie Christiane Salge zu Beginn erinnerte, wurde die kunsthistorische Professur bereits 1869 mit der Gründung der Polytechnischen Schule – der Vorgängerinstitution der späteren Technischen Hochschule und Technischen Universität – etabliert. Seit 1972 gibt es neben dieser ersten Professur für Kunstgeschichte im Fachbereich Architektur, die Salge derzeit innehat, eine zweite Professur, die anfänglich dem Fachbereich Chemie angehörte und dort der Ausbildung der GewerbelehrerInnen diente. Heute ist dies die dem Fachbereich Humanwissenschaft angegliederte Professur Mode und Ästhetik, die von Alexandra Karentzos bekleidet wird. Weiterhin führte Salge einleitend konzise in die Struktur und Ausrichtung des Symposiums ein. Sie betonte mit Nachdruck, dass im Fokus keine Hommage an einzelne Persönlichkeiten der Darmstädter Kunstgeschichte stehe, sondern eine kritische Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Der Schwerpunkt wurde auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts gelegt, da die Fachgeschichte bis 1945 jüngst ausführlich verhandelt wurde.[1] Mit dem Symposiumsthema „Zwischen Enklave und Vernetzung“ werden die unterschiedlichen Rollen der Kunstgeschichte an der TU Darmstadt in der Vergangenheit wie heute – als Hilfswissenschaft in der Lehre einerseits und als innerhalb der Universität, der Umgebung und der Disziplin vernetzter Standort andererseits – sichtbar gemacht.
Das Symposium war Teil eines größer angelegten von Salge und Karentzos initiierten Forschungsprojektes, in dem die Geschichte der Kunstgeschichte an der TU unter der Leitung von Lisa Beißwanger über einen Zeitraum von einem Jahr erstmals intensiv aufgearbeitet wurde. Hierfür waren das Universitätsarchiv sowie der enge Austausch mit ZeitzeugInnen grundlegend. Neben dem Symposium wurde eine Website mit ausführlicher Dokumentation der Projektergebnisse eingerichtet [2] und ein Seminar unter der Leitung von Beißwanger und Miriam Oesterreich durchgeführt, dessen Ergebnisse teilweise Eingang in die Projektwebsite fanden. Die Struktur des Forschungsprojektes und insbesondere der Website wurde einleitend von Beißwanger vorgestellt. Sie hob den wissenschaftlichen Anspruch der Website hervor und die Intention, dass diese auch Impulse zu weiterführender Forschung geben solle. Detaillierte Informationen zu zentralen Aspekten der Darmstädter Kunstgeschichte, Erläuterungen zu ProfessorInnen inklusive deren Publikationslisten, Darlegungen zur Lehr- und Forschungssituation sowie zahlreiche historische Dokumente sind hier zu finden. Hervorzuheben ist die Rubrik „Kurzrezensionen“, in der aktuelle Re-Lektüren zu wichtigen Veröffentlichungen einstiger Darmstädter ProfessorInnen publiziert werden.
Yvonne Rickert (Marburg) hielt den ersten Vortrag, in dem sie am Beispiel der beruflichen Laufbahn Hugo von Ritgens im 19. Jahrhundert die durch Verbundenheit wie Rivalität geprägten Beziehungen zwischen der Polytechnischen Schule Darmstadt und der Landesuniversität Gießen darlegte. Aufgrund der fehlenden vollumfänglichen akademischen Ausbildungsmöglichkeiten im Architekturfach im Großherzogtum Hessen-Darmstadt um 1830 erwarb von Ritgen, der eine Position als Universitätsprofessor der Baukunst anstrebte, die notwendigen Qualifikationen in Gießen und Darmstadt. Erst mit der Berufung von Ritgens an die Landesuniversität Gießen 1838 und bis zur Angliederung der dortigen Bau- und Ingenieurswissenschaften an die Polytechnische Schule in Darmstadt 1874 – die wiederum die Umwandlung seines Lehrstuhls in die erste Gießener Professur für Kunstwissenschaft zur Folge hatte – scheint ein Architekturstudium an der Landesuniversität möglich gewesen zu sein.
Ebenfalls mit den Verbindungen zwischen der Gießener und Darmstädter Kunstgeschichte, allerdings nach 1945, beschäftigte sich Sigrid Ruby (Gießen). Ihr Vortrag thematisierte die heute nur in Teilen rekonstruierbare, unfreiwillige und laut ministeriellem Beschluss leihweise Lehrmittelabgabe des Gießener kunstwissenschaftlichen Instituts an die TH Darmstadt in der Folge der Schließung der geisteswissenschaftlichen Institute der Universität Gießen auf Grundlage eines Kabinettbeschlusses vom 25. April 1946. Dokumente belegen einerseits die Vorwürfe von Darmstädter Seite einer unvollständigen Lehrmittelabgabe und andererseits die Bemühungen von Gießener Seite um den Erhalt bzw. später die Rückgabe der Bestände.
Den Werdegang Ottilie Radys, die sich als erste Frau in Deutschland 1929 im Fach Kunstgeschichte habilitierte und von 1934 bis 1936 als außerordentliche Professorin an der TH Darmstadt lehrte, zeichnete Christiane Salge nach und rückte dabei die geschlechtsspezifische Situation von Wissenschaftlerinnen der Zeit in den Fokus. An einer technischen Hochschule befand sich Rady als Kunsthistorikerin „in einer gewissen wissenschaftlichen Enklave“, die allerdings aufgrund der begrenzten männlichen Konkurrenz auch zu ihrem Vorteil gereicht haben dürfte. Salge griff in ihrem Vortrag unter anderem die in der Forschung vertretene These auf, frühe promovierte und habilitierte Kunsthistorikerinnen seien häufig erfolgreich gewesen, wenn sie sich mit Nischenthemen auseinandersetzten, die ihre männlichen Kollegen nicht erforschten [3], kam aufgrund neuer Erkenntnisse aber zu dem Schluss, „dass es schwierig ist bezüglich der Frage der Nische zu einer eindeutigen Aussage zu kommen.“
Christian Fuhrmeister (München) perspektivierte den an der TH Darmstadt von 1942–1949 als Professor lehrenden Oskar Schürer im Kontext des Nationalsozialismus. Der vielseitig forschende Schürer beschäftigte sich unter anderem intensiv mit der Kunst der Avantgarde, zugleich war seine Arbeit während des Nationalsozialismus allerdings zunehmend ideologisch ausgerichtet. Bezüglich seiner Forschungen zu Prag äußerte Schürer 1940, dass diese „den Anspruch erheben, der Reichspolitik vorgearbeitet zu haben durch die wissenschaftliche Begründung des deutschen Anspruchs auf das Sudentenland.“ [4] Fuhrmeister stellt die „Diagnose einer Kongruenz mit weiten Teilen der NS-Politik“ und erläutert insbesondere am Beispiel von Wilfried Brosches Ausführungen über Schürer [5], wie solche Kongruenzen in der Nachkriegsrezeption zum Teil unausgesprochen blieben und stattdessen ein Bild passiver, getriebener Personen vermittelt wurde.
Gleich zwei Vorträge stellten Hans Gerhard Evers, der den Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der TH Darmstadt von 1950 bis 1968 innehatte, in den Fokus. Frederike Lausch (Aachen) untersuchte Evers’ Beschäftigung mit der Architekturfotografie in den 1950er- und 1960er-Jahren und seine daraus resultierenden Ansichten. Sie ging in diesem Zuge auch ausführlich auf die damalige Diasammlung der TH Darmstadt und unterschiedliche Studienreisen sowie Exkursionen ein. Lisa Beißwanger widmete sich der Bedeutung Evers’ für die Darmstädter Gespräche und nahm umgekehrt auch deren Bedeutung für den Kunsthistoriker in den Blick. Die bisherige Forschung zu den Darmstädter Gesprächen setzte sich vornehmlich mit ihren Inhalten auseinander, die Rolle von Evers konnte nun mithilfe seines Nachlasses im Universitätsarchiv der TU Darmstadt aufgezeigt werden. Am Beispiel des 1. Darmstädter Gesprächs 1950, das aufgrund der Teilnahme Hans Sedlmayrs konfliktreich verlief, legte Beißwanger dar, dass Evers nicht nur Gesprächsleiter und Herausgeber des Tagungsbandes war. Vielmehr übernahm er zahlreiche Aufgaben hinsichtlich der Administration, Organisation und Kommunikation. Die Korrespondenzen mit Sedlmayr und anderen Gästen im Nachgang des 1. Gesprächs zeigen Evers, so Beißwanger, „als einen Meister der taktierenden Diplomatie und als einen Netzwerker, der den Dialog zwischen konträren Positionen herzustellen versuchte.“ Insgesamt konturierte die Referentin Evers als eine Person, der eine „Scharnierfunktion zwischen Hochschule, Stadt, Kulturszene und Öffentlichkeit“ zukam.
Die Vorträge von Andreas Romero (Gauting) und Hauke Horn (Darmstadt) lenkten die Aufmerksamkeit auf die benachbarten Professuren an der Architekturfakultät. Romero zeichnete zunächst den Werdegang seines Vaters, des von 1959 bis 1980 als Professor für Entwerfen, Baugeschichte und Kirchenbau tätigen Rolf Romero, nach und erläuterte im Fortgang dessen didaktisches Konzept, für das eine Aneignung des Gegenstandes durch händisches Skizzieren essentiell ist. Die städtebautheoretischen und architekturhistorischen Ideen Karl Grubers, der von den 1930er- bis in die 1950er-Jahre den Lehrstuhl für Baukunst 5 in Darmstadt innehatte, erläuterte Horn. Wesentlich für Grubers historisch geprägte Stadtbautheorie, in der die mittelalterliche Stadt als Ideal fungiert, sind die Religion und die damit einhergehende Prominenz des Sakralbaus, ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Individualität und Kollektivität, ein am Menschen orientierter Maßstab sowie die Aufrechterhaltung der städtischen Identität. Dabei ist Horns Erkenntnis zentral, dass Gruber Architekturgeschichte „nicht als kritisch-objektive Wissenschaft, sondern als idealistische Verklärung“ ausübte. Ebenso konnte der Referent am Beispiel einiger Architekturstudenten Grubers nachweisen, inwiefern dessen Ansätze in deren Tätigkeit fortlebten und somit durchaus eine regionale Wirkung entfalteten.
Die Auswirkungen der Studentenbewegung auf die Hochschulpolitik um 1968 und das Fach Kunstgeschichte im Speziellen untersuchte Martin Papenbrock (Karlsruhe) und verdeutlichte, dass die Darmstädter Kunstgeschichte von den Veränderungen im Fach nahezu unbetroffen war. Er führte als Hauptgründe hierfür das an Technischen Hochschulen gegenüber Universitäten grundsätzlich weniger politisierte Klima an sowie den Lehrstuhlwechsel in der Darmstädter Kunstgeschichte 1969, also noch bevor die kritische Bewegung sich drastisch verstärkte. Hinsichtlich der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Veränderungen im Hochschulbereich um 1968 unterstrich Papenbrock die bislang starke Fokussierung der professoralen Geschichte und die noch unzureichende Erforschung der Studierenden und der studentischen Kultur.
Im letzten Vortrag beleuchtete Alexandra Karentzos die Geschichte und Entwicklung des Arbeitsbereiches Mode und Ästhetik an der TU Darmstadt. Bereits der von 1966 bis 1975 an der TH Darmstadt lehrende Berufspädagoge Hans Lehmberg vermittelte den Studierenden eine Gestaltungs- und Formenlehre, die konzeptuell stark am Bauhaus-Vorkurs angelehnt war, womit früh „der Grundstein für eine Mode und Ästhetik mit kunsthistorischem Schwerpunkt gelegt wurde“, wie Karentzos argumentierte. 1992 wurde die Wella-Stiftungsdozentur für Mode und Ästhetik ins Leben gerufen, die ab 2007 eine Stiftungsprofessur war und seit 2016 als ordentliche Professur fortgeführt wird. Die Darmstädter Mode und Ästhetik hat sich so von einer Enklave innerhalb des Fachbereichs Chemie zu einem international vernetzten Arbeitsbereich entwickelt, der seit 2005 dem Fachbereich Humanwissenschaft angehört.
Der im Symposiumsthema verankerte Vernetzungsaspekt ist letztlich nicht nur aus historischer Perspektive bedeutsam, auch für das Gelingen der Aufarbeitung der Kunstgeschichte an der TU Darmstadt heute war und ist er konstitutiv. Es handelte sich insgesamt um ein bereicherndes Symposium, in dessen Beiträgen durch die intensive Auseinandersetzung mit bisher unerschlossenen Quellen und Zeitzeugengesprächen zahlreiche neue Inhalte zutage gefördert und aufgrund neuer Erkenntnisse etablierte Thesen auf den Prüfstand gestellt werden konnten.
Anmerkungen
[1] Vgl. Christiane Salge: Das Fach Kunstgeschichte an der Technischen Hochschule in Darmstadt von 1869 bis 1945. In: Robert Stalla (Hg.): Kunstgeschichte an Polytechnischen Instituten, Technischen Hochschulen, Technischen Universitäten. Geschichte – Positionen – Perspektiven, Wien/Köln/Weimar 2021, S. 59–80.
[2] https://www.architektur.tu-darmstadt.de/150-jahre-kunstgeschichte/projekt_150jkg/index.de.jsp
[3] Mit der Nischenfrage beschäftigten sich unter anderem Gabriele Hofner-Kulenkamp, Barbara Lange und Barbara Paul in der Ausgabe „Grenzverschiebungen“ der Kritischen Berichte 22 (1994). Insbesondere Paul widmete sich in ihrem Beitrag (S. 6–21) der Frage, ob sich die Auseinandersetzung mit Nischenthemen positiv auf die Werdegänge von Kunsthistorikerinnen zu Anfang des 20. Jahrhunderts auswirkte und bejahte diese.
[4] Schürer an Philipp Broemser, Rektor der Universität München, 12.09.1940, zit. n. Christian Fuhrmeister: Optionen, Kompromisse und Karrieren. Überlegungen zu den Münchener Privatdozenten Hans Gerhard Evers, Harald Keller und Oskar Schürer, in: Nikola Doll / Christian Fuhrmeister / Michael H. Sprenger (Hrsg.): Kunstgeschichte im Nationalsozialismus. Beiträge zur Geschichte einer Wissenschaft zwischen 1930 und 1950, Weimar 2005, S. 219–242, hier S. 233.
[5] Wilfried Brosche: Oskar Schürer. 22.10.1892 – 29.4.1949, in: Bohemia 10 (1969), S. 430–445.
Empfohlene Zitation:
Lisa Pregitzer: [Tagungsbericht zu:] Kunstgeschichte an der TU Darmstadt (Technische Universität Darmstadt, Online-Symposium, 29.01.2021). In: ArtHist.net, 14.07.2021. Letzter Zugriff 29.11.2024. <https://arthist.net/reviews/34588>.
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