REV 23.03.2011

Woldt, Isabella; Żuchowski, Tadeusz J. (Hg.): Im Schatten von Berlin und Warschau

Rezensiert von Anna Goebel, Augsburg
Redaktion: Rainer Donandt
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Die adlige Residenzarchitektur Ostpreußens gehört immer noch zu den wenig erforschten Gebieten der neueren Kunstgeschichte: Nur die größten und prominentesten Adelssitze wie Finckenstein, Schlobitten oder Friedrichstein wurden mit einer Monographie gewürdigt; [1] viele der in der Nachkriegszeit verfallenen Bauwerke sind in Vergessenheit geraten. Wichtige Fragen, die die ästhetischen letztlich auch die gesellschaftlichen und politischen Hintergründe dieser Bauten betreffen, sind darüber vielfach offen geblieben. In der ikonographischen und typologischen Analyse wurden bisher überwiegend westeuropäische Bauten als mögliche Inspirationsquellen berücksichtigt, weitgehend vernachlässigt bleiben indes die künstlerischen und kulturellen Kontakte des preußischen Hochadels zu seinem größten Nachbarn und dem ehemaligen Lehnsherrn, der polnisch-litauischen Res publica. Umgekehrt wurde in der polnischen Forschungstradition zu den eigenen Adelssitzen der Blick nach Berlin oder in andere Kulturzentren des deutschsprachigen Raumes zumeist mit Absicht außer Acht gelassen.

Der vorliegende Sammelband, der im Anschluss an ein gemeinsames Forschungsprojekt der kunsthistorischen Institute der Universitäten in Hamburg und Posen unter der Betreuung von Isabella Woldt und Tadeusz J. Żuchowski publiziert wurde, ist ein Versuch, sowohl die preußische als auch die polnische Baukunst aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Die Seminarteilnehmer, Nachwuchswissenschaftler aus Polen und Deutschland, bereisten und untersuchten elf Adelssitze, die zwischen 1650 und 1850 auf dem Gebiet des Herzogtums, seit 1701 des Königreiches Preußen sowie im Norden Polens (Kulmerland, Nordmasowien) erbaut worden sind und heute auf polnischem Staatsgebiet liegen. Die Ergebnisse dieser Untersuchungen wurden in Form selbständiger Beiträge in Zusammenarbeit jeweils eines polnischen und eines deutschen Autors bzw. Autorin verfasst.

„Die Wahl der untersuchten Objekte richtete sich weniger nach ihrer Größe, vielmehr sind hier Probleme der Baukunst und der Funktion der Bauwerke eng verknüpft mit den Problemen des Eigentums und der Familiengeschichte der Bauherren sowie der gesellschaftspolitischen Karrieren der Residenten richtungsweisend gewesen. Die untersuchten Objekte stehen repräsentativ für die jeweiligen Zusammenhänge vor dem Hintergrund der tatsächlichen gesellschaftlichen, politischen und allgemeinkulturellen Verhältnisse, in der behandelten Region und darüber hinaus“ (S. 13). Dementsprechend vielgestaltig ist auch der Forschungsgegenstand, der Bauwerke unterschiedlicher Größe und Funktion, die im Zeitraum von zwei Jahrhunderten auf getrennten Staatsgebieten entstanden sind, einschließt: von monumentalen Residenzanlagen der preußischen Hofbeamtenschaft (Schlobitten, Finckenstein), über kleine Jagdschlösser und Gutshöfe (Eichmedien, das alte Schloss in Ostrometzko) bis hin zu romantischen Künstlerrefugien (Opinogóra).

Das Buch gliedert sich in vier Kapitel mit jeweils zwei bzw. drei Beiträgen zu den ausgewählten Objekten, die sich mit deren typologischer bzw. ikonographischer und stilgeschichtlicher Einordnung in den gesamteuropäischen Kontext der Residenzarchitektur befassen, darüber hinaus die sozialgeschichtlichen Hintergründe der Wahl bestimmter Vorbilder erörtern.
Die ersten beiden Kapitel, „Anfänge der preußischen Adelsresidenz im Barock“ (S. 19-104) und „Genese der großen Barockresidenzen“ (S. 105-186), thematisieren die gesellschaftspolitischen und kulturellen Beziehungen der preußischen Adelsfamilien zu den Kunstzentren von Berlin und Warschau und die daraus resultierende Einflussnahme auf den Schlossbau im Herzogtum Preußen um 1700. Um die gleich eingangs formulierte These, dass „vor der Emanzipation des preußischen Adels bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts das Warschauer Zentrum mit dem Architekten Tilman van Gameren an der Spitze und seinen Nachahmern einen wichtigen Einfluss ausübte“ (S. 14) zu untermauern, wurden dem ersten Kapitel zwei Einführungstexte über die Residenzarchitektur im polnisch-litauischen Doppelreich vorangestellt: von Tadeusz J. Żuchowski über die adlige Baukunst der Wasa-Zeit (1586-1668), sowie von Isabella Woldt über die Tätigkeit des Architekten Tilman van Gameren für die Auftraggeber des polnisch-litauischen Hochadels um 1700. Anschließend werden diese Beziehungen anhand von zwei Bauwerken erläutert, deren Auftraggeber aufgrund der eigenen persönlichen und beruflichen Erfahrungen sowohl mit der preußischen als auch der polnischen Baukunst in Berührung gekommen waren, dem um 1700 ausgebauten Schloss Steinort der Familie Lehndorff, sowie dem Gutshof Eichmedien, der ebenfalls kurz nach der Jahrhundertwende von dem preußischen Diplomaten Johann von Hoverbeck in Auftrag gegeben wurde.

Im nächsten Kapitel richtet sich der Blick nach Berlin, zu den Hofarchitekten des neu gegründeten Königreiches Preußen und ihrer Tätigkeit für den preußischen Adel. Wünschenswert wäre auch an dieser Stelle ein analog zum vorigen Kapitel konzipierter Einführungstext, der die mit der neuen politischen Situation einhergehenden kulturellen und künstlerischen Wandlungsprozesse genauer ausleuchtet. Stattdessen widmen sich die Autoren gleich konkreten Beispielen, die den gesellschaftlichen Aufstieg der drei alteingesessenen Familien Preußens Dohna, Dönhoff und Finckenstein zu den engsten Kreisen des königlichen Hofes thematisieren. Vorgestellt werden hier drei Residenzanlagen, die in den ersten Dezennien des 18. Jahrhunderts unter Beteiligung oder Einfluss des Hofarchitekten Jean de Bodt erbaut bzw. umgestaltet worden sind, Schlodien, Dönhoffstädt und Finckenstein. Bezeichnend ist dabei die in den einzelnen Beiträgen plausibel dargelegte Wahl besonders repräsentativer, in der preußischen Architektur bisher unbekannter Bautypen oder ikonographischer Elemente (wie etwa Dreiecksgiebel mit reichem Skulpturenschmuck oder vorgelagerte Säulenportiken), mit deren Hilfe die Bauherren ihren eigenen hohen Rang und die Funktion des Bauwerks akzentuieren wollten: Einige dieser Residenzen, wie beispielsweise Finckenstein, dienten als sogenannte Königsschlösser, die der preußische Monarch auf seiner Durchreise von Berlin nach Königsberg als Quartier benutzte.

Die soziale Stellung des Besitzers und deren Einfluss auf den Bautypus, die Funktion sowie auf die Wahl der ikonographischen und stilistischen Vorbilder stehen im Vordergrund des dritten Kapitels, „Der Adelssitz und der gesellschaftspolitische Aufstieg im 18. und 19. Jahrhundert“ (S. 187-254). In den einzelnen Beiträgen werden drei typologisch und funktional differente Anlagen preußischer bzw. polnischer Adelssitze vorgestellt, die spätbarocke Residenz der Familie zu Dohna in Schlobitten, der neugotische Landsitz der Familie von Brünneck in Groß Bellschwitz, und schließlich Ostrometzko, ein kleines, um 1750 von der polnischen Adelsfamilie Mostowski erbautes Jagd- und Lustschloss im Stil der polnischen und sächsischen Bauten der Wettiner, das ca. hundert Jahre später von den neuen Besitzern, der preußischen Familie Schönborn, um einen der klassizistischen Architektur Berlins nachempfundenen Palastbau erweitert wurde. Insbesondere das letzte Beispiel veranschaulicht treffend das Zusammenspiel zwischen der Gestaltung der Residenz und den gesellschaftspolitischen Wandlungsprozessen in der Region, die bis 1772 zum polnischen Königreich, nach dessen Teilung zu Preußen gehörte.

Das letzte Kapitel, „Die Neugotik und ihre Gesichter“ (S. 255-316), führt drei Beispiele aus dem 19. Jahrhundert vor, die unterschiedliche Aspekte der Repräsentation des polnischen Adels nach dem Verlust der politischen Souveränität aufgreifen: als Denkmal des polnischen Patriotismus wie die Residenz des Freiheitskämpfers Ludwik Michał Pac in Dowspuda, deren Skulpturenprogramm an der Fassade die glorreichen Ereignisse der polnischen Geschichte vor Augen führen sollte, als romantisches Dichterrefugium (das Schlösschen der Familie Krasiński in Opinogóra), dessen Bauform mit oktogonalem Turm an die englischen und deutschen Vorbilder anknüpft oder als elegantes Statussymbol eines ambitionierten Aufsteigers (das Schloss Goßlershausen, für den Grafen Stefan Narzymski von dem Berliner Architekten Friedrich August Stüler errichtet).

Trotz einer gewissen Uneinheitlichkeit in der Struktur des Materials und der Wahl der Objekte – bei den barocken Residenzen handelt es sich überwiegend um Beispiele der preußischen Architektur, bei den neugotischen Bauten hingegen um polnische Adelssitze – erweist sich das Buch als sehr informativ und lesenswert. Die Beiträge zu den einzelnen Objekten, mit reichem Bildmaterial, darunter zahlreichen großformatigen farbigen Abbildungen, ergänzt, bestechen durch gute Aufarbeitung der Quellen und Sekundärliteratur. Die sorgfältige Recherche resultierte bei einigen von ihnen in neuen Befunden zur Datierung oder zur Baugeschichte. Mit ihrer auf die gesellschaftspolitischen Hintergründe der Auftraggeberschaft fokussierenden Fragestellung greift die Publikation einige der anfangs erwähnten Forschungsdesiderata auf – beispielsweise die Rolle der kulturellen und künstlerischen Kontakte des preußischen Adels mit Polen bzw. der polnischen und litauischen Adligen mit dem Berliner Kulturzentrum – und leistet gleichermaßen einen wichtigen Beitrag zu der Forschung zur europäischen Residenzarchitektur, wie sie zu vertieften Studien zu den großteils unbekannten und vom Verfall bedrohten Bauten anleitet.

Anmerkung:
[1]. Carl Grommelt und Christine von Mertens (Hg.): Das Dohnasche Schloss Schlobitten in Ostpreußen, Stuttgart 1962; Carl E. L. von Lorck: Schloss Finckenstein: ein Bauwerk des preußischen Barock im Osten, Frankfurt am Main 1966; Kilian Heck und Christian Thielemann (Hg.): Friedrichstein: das Schloß der Grafen von Dönhoff in Ostpreußen, München [u.a.] 2006.

Woldt, Isabella; Żuchowski, Tadeusz J. (Hrsg.): Im Schatten von Berlin und Warschau. Adelssitze im Herzogtum Preußen und Nordpolen, 1650-1850, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2010
ISBN-13: 978-3-496-01410-2, 394 S, ca. EUR 69.00, ca. sfr 116.00

Empfohlene Zitation:
Anna Goebel: [Rezension zu:] Woldt, Isabella; Żuchowski, Tadeusz J. (Hrsg.): Im Schatten von Berlin und Warschau. Adelssitze im Herzogtum Preußen und Nordpolen, 1650-1850, Berlin 2010. In: ArtHist.net, 23.03.2011. Letzter Zugriff 19.04.2024. <https://arthist.net/reviews/341>.

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