REV 19.11.2003

Achim Simon: Österreichische Tafelmalerei der Spätgotik

Rezensiert von Maria Theisen
Redaktion: Achim Timmermann

Achim Simons Publikation ist einer der bedeutendsten Strömungen der europäischen Malerei des 15. Jahrhunderts gewidmet: den neuen Errungenschaften der Niederländer auf dem Gebiet der Maltechnik und Bilderfindung - mit denen berühmte Protagonisten wie der Meister von Flémalle, Jan van Eyck und Rogier van der Weyden untrennbar verbunden sind - sowie deren Wirkung auf die außerniederländische Malerei. Was das Phänomen der Rezeption niederländischer Kunst im allgemeinen anbelangt, so konnte der Autor auf eine Vielzahl von Katalogen, Überblickswerken und Studien prominenter Kunsthistoriker zurückgreifen. Zur Einflußnahme niederländischer Kunst speziell auf die österreichische Tafelmalerei lagen dagegen bisher nur wenige Einzelstudien vor [1]. Breiter angelegte Forschungen auf regionaler Ebene, die sich selbstverständlich ebenfalls mit dem Einfluß der Niederländer auseinandersetzten, wurden vor allem dem Albrechtsmeister, den beiden Schottenmeistern, Michael Pacher und den beiden Frueaufs gewidmet. Eine übersichtliche, monographische Aufarbeitung dieses Themas war daher ein sehr willkommenes und vielversprechendes Unterfangen.

Achim Simons Ziel war es, zunächst über deskriptiv-vergleichende Betrachtungen hinausgehend, die inneren Mechanismen für Motiv- und Stilübernahmen aufzuspüren. Mit einer beeindruckenden Fülle von Detailinformationen zeichnet der Autor daher in der ersten Hälfte seines Buches ein Bild der historischen Rahmenbedingungen für die Aufnahme der niederländischen Strömung außerhalb der Niederlande, indem er Themen wie Export und Kopie, Werkstattorganisation und Künstlerwanderung, Rolle des Auftraggebers, Kunstgeschmack und zeitgenössische Kunstrezeption kritisch untersucht. Die unzähligen, aus bislang kaum beachteten Dokumenten gewonnenen Einblicke in die mittelalterliche Kunstproduktion sind in diesem Teil der Arbeit allerdings keineswegs auf Österreich fokussiert, sondern bringen Detailnformationen aus allen Teilen Europas. Der Autor überlässt es dem Leser, aus den meist in Fußnoten untergebrachten Bemerkungen entsprechende Analogschüsse für die alpenländische und ostösterreichische Kunstlandschaft zu ziehen.

In bewußtem Gegensatz zu Otto Pächt [2], der jener schon auf Vasari zurückgehenden These, eine technische Erfindung sei ausschlaggebend für einen neuen Stil (ars nova) gewesen, sehr skeptisch gegenüberstand, betont Achim Simon abschließend die seiner Ansicht nach sehr wohl stilbeeinflussenden Unterschiede zwischen der niederländischen Maltechnik und der altdeutschen bzw. österreichischen Malweise, hier vor allem mit Hinweis auf Manfred Kollers technologische Untersuchungen [3]. Erstere zeichnete sich im wesentlichen durch die Transparenz der verwendeten Öllasuren und deren schichtweisen Aufbau aus, während in den Alpenländern „körperhaft aufgetragene Farbmassen“ von dunklem Grund ausgehend hell gehöht wurden.

Neben der Übernahme niederländischer Maltechnik als Voraussetzung für die Rezeption niederländischer Gestaltungsprinzipien betont Achim Simon aber auch - diesmal in Gleichklang mit Otto Pächt - , dass die flämische Malerei primär von der Kontur (Fläche), die österreichische hingegen von der plastischen Farbmodellierung der Einzelfigur (Plastizität) ausging. Die linien- und detailorientierte niederländische Malerei schien geradezu prädestiniert für eine Verbreitung mittels graphischer Blätter, Muster- und Skizzenbücher - und konsequenterweise auch dafür, dass aus diesen hauptsächlich einzelne Motive, nicht aber ganze Kompositionen in den sogenannten „harten“ Stil übertragen wurden. Die nachweislich schon von den Zeitgenossen geschätzten und heute gemeinhin als „niederländisch“ bezeichneten Realismen könnten nach Ansicht des Autors in der ersten Jahrhunderthälfte jedoch ebensogut Resultat einer internationalen Realismustendenz gewesen sein.

Eine tiefergehende Rezeption des niederländischen Stils wäre in den österreichischen Ländern laut Simon erst durch die Einführung der lasierenden Maltechnik möglich geworden, die eine langsamere, detailliertere Arbeitsweise zur Folge hatte. Simon unterstreicht allerdings mehrmals, dass die österreichischen Künstler auch später kaum in direkten Kontakt mit der Kunst der großen niederländischen Meister gekommen waren, sodass in den meisten Fällen von einer Vermittlung durch deutsche (insbesondere Kölner, fränkische und oberrheinische) Künstler auszugehen ist. So wird beispielsweise der Altar von Maria am Gestade in Wien zurecht in Zusammenhang mit Pleydenwurffs „Kalvarienberg“ (München, Alte Pinakothek) gesehen, oder der „Roggendorferaltar“ in Niederösterreich mit dem Oeuvre Hans Memlings verglichen, welches nach Ansicht des Autors durch Kupferstiche aus dem Kreis Schongauers vermittelt worden war. Einzig der eng an Rogier van der Weyden anknüpfende ältere Schottenmeister scheint - wie schon Rosenauer annahm - selbst in den Niederlanden gewesen zu sein. Robert Suckales Forschungen, welche einen zeitweisen Aufenthalt des Schottenmeisters und anderer Wiener Maler im Atelier Pleydenwurffs belegen, werden von Achim Simon jedoch nicht angeführt [4]. Daher werden die im Vergleich zum erwähnten „Kalvarienberg“ Pleydenwurffs ausgestauschten Positionen von Maria und Johannes am Altar von Maria am Gestade in Wien immer noch als Resultat eines beiden Bildern gemeinsamen niederländischen Vorbildes erklärt.

Anhand von Gegenüberstellungen niederländischer und österreichischer Werke werden im zweiten großen Abschnitt des Buches die unterschiedlichen Grade der Stilrezeption in den österreichischen Ländern analysiert. Dabei gliedert der Autor das zur Diskussion stehende Material nicht nach direkten oder indirekten Abhängigkeiten, sondern nach den Hauptmeistern der Niederländischen Malerei. Die vielfältigen Begegnungen der alpenländischen Kunst mit dem niederländischen Stilidiom erklärt Simon etwa anhand der um 1460/70 entstandenen „Visitatio“ aus dem Tiroler Pustertal (Innsbruck, Ferdinandeum) oder der Tiffener „Verkündigungstafel“ (Klagenfurt, Landesmuseum), welche sich seiner Meinung nach besonders am Werk des Meisters von Flémalle inspirierten; Verbindungen zum Meister der Haarlemer Mannalese, aber auch zu Hugo van der Goes sieht der Autor beim Salzburger Meister von Großgmain; auch die bekannteren Meister von Maria am Gestade und des Schottenaltars (Wien), Thomas Artula von Villach (Kärnten), der Meister des Gnadenstuhls von St. Peter (Salzburg) und andere werden detaillierten Untersuchungen auf Übernahmen von rogier‘schen und bouts‘schen Elementen unterzogen. Dabei gelingt es dem Autor deutlich zu machen, wie hervorragend sich die klar konturierten Figuren Rogiers van der Weyden zur Reproduktion eigneten. Außerdem legt er schlüssig dar, warum sich die auf Vereinzelung abzielenden, ausdrucksstarken Figuren des Dirk Bouts und die Lichtregie des Hugo van der Goes gut in die österreichische Stiltradition integrieren ließen.

Dass die Rezeption niederländischer Kunst in Österreich recht uneinheitlich vor sich ging, wird mit dem Fehlen schulbildender Meister begründet. Die Anlehnungen konzentrierten sich auch in der zweiten Jahrhunderthälfte meistens auf ausgewählte Details wie Hände, Köpfe, Faltenwürfe, die je nach Können des ausführenden Malers mehr oder weniger überzeugend integriert wurden. Die Hauptmeister des ausklingenden 15. Jahrhunderts, insbesondere Michael Pacher und Rueland Frueauf d. Ä., hingegen waren zu sehr in ihrer eigenen Tradition gefestigt, als dass sie ihren persönlichen Stil umfassend dem Niederländischen hätten anpassen wollen.

Das Buch ist sicherlich ein Gewinn für jeden, der sich eingehend über den spätmittelalterlichen Kunstbetrieb im allgemeinen und den niederländischen Einfluß auf die österreichische Tafelmalerei im speziellen informieren möchte. Auch ein auszugsweises Lesen wird durch ein Register im Anhang des Buches sowie durch wiederkehrende Zusammenfassungen ermöglicht; der klar konzipierte Tafelteil mit 86 Abbildungen folgt Schritt für Schritt den im Text besprochenen Gemälden. Es ist nur schade, dass die zum Teil recht kleinen schwarz-weiss Abbildungen der so geschätzten Kunst der Niederländer und jener der heimischen Maler das Nachvollziehen der stilgeschichtlichen Untersuchungen kaum erlauben.

Anmerkungen:

[1] Hingewiesen sei hier beispielsweise auf die Aufsätze Arthur Rosenauers („Zu einer niederländischen Beweinungskomposition und ihren Reflexen in der österreichischen Malerei des 15. Jahrhunderts,“ Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte 22 [1969], 157-166) und Didier Martens‘ („Des Flandres au Tyrol: Les avatars d`un ‚Bildmuster‘ de Hans Memling,“ Bulletin des Musées Royaux des Beaux-Arts de Belgique [1994], 9-28).

[2] Otto Pächt, Methodisches zur Kunsthistorischen Praxis: Ausgewählte Schriften, (München, 1977), darin: „Gestaltungsprinzipien der westlichen Malerei,“ 20-56; „Zur deutschen Bildauffassung der Spätgotik und Renaissance,“ 107-120. - Ders., „Antagonismus von Bildfläche und Tiefenraum,“ in: Van Eyck. Die Begründer der altniederländischen Malerei, (München, 1989), 56-60.

[3] Manfred Koller, „Der Albrechtsmeister und Conrad Laib: Technologische Beiträge zur Tafelmalerei des ‚realistischen Stiles‘ in Österreich,“ Österreichische Zeitschrift für Kunst und Denkmalpflege 26 (1972), 143- 154. - Ders., „The Phenomenon of Underdrawings of the Style Rogier van der Weyden in Late Gothic Painting in Austria,“ in: D. Hollandaers- Farvart, R. Van Schoute, Publications d‘archéologie et d‘histoire de l‘art de l‘UCL. Documents de travail 11 (1981), 113-117. - Ders., Der Wiener Schottenaltar: Befund und Restaurierung. Museum im Schottenstift, Kunstsammlungen der Benediktinerabtei zu den Schotten in Wien (Wien, 1994), 191-199. - Ders., Der Flügelaltar von Michael Pacher in St. Wolfgang (= Studien zu Denkmalschutz und Denkmalpflege, 18) (Wien, Köln und Weimar, 1998).

[4] Robert Suckale, „Les Peintres Hans Stocker et Hans Tiefental: ‚L‘ars nova‘ en Haute Rhénanie au VXe siècle,“ in: Revue de l‘Art 120 (1998), 58-67.

Simon, Achim: Österreichische Tafelmalerei der Spätgotik. Der niederländische Einfluß im 15. Jh., Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2002
ISBN-10: 3-496-01256-0, 441 S., 86 Abb.

Empfohlene Zitation:
Maria Theisen: [Rezension zu:] Simon, Achim: Österreichische Tafelmalerei der Spätgotik. Der niederländische Einfluß im 15. Jh., Berlin 2002. In: ArtHist.net, 19.11.2003. Letzter Zugriff 25.04.2024. <https://arthist.net/reviews/34>.

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