REV 18.04.2021

Hedinger, Bärbel; Diers, Michael: Mary Warburg. Porträt einer Künstlerin

Rezensiert von Hans Christian Hönes, University of Aberdeen
Redaktion: Livia Cárdenas
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Was für ein prächtiges Buch: Auf 536 Seiten, 23 x 29cm im Format, und mit 900 Abbildungen in Farbe wird hier erstmals Leben und Werk der Hamburger Künstlerin Mary Warburg vorgestellt sowie durch ein umfassendes und kritisches Werkverzeichnis dokumentiert. Das ist in der Tat eine gewichtige Würdigung dieser, ausweislich Klappentext, „bislang wenig bekannten“ Künstlerin. Nur zum Vergleich: das 2017 erschienene Werkverzeichnis der Gemälde Wilhelm Schadows – immerhin Direktor der Düsseldorfer Akademie – macht sich dagegen mit nur 368 Seiten und 400 meist farbigen Abbildungen geradezu bescheiden aus.

Mary Warburg, geb. Hertz: bei diesem Namen dürfte so mancher stutzen. Mit großer Wahrscheinlichkeit haben selbst ausgewiesene Experten und Kenner der deutschen Kunst zwischen Kaiserreich und Weimarer Republik noch nie ein Werk der Künstlerin gesehen. Außer einigen Werken, die sich in der Hamburger Kunsthalle befinden, ist Warburgs Werk in keiner öffentlichen Sammlung vertreten, sondern fast ausschließlich im Familienbesitz geblieben.

Der Name Mary Warburg dürfte vielmehr aus anderem Zusammenhang geläufig sein: sie war die Ehefrau des Hamburger Kunst- und Kulturhistorikers Aby Warburg, dessen herausragende Bedeutung als Pionier einer kulturhistorischen Kunstgeschichte und Stichwortgeber für zahllose Ansätze neuerer Kulturtheorie hier keiner gesonderten Würdigung bedürfen. Mary Warburgs bekanntestes Werk ist dann auch die posthume Bildnisbüste ihres Mannes, die prominent etwa im Warburg-Haus Hamburg und im Warburg Institute London aufgestellt ist. Zurecht vermerken Bärbel Hedinger und Michael Diers, im einleitenden Essay ihres Bandes, dass – zu Lebzeiten und in der Rezeption – „Mary hinter ihrem Mann eher verschwindet als zum Vorschein kommt“ (S. 52). Auch das Interesse von Hedinger und Diers an ihrem Gegenstand bleibt wohl zentral der Faszination des Hamburger Kunst- und Kulturhistorikers geschuldet. Bezeichnend ist, dass Michael Diers zwar zu den besten Kennern des Werks Aby Warburgs zählt, aber bisher nicht durch zahlreiche Publikationen zu bürgerlicher Kunst der Jahrhundertwende oder weiblichem Kunstschaffen hervorgetreten ist. Oder anders gesagt: wäre Mary Warburg nicht mit Aby verheiratet gewesen, es erscheint fraglich, ob sich jemand die Mühe gemacht hätte ihr Werk zu katalogisieren.

Der vorliegende Band macht es sich dennoch zur Aufgabe, Mary Warburg hinter dem übermächtigen Schatten ihres Mannes sichtbar werden zu lassen. Entgegen dem verbreiteten Vorurteil, dass Mary Warburg „nur“ eine Dilettantin gewesen sei, soll sie hier als eigenständige Künstlerin mit klaren professionellen Ambitionen wiederentdeckt werden. Dies ist – um es vorauszuschicken – wunderbar geglückt. Das Werkverzeichnis dokumentiert ein interessantes und vielfältiges Oeuvre, das ein faszinierendes Dokument bürgerlicher Geschmackskultur in Kaiserzeit und Weimarer Republik darstellt. In mehreren umfänglichen Beiträgen wird Warburgs Werk zudem eingehend kontextualisiert: Der einleitende Essay von Hedinger und Diers, zeichnet detailliert Leben und Werk Mary Warburgs nach; zwei Aufsätze von Andrea Völker widmen sich dem Hamburger Kontext ihrer Tätigkeit; Steffen Haugs erhellender Beitrag analysiert Mary Warburgs wissenschaftliche Illustrationen zu Aby Warburgs Forschungen; weitere Aufsätze behandeln etwa die Geschichte der Familie Hertz (Jutta Braden) und die Ankäufe moderner Kunst durch das Ehepaar Warburg (Michael Diers und Martin Warnke). In ihren vielfältigen inneren Bezügen weben die Beiträge ein dichtes und nuanciertes Bild der Hamburger Kunstwelt, des großbürgerlichen Familienlebens der Zeit – und der spannungsvollen und oft frustrierend limitierten Handlungsspielräume einer jungen, ambitionierten Künstlerin in diesen Bezugsfeldern.

Seit ihren Jugendjahren scheint sich Mary Hertz, Tochter eines großbürgerlichen Elternhauses, der Kunst verschrieben zu haben. Noch als Teenager schrieb sie sich in private Kunstschulen ein, die vor allem junge Frauen künstlerisch ausbildeten. Vor allem im Atelier des Malers Friedrich Wilhelm Schwinge übte sie sich in Landschaftsmalerei. In Begleitung ihres Vaters unternahm Mary Hertz in den 1880ern teils ausgedehnte Reisen in Deutschland und Europa. Das Resultat sind vor allem die Skizzenbücher der frühen Jahre, welche besonders in den Landschaftszeichnungen (Skizzenbuch II-IV, S. 168–191) eine geschulte und höchst präzise Zeichnerin offenbaren. Wie der einleitende Essay konstatiert: „In den Fächern Landschaft und Porträt bleibt sie (...) mit einem gewissen Hang zum Pittoresken eine an der Naturwahrnehmung orientierte Realistin“ (S. 18). Ihr privater Kunstgeschmack scheint dagegen stark an den Secessionisten orientiert und geschult gewesen zu sein.

Zu den interessantesten Arbeiten dürfte vor allem Warburgs plastisches Werk der 1890er Jahre zu zählen sein. In dieser Phase schuf sie eine ganze Reihe Frauengestalten, die sich ungefähr zwischen Böcklin (nach dem sie ausgiebig zeichnete) und gemäßigtem Jugendstil verorten lassen. Intensiv arbeitete sie etwa an einer dynamischen Statuette der knienden Jeanne d’Arc (S. 442) und einem überraschend lasziven Frauenakt auf einer Muschel (S. 444f.). Was sich in ihren Aktzeichnungen (siehe etwa Skizzenbuch XIV, S. 272–281; S. 449, „Statuette eines Knaben“) manchmal ein wenig unbeholfen ausnimmt, wird im plastischen Medium zu einem feinlinigen Umrissstil.

Mary Hertz etablierte früh wichtige persönliche und professionelle Netzwerke, gerade auch mit weiblichen Künstlerinnen wie der Malerin Wilhelmine Niels. Zugleich hatte sie – wohl auch dank ihrer Herkunft – Zugang zu den entscheidenden Zirkeln der Hamburger Kunstwelt. So positioniert stellten sich ab den 1890ern auch erste öffentliche Erfolge, vor allem im Bereich der Buchkunst ein. 1892 veröffentlichte sie etwa eine Reihe von Illustrationen zu dem karitativen Projekt des „Hamburger Weihnachtsbuchs“, einer Publikation, deren Erlöse den Opfern einer Choleraepidemie in der Hansestadt zugute kamen (S. 428–431). Wenige Jahre später gestaltete sie etwa Plakate für die Ausstellung der Gesellschaft Hamburgischer Kunstfreunde und Illustrationen zur Zeitschrift „PAN“.

Die Arbeiten dieser Jahre zeugen in der Tat von einigem Talent, und man kann sich ohne Probleme ausmalen, dass Mary Hertz in einem anderen Leben eine recht erfolgreiche und produktive Karriere als Künstlerin und Illustratorin eingeschlagen hätte. Beeindruckend sind auch die Vielfalt und die Produktivität in verschiedenen Medien. Doch der großbürgerliche Lebenslauf (und wohl auch die streng protestantische Erziehung) führten ihre Biographie auf andere Wege. Zunächst waren es die „Tochterpflichten“, insbesondere die langjährige Pflege ihrer chronisch kranken Mutter, die ihrer künstlerischen Betätigung enge Grenzen diktierten. Ab 1897 und der Heirat mit dem jüdischen Bankierssohn Aby Warburg waren es dann die Pflichten als Ehefrau und – ab 1899 – Mutter, die nur wenig Freiraum für kreative Entfaltung ließen. Ab ca. 1900 arbeitete sie nur noch „in deutlich reduziertem Umfang“ (S. 55) – wobei dies fast eine Untertreibung ist.

Das Werkverzeichnis macht dies in höchstem Maße deutlich: zwischen 1900 und ca. 1918 ist Warburgs künstlerische Produktion offensichtlich nahezu vollkommen zum Erliegen gekommen. Die wenigen Ausnahmen zeigen eine Beschäftigung mit zumeist sehr häuslichen Themen wie Porträtzeichnungen ihrer Kinder. Hedinger und Diers charakterisieren sie hier als eine „Art Familienkünstlerin“ – was in der Tat sehr zutreffend erscheint (S. 52).

Erst ab den Weltkriegsjahren hat sich Mary Warburg offensichtlich wieder intensiver der Kunst zugewandt und vor allem eine Reihe von Landschaftspastellen produziert. Die Rückkehr zur Kunst, nach Jahren der Pflichterfüllung als Ehefrau und Mutter, war offensichtlich kein leichter Prozess. Um 1915 spricht Mary Warburg davon, wieder „Mut (zu) kriegen zum Selbstarbeiten“ (S. 61). In ihren Briefen macht sie allerdings auch klar, dass eine derartige Betätigung von der Erlaubnis ihres Ehemanns abhängig ist. Doch dieser war alles andere als ermutigend; vielmehr zeichnen die Beiträge des Bandes ein höchst schwieriges und herrisches Bild Aby Warburgs, der stets vehement auf traditionelle Geschlechterhierarchien pochte. Marys im Herbst 1915 vorsichtig vorgetragene Bitte, mehr Zeit der eigenen Arbeit widmen zu dürfen wurde jedenfalls zurückgewiesen. Aby Warburg erwiderte die Bitten seiner Frau mit einem zornigen Brief, in dem er ihr vorwarf, die Erziehung der Kinder zu vernachlässigen (S. 62). Es ist zu konstatieren, wie das bereits Bernd Roeck getan hat, dass Aby Warburg „konservativ – oder besser: konventionell – blieb ... was sein Verhältnis zur Emanzipation der Frau anbelangte“.[1] Derart gemaßregelt blieb Mary im Rahmen einer großbürgerlichen Ehe nur wenig Freiraum zu künstlerischer Betätigung.

Vor allem Diers/Hedingers einleitender Essay versteht es eindrucksvoll die Zwänge und Beschränkungen einer großbürgerlichen Existenz um 1900 nachzuzeichnen, ohne hier entscheidend wertend oder urteilend einzugreifen. Die Quellen sprechen ohnehin für sich, und die Lektüre der Egodokumente – Tagebucheinträge und Briefe, die im Anhang des Buches vorbildlich ediert wurden – ist teils bedrückend.

Mary Warburgs Schicksal ist hier wohl repräsentativ für die Lebenswege zahlloser ambitionierter Frauen, in der Kunst oder in anderen Domänen. Mary Warburg, so die klare Hypothese von Hedinger und Diers, wurde „zu Unrecht übergangen“ (Klappentext). Für sie ist dies nicht nur die Schuld der Umstände der Zeit, sondern auch der neueren Kunstgeschichte, die dem nicht entgegengewirkt hat. Denkbar schlecht kommen dann auch alle Stimmen weg, die Zweifel an Qualität oder Professionalität ihres Oeuvres anmelden. Mit dem Nekrolog ihres eigenen Bruders setzte, so Diers und Hedinger, eine verfehlte Rezeptionsgeschichte ein, die vorliegender Band zu korrigieren unternimmt. Mit Kritik an der Historiographie wird nicht gespart: auf knapp zehn Seiten (S. 78-87) reihen sich teils heftige Invektiven gegen zahlreiche Autoren wie Bernd Roeck (dessen Äußerungen über Mary Warburg ein reaktionäres Frauenbild und Nachrufschädigung attestiert wird), (S. 84), Joist Grolle („lesenswert“ aber „belanglos“), Gertrud Bing (die Mary Warburg „fast ein wenig blamiert“), oder ihre Nicht-Erwähnung in frühen Reproduktionen von Warburgs Porträt-Büste („Acht- und Respektlosigkeit“), die zur Marginalisierung von Marys Oeuvre beigetragen hätten. Mit rhetorischen Fragen („Wie um alles in der Welt“?; „Warum geschieht das?“) geben Diers/Hedinger ihrem Unverständnis darüber Ausdruck, dass Mary Warburgs Künstlertum bisher weitgehend verkannt wurde. Die Verteidigung der Heldin des Buches wird hier entschieden apodiktisch: Mary Warburg klein zu reden „setzt Ignoranz oder Unkenntnis voraus und grenzt an Geringschätzung“ (S. 87). Ob der vehemente und teils schneidende Ton dieses Rundumschlags der Rezeption Mary Warburgs langfristig zuträglich ist, mag bezweifelt werden.

Der vorliegende Werkkatalog stellt in der Tat ein für alle Mal klar, dass Mary Warburg eine Künstlerin war, und in jungen Jahren ernsthafte professionelle Ambitionen verfolgte. Doch entgeht auch dieses Projekt nicht ganz dem ewigen Dilemma zwischen legitimer Neubewertung und latenter Heroisierung seines Studienobjekts. Das Format eines Werkkatalogs – gerade in derart opulenter Aufmachung – tut da das seinige dazu. Einerseits wird ein „unbefangenerer Blick auf das Leben und Wirken der Künstlerin“ gefordert – andererseits aber jedes „zurückhaltende Urteil über Marys Künstlerschaft“ in den Verdacht von „überkommenen patriarchalischen Leimotive(n) und Denkstrukturen der Kunstgeschichte“ gerückt (S. 86f.).

In diesem Kontext bleibt aber die alte Frage virulent, ob die Monographie (oder gar der Werkkatalog) eben die beste Gattung für eine notwendige Neubewertung und Sichtbarmachung weiblicher Kunstproduktion ist – oder ob sie nicht nur das alte Muster der Kanonisierung von Individuen fortschreibt. Gerade feministische Forschung hat dies wiederholt und energisch kritisiert und eine Kunstgeschichte eingefordert, die „minor figures“ auch als solche wahrnimmt – anstatt sie einer Heroisierung durch „Monographisierung“ zu unterziehen. Dies wäre ein Ansatz, der auch Prozesse des Scheiterns und sozialer Marginalisierung ernst nimmt und konstitutiv in die Analyse integriert – und sich nicht ausschließlich und kategorisch entlang der Frage „Kunst“ oder „Nicht-Kunst“ abarbeitet.[2]

In den Literaturwissenschaften wird in diesem Sinne schon länger eine Neubewertung einer „middlebrow“ Ästhetik betrieben.[3] Die Kunstgeschichte hat an solchen Kategorien bisher weniger Interesse gezeigt.[4] Zwar haben die „visual culture studies“ eine unglaubliche Erweiterung des Faches herbeigeführt: von Werbebildern über technische Bildgebung zu Pornographie ist das weite Feld der visuellen Kultur erschlossen worden. Die abertausenden Werke der zweit-, dritt- und viertklassigen Kunstproduktion (also die Bilder, die zwischen „low-“ und „highbrow“ zu verorten wären) sind dagegen weithin unter den Tisch gefallen, von Einzelfällen abgesehen, zu denen jetzt auch Mary Warburg zählt. In Reaktion darauf haben es in den letzten Jahren vermehrt quantitative Methoden der Digital Humanities unternommen, „big data“ in den Blick zu nehmen. Aus einer solchen statistischen Auswertung der Kunstproduktion des 19. Jahrhunderts mag sich auch eine signifikante Neubewertung des Platzes von Künstlerinnen ergeben, die strukturell jenseits des Fallbeispiels argumentiert.[5]

Ein letzter Punkt: Um genau dies zu erreichen, wäre es nicht auch angebracht über eine zunehmende digitale Präsentation von Werkverzeichnissen nachzudenken? Institutionen wie das Paul Mellon Centre sind hier schon lange umgeschwenkt und haben Zugänglichkeit und Nutzbarkeit über die Produktion von „monuments of scholarship“ priorisiert. Das soll aber nicht heißen, dass man sich nicht über das hier zu besprechende Buch freuen sollte. Für 68 Euro ist das prächtig ausgestattete Werk auch noch verhältnismäßig ein Schnäppchen.

[1] Bernd Roeck, Florenz 1900. Die Suche nach Arkadien, München 2001, S. 31.
[2] Vgl. Jo Applin, Lee Lozano. Not working, London/New Haven 2018.
[3] Vgl. aus feministischer Perspektive: Diana Holmes, Middlebrow Matters, Liverpool 2008.
[4] Hana Leaper, „Opinion: Middlebrow Art“, Tate etc. 42 (2018), online: https://www.tate.org.uk/tate-etc/issue-42-spring-2018/opinion-hana-leaper-middlebrow.
[5] Vgl. Diana Seave Greenwald, Painting by Numbers, Princeton 2021.

Hedinger, Bärbel; Diers, Michael (Hrsg.): Mary Warburg. Porträt einer Künstlerin. Leben, Werk, München: Hirmer Verlag 2020
ISBN-13: 978-3-7774-3614-2, 535 S., EUR 68.00, Inhaltsverzeichnis

Empfohlene Zitation:
Hans Christian Hönes: [Rezension zu:] Hedinger, Bärbel; Diers, Michael (Hrsg.): Mary Warburg. Porträt einer Künstlerin. Leben, Werk, München 2020. In: ArtHist.net, 18.04.2021. Letzter Zugriff 19.03.2024. <https://arthist.net/reviews/33788>.

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