REV 06.04.2021

Evidenzen des Expositorischen

Rezensiert von Johanna Lessing, Forschungskolleg Wissen / Ausstellen, Georg-August-Universität Göttingen
Alina Strmljan, Wien Museum
Redaktion: Livia Cárdenas
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Wer spricht? Wer hat die Deutungshoheit? Was wird wie gezeigt? Diese und Fragen nach epistemologischer Relevanz musealer Ausstellungen sind in den letzten Jahren – rund um die Eröffnung des Humboldt-Forums, die Auseinandersetzung mit Kolonialität und Ausstellungen zu Provenienzforschung – in besonderem Maße aktuell geworden. Der besprochene Band liefert zu diesem Diskurs einen grundlegenden Beitrag für die (Kunst-)Wissenschaft. Ausgehend von Harald Szeemanns „Evidenzhängung” (S. 9), neben Abstechern in die Curatorial Studies und die Theater- und Tanzwissenschaft, wird in der Publikation vorwiegend aus kunsthistorischer und kunsttheoretischer Perspektive erörtert, wie in Ausstellungen Wissen, Erkenntnis und ästhetische Bedeutung produziert werden. Untersuchungsgegenstand ist das Ausstellen von Kunst bzw. künstlerische Auseinandersetzungen mit Museen und Ausstellungen. Der Fokus erklärt sich aus dem Entstehungskontext des Bandes: Er enthält die Vorträge der Abschlusstagung sowie eine Reflexion der Ausstellungstätigkeit des DFG-Transferprojekts „Evidenz ausstellen. Praxis und Theorie der musealen Vermittlung von ästhetischen Verfahren der Evidenzerzeugung”. Das in das Forschungskolleg „BildEvidenz” eingebette, von 2015–2018 an der Freien Universität Berlin durchgeführte Projekt hatte einen Theorie und Praxis verschränkenden Zugang. Am Beginn stand die Entwicklung einer vergleichenden Ausstellung zu Albrecht Dürer und William Kentridge.[1] Aufbauend auf die kuratorische Arbeit untersuchte das Projektteam in einem zweiten Schritt theoretisierend Formen und Praxen der Evidenzerzeugung in Ausstellungen. Der vorliegende Band ist Kondensat beider Projektziele.

Elke Anna Werner stellt in der Einleitung Definitionen und Diskussionen der titelgebenden Schlüsselbegriffe vor, anhand derer sie auch den Forschungsstand umreißt: Sie beginnt mit den schon seit der Antike schwer systematisierbaren Bedeutungen des Evidenzbegriffs. Dieser changiert zwischen Präsenz, Anschaulichkeit und Beweis (S. 14f.), was ihn unter anderem für Ausstellungen wirkmächtig macht. Evidenz wird sowohl über das ästhetische Potenzial von Objekten erzeugt als auch durch Inszenierung und Displayformate. In der Diskussion der Frage nach Präsenz und dem epistemologischen Status von Objekten in Ausstellungen arbeitet Werner Spannungsverhältnis sowie Wechselwirkung zwischen dem objekt- und subjektgeleiteten Ausstellen heraus (S. 21). Das Kuratorische definiert sie als handlungsorientierte „kulturelle Praxis des Zusammenstellens”, durch die unterschiedlichste Konstellationen und Akteur:innen mit der Öffentlichkeit verbunden werden (S. 31f.). Im Expositorischen verortet Werner eine gerade für die Frage nach Evidenzerzeugung in Ausstellungen fruchtbare Mehrdeutigkeit (S. 32). Letztere sei für Ausstellungsanalysen, aber auch für das weiter gefasste kuratorische Handeln gewinnbringend. So legt Werner dar, dass die drei Schwerpunkte des Bandes – Evidenz, Objekt und das Kuratorische sowie das Expositorische – in enger Wechselwirkung zueinanderstehen und die jeweiligen in Ausstellungen generierten Bedeutungen bedingen. Zudem macht sie den vielschichtigen wie transdisziplinären und somit schwer fassbaren Forschungsstand der Ausstellungstheorie in Schlaglichtern greifbar: Sie erreicht dies anhand einer Vielzahl von Beispielen philosophischer, kunst-, kultur- und literaturwissenschaftlicher und museologischer Forschungen (u.a. entlang der Forschungen von Mieke Bal, Hans Ulrich Gumbrecht, Thomas Thiemeyer), aber insbesondere zeitgenössischer künstlerischer Praktiken seit den 1960er Jahren. Einen besonderen Stellenwert räumt Werner partizipativen künstlerischen Arbeiten und von Künstler:innen kuratierten Ausstellungen ein, gibt aber mit Wolfgang Kemp auch einem Kritiker dieser Formate Raum (S. 24f.).

Die Aufsätze nähern sich dem Thema Ausstellungsanalyse (kunst-)theoretisch (insbes. Draxler und Schwarte) sowie durch Fallbeispiele. Letztere überwiegen und bilden Schwerpunkte: Werk- bzw. Displaybeschreibungen und -analysen (Schalhorn, Ketelsen, Söll, Holten), Analysen ganzer Ausstellungen (Draxler, Vogt, Miersch, Buurman, van den Berg) sowie eine Verbindung von beidem (von Bismarck, Haitzinger, Heraeus). Gemeinsames Element ist der Fokus auf das Potenzial des Störens, das dem Kuratieren innewohnt: Selbstverständlichkeiten des Zeigens werden in den Aufsätzen aufgehoben, sichtbar gemacht oder transformiert. Zudem regen die Autor:innen dazu an, traditionell kunsthistorische und -wissenschaftliche Paradigmen wie Original und Kontemplation durch einen medien- wie disziplinensensiblen Blick zu erweitern.

Die Frage, wie in ausstellenden Konstellationen gleichzeitig Evidenz gezeigt und mit den „Mitteln des Kuratorischen” (S.65) hergestellt werden kann, arbeitet Beatrice von Bismarck am Beispiel der Ausstellungen von „Mengele’s Skull” (Frankfurt 2002) und „Forensis” (Berlin 2014) des Kollektivs forensic architecture heraus (S. 64f.): Ausstellungen zeigen, was sie tun. Die Aufgabe der Kurator:innen sei weniger Festschreiben oder Übersetzen als ”die den Dingen eigene Energie zur Geltung zu bringen und Unerwartetes zuzulassen” (S. 76f.). Bismarck nutzt Ausstellungsanalyse und Begriffsbildung einander verstärkend und löst dadurch die Grenzen zwischen sogenannter praktischer und theoretischer Arbeit auf. Sie zeigt das wissenschaftliche Potenzial von Ausstellungen und wie bereichernd eine begriffs- und problemorientierte Analyse für das Kuratieren sein kann. Disziplinenspezifische Kategorisierungsmodelle transdisziplinär für Ausstellungen nutzbar zu machen, wird im Beitrag von Nicole Haitzinger am deutlichsten: Haitzinger nutzt Tanz als Analysewerkzeug, um Ausstellungen als Aufführungen zu begreifen und als solche zu untersuchen. Sie arbeitet Evidenzmöglichkeiten durch Medienwechsel in Ausstellungen heraus und fordert, „komplexe mediale Migrationen jenseits der vorgegebenen institutionellen (Raum- und Rahmen-) Bedingungen“ zu ermöglichen (S. 185). Änne Söll zeigt anhand ihrer Analyse des Period Rooms, dass ein um Körperwissen ergänzter Wissensbegriff und „Aufführung, Authentizität und den Affekt” relevante kuratorische Strategien sind (S. 133). Denn Ambivalenzen der Evidenzproduktion werden im inszenierten, immersiven Stilraum als „verlebendigte Bühne”, „authentischer Rest” und kontingente Erzählung sicht- und fühlbar (S. 120). Wie lohnend sowohl die Beachtung der diskursiven als auch der historischen Dimension im Kuratieren wie auch der Analyse von künstlerischen Ausstellungen sein kann, zeigt Stefanie Hereaus in ihrer Untersuchung von Hélio Oiticicas Austellungsform der „Penetrávei”. Sie berücksichtigt dabei deren ambivalenten Raum-Objekt-Status ebenso wie Oiticicas (post-)koloniale Außenseiterposition als brasilianischer Künstler im Kunstdiskurs der westlichen Avantgarde der 1960er und 1970er Jahre. Durch ihre vernetzte Betrachtung plädiert sie für ein komplexeres Werkverständnis und für eine beweglichere Ausstellungspraxis. Der aufgrund der fortschreitenden Digitalisierung von Museen aktuellen Frage nach Stellenwert und Dimensionen des Originals, widmet sich Karen van den Berg. Mit ihrem Beitrag zum Louvre Lens im Norden Frankreichs gibt sie nicht nur ein Beispiel für eine raumsensible Museumsanalyse. Sie zeigt auch, dass „die Exponate durch die spezifische Szenografie wie medialisierte Bilder ihrer selbst” scheinen (S. 236). Diesen Eindruck fasst van den Berg mit Baudrillards Begriff des Simulacrums. Gezeigt werde das materiale unbewegliche Zurückbleibsel, während die „digitalen Repräsentationen längst ein Eigenleben führen” (S. 246).

Im Sammelband werden die Vielschichtigkeit und das Spannungsverhältnis deutlich, die sich im Zusammendenken von wissenschaftlicher Theorie und künstlerischer wie ausstellender Praxis – oder räumlich formuliert: von Universität und Ausstellungsraum – ergeben. Das macht seine Stärke aus, denn meist nutzen die Beiträge diese Spannung produktiv, indem sie kuratorische und theoretische Praxis argumentierend aufeinander beziehen. An manchen Stellen bleibt dieser vielversprechende Transfer jedoch etwas blass und mitunter unscharf. Anstatt die eigenen wissenschaftlichen Überlegungen methodisch für die Ausstellungsanalyse anzuwenden, wird ein Kunstwerk beschrieben, das die erarbeiteten Prämissen einlöst – die Beantwortung der Frage nach der Evidenz- und Wissensproduktion in Ausstellungen wird der Kunst zugeschoben. Dass dies ebenso auf die kuratorische Wirklichkeit zutrifft, betont auch Johan Holten in seinem Beitrag, in dem er deutlich macht, dass die politischsten und innovativsten expositorischen Einschläge (auch in Nicht-Kunst-Ausstellungsräumen) von Künstler:innen stammen. Ein weiterer Grund für die Unschärfe des Bandes könnte auch in der Entscheidung liegen, angrenzende Fächerdiskussionen, beispielsweise der Wissensgeschichte oder Kulturanthropologie, eher außen vor zu lassen. Wissenschaft und Kunst als interdependente Felder des Wissens und Ausstellungen als „Kristallisationskerne” zu begreifen [2], hätte dem Band neue Wirkungsräume ermöglicht. Die Entscheidung das nicht zu tun, wie auch im Forschungsstand Beiträge aus der historischen Wissens- und Museumsforschung, – man denke an die Arbeiten von Tony Bennett, Anke te Heesen oder Sharon Macdonald – nur in Fußnoten abzuhandeln, bleibt aufgrund der kunsttheoretisch fundierten Ausrichtung aber folgerichtig.

Der Band ist ein inspirierendes Angebot für die Ausstellungsforschung wie auch das Kuratieren selbst. Vor allem in Bezug auf die konkrete kuratorische Praxis entwickelt er Gewicht, sicher auch, da viele der Autor:innen selbst kuratieren. Die Beschreibungen heben zudem die kunstwissenschaftliche Kompetenz der Autor:innen hervor und sind somit vor allem für diese disziplinäre Perspektive ein fruchtbarer Beitrag. Die Mischung von Good Practice-Beispielen und theoretischen Herangehensweisen geben allgemein lohnende Impulse für die Weiterentwicklung des ausstellungsanalytischen Wissenschaftsdiskurses sowie für die Praxis des Kuratierens von Kunst, aber auch Nicht-Kunst.

[1] Krüger, Klaus; Schalhorn, Andreas; Werner, Elke Anna (Hrsg.): Double Vision. Albrecht Dürer/William Kentridge. Ausstellungskatalog, Staatliche Museen zu Berlin/ Kulturforum, 20.11.2015-06.03.2016, Berlin. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, 10.09.2016-08.01.2017, Karlsruhe, München 2015.
[2] Sarasin, Philipp: Was ist Wissensgeschichte? Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 36 (2011). 159–172, S. 166.

Krüger, Klaus; Werner, Elke A.; Schalhorn, Andreas (Hrsg.): Evidenzen des Expositorischen. Wie in Ausstellungen Wissen, Erkenntnis und ästhetische Bedeutung erzeugt wird (= Edition Museum; 29), Bielefeld: transcript Verlag 2019
ISBN-13: 978-3-8376-4210-0, 360 S., Inhaltsverzeichnis

Empfohlene Zitation:
Johanna Lessing, Alina Strmljan: [Rezension zu:] Krüger, Klaus; Werner, Elke A.; Schalhorn, Andreas (Hrsg.): Evidenzen des Expositorischen. Wie in Ausstellungen Wissen, Erkenntnis und ästhetische Bedeutung erzeugt wird (= Edition Museum; 29), Bielefeld 2019. In: ArtHist.net, 06.04.2021. Letzter Zugriff 19.03.2024. <https://arthist.net/reviews/33731>.

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