REV 21.01.2009

Luis Martin Lozano/Juan Coronel Rivera: Rivera

Rezensiert von Tobias Kämpf, Brühl
Redaktion: Philipp Zitzlsperger
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Wenn Mexikos Muralismus, trotz zunehmender historischer Distanz, eine der zentralen Errungenschaften der Kunst des 20. Jahrhunderts bleibt, so gilt dies mit Diego Rivera (1886-1957) auch für die universellste Figur der Bewegung. Bisher litt allerdings jeder Beschäftigungsversuch mit dem Werk des Malers unter der Unzulänglichkeit publizierter fotographischer Dokumentation, die eine weiterführende Analyse seines ortsgebundenen Oeuvres erschwerte. Daher ist es umso erfreulicher, dass mit dem in jeder Hinsicht monumentalen Werk von Luis-Martín Lozano und Juan Rafael Coronel Rivera nun eine Veröffentlichung vorliegt, die diese Phase beendet und sowohl durch die herausragende Qualität ihrer großformatigen Farbabbildungen als auch durch ihre Vollständigkeit neue Untersuchungen anregen kann. Der 674 Seiten starke Band umfasst – wie die eigens ausgeführte Fotokampagne – die gesamte Produktion Riveras auf dem Gebiet der Wandmalerei. Doch auch zerstörte oder verschollene Werke werden berücksichtigt. Hinzu treten neu angefertigte und kommentierte Umriss-Skizzen, die gestatten, ikonographische Einzelelemente innerhalb jedes Dekorationsensembles zu identifizieren.

Gerade für eine Beschäftigung mit den bekanntesten Werken Riveras ist dies unerlässlich, da sich der Maler häufig eines collage-ähnlichen Gestaltungsprinzips bedient, durch das individuelle Figuren und Objekte, Portraits oder narrative Fragmente in der Fläche übereinander geordnet werden, ohne dass zwischen diesen zwanghaft ein direkter szenischer oder chronologischer Zusammenhang bestünde. Riveras Kompositionen verzichten oft auf einheitliche, illusionistisch konstruierte Handlungsräume und leben aus mehr oder minder schwerelosen bildlichen Assoziationen. Obgleich sie ikonographisch die Idee eines Kompendiums tragen, das in einer konventionelleren Form gerade durch seine didaktischen Intentionen pedantisch und vereinnahmend wirken würde, bleibt ihnen gestalterisch ein gewisser spielerischer Aspekt, der hilft, sich dem bisweilen zutiefst Bedrohlichen des Dargestellten rational zu nähern. Auch die Werke Riveras, welche am ehesten als marxistisch-leninistische Propaganda gelesen werden können, wie die heute weitgehend verlorene und in wenigen verbliebenen Bruchstücken über die Welt verstreute Dekoration der New Workers’ School von 1933, ursprünglich in New York (370-385), verlieren durch ihre komplexe Gestaltung diesen rein funktionalen Charakter, bleiben eher argumentativ als indoktrinierend und appellieren stärker an die Vernunft als an die Instinkte des Betrachters.

Riveras Wandmalereien werden in der Publikation in vierzehn Essays behandelt (8-561), denen jeweils die Abbildungen und kommentierten Kompositionsschemata folgen. Im Wesentlichen herrscht dabei eine chronologische Ordnung nach Werkbeginn. Ein Aufsatz über Riveras Staffeleigemälde mit zahlreichen, oft ganzseitigen und qualitativ herausragenden Farbabbildungen (562-643) und ein tabellarischer, ebenfalls illustrierter Lebenslauf des Malers (644-661) runden die Publikation ab, in der ein – leider eher summarisches und nicht alphabetisch geordnetes – Glossar (662), eine ausführliche Bibliographie (663) und ein Register (666-669) nicht fehlen. Besonders Letztgenanntes ist von fundamentaler Bedeutung für weitergehende Studien, da es auch die Bildlegenden berücksichtigt. Man kann somit leicht verfolgen, wie sich etwa der Kontext von Riveras Stalin-Portraits je nach historischer oder persönlicher Situation des Malers änderte und damit grundverschiedenen Stellungnahmen zur Person und historischen Bedeutung des Diktators Ausdruck verlieh: 1940, nach dem Mord an Trotzki, erscheint Stalin als dessen Hauptschuldiger im Trio der Verbrecher an der Menschheit neben Adolf Hitler und Benito Mussolini in Riveras Panamerikanischer Einheit (Unidad panamericana), jetzt im Foyer des City College Theaters von San Francisco (Detailaufnahme auf S. 398). Dagegen feiert Rivera 1952 in der heute verlorenen „realistischen Fantasie“ Kriegsalbtraum und Friedenstraum (schöner: Pesadilla de guerra y sueño de paz) (reproduzierte Farbaufnahme S. 507), seinem künstlerisch nicht gerade überzeugenden Ausrutscher, Stalin im harmonischen Verbund mit Mao Zedong als visionären Friedensbringer (505, Kommentar von Ana Isabel Pérez Gavilán Ávila).

In seiner Gliederung der fotographischen Dokumentation durch die einzelnen Werkphasen gewidmeten Aufsätze wird der Band jedoch nicht allen Aspekten von Riveras Produktion gleichermaßen gerecht. Bedauerlich erscheint dies insbesondere im Hinblick auf die Ausstattung des Nationalpalastes von Mexiko-Stadt, die der Künstler zwar in zwei Phasen, aber immerhin in gedanklicher Verbundenheit ausführte: 1929-1935 gestaltete er die Wandgemälde des zentralen Treppenhauses mit dem Epos des mexikanischen Volkes (Epopeya del pueblo mexicano) (196-201, Kommentar von Juan Rafael Coronel Rivera), 1941-1953 mit Unterbrechungen hingegen die elf Fresken zum präkolumbianischen und kolonialen Mexiko in der Loggia des Piano nobile im Innenhof des Gebäudes (437-439, Kommentar von Nadia Ugalde Gómez). Die Präsentation durch unterschiedliche Autoren und in zwei weit voneinander entfernten Textabschnitten negiert geradezu den einheitlichen Charakter der Dekorationskampagne, durch die Rivera den zentralen politischen Ort seines Heimatlandes interpretierte. Somit erhält die äußerst komplexe und detailreiche Ausstattung noch nicht einmal sechs volle Seiten Gesamtkommentar (196-198 und 437-439), während etwa der im Werk des Malers sicherlich weniger zentrale Zyklus der New Workers’ School von James Wechsler auf angemessenen sieben Seiten so einfühlsam rekonstruiert, beschrieben und ausgedeutet wird, dass man sich in die Tafeln einsehen und ihre Argumentationsstrukturen nachvollziehen kann (372-378).

Durch die Buchgestaltung wird insbesondere ein Schlüssel zum Verständnis aller großen Allegorien Riveras eindrucksvoll herausgestellt: die Einbindung von Porträts, welche die historischen Ereignisse oder vermeintlichen kosmischen Zusammenhänge in konkret menschliche Dimensionen setzen. In entsprechenden Arbeitsprozessen werden die Anstrengungen des Künstlers deutlich, gerade auf diesem Gebiet ein Maximum an Wirklichkeitsnähe und Überzeugungskraft zu erreichen. Besonders gelungen erscheint etwa die Kombination der Allegorie Kaliforniens (Alegoría de California) (heute San Francisco, City Club) mit einer Fotographie der Tennisspielerin Helen Wills Moody, dem Modell für die Personifikation des Bundesstaates, deren Aktportrait in Pastellkreiden von Rivera (Privatsammlung, Mexiko) und eines ersten Gesamtentwurfs der Wandmalerei in einer Privatsammlung der Vereinigten Staaten (282-283). Oder die eines Ausschnittes desselben Werkes mit dem die zukünftigen Generationen der Region repräsentierenden Peter Stackpole und zweier zeichnerischer Porträtstudien des Jungen im San Francisco Museum of Modern Art (284-285). Oder die weiterer Porträts Moodys (alle im San Francisco Museum of Modern Art) mit den zugehörigen Deckenmalereien, auf denen sie die Energie und die Elektrizität verkörpert (286-287).

Weniger überzeugen hingegen sind einige Neudeutungen der Wandmalereien, die in den Begleittexten vorgetragen werden. So interpretiert Coronel Rivera das gesamte Treppenhausgemälde im Nationalpalast als gewaltige Opferschale, als cuauhxicalli, welche das Herz und das Blut aztekischer Menschenopfer aufnahm (197-198). Aus keiner der abgebildeten Vorzeichnungen geht aber die Zentralität eines solchen Motivs hervor; die einem flachen und mittig vertieften Becken ähnelnde Gesamtform der zentralen Westwand ist vielmehr durch die Architektur vorbestimmt. In ihrem Zentrum brachte Rivera auf einem Feigenkaktus, der sich über einem Altar erhebt, in Übergröße den mythologischen mexikanischen Adler an (Detail S. 218). Vor das mit einer Sonnenscheibe geschmückte Antependium hält ein Priester das blutüberströmte Herz eines weisshäutigen Opfers, dessen Präsenz, da nur der Brustkorb und die Bauchregion zu sehen sind, eher heruntergespielt wird. Weder der Zelebrant noch der Getötete stechen aus der allgemeinen Menschenfülle besonders hervor; sie erscheinen wie Zugaben zum zentralen Altar und finden sich nicht auf den abgebildeten Vorstudien. Es handelt sich also um einen ikonographischen Nachtrag, der überdies nicht einmal am Boden der vermeintlichen Schale erscheint.

Ähnlich wenig auf Anschauung gestützt erscheint Coronel Riveras Deutung der ersten Wandmalerei des Künstlers, Die Schöpfung (La Creación) im ehemaligen Oberschulen-Amphitheater von San Ildefonso in Mexiko-Stadt, heute Simón-Bolívar-Auditorium als pythagoreische Allegorie (11-19, besonders 16-17). Bereits die Nummerierung des zugehörigen ikonographischen Schemas auf S. 9 erscheint problematisch. Betrachtet man etwa die ganzseitige Abbildung des Kopfes einer Personifikation auf S. 8, so wird sie dort als “Die Kraft (La Fuerza)” gedeutet und auf die Nummer 18 verwiesen. Die Abbildung entspricht aber eindeutig der dortigen Nummer 20, im Diagramm fälschlicherweise “Die Wissenschaft (La Ciencia)” genannt. Entsprechungen zwischen den Nummern im Diagramm und den Benennungen ergeben sich tatsächlich nur, wenn man zu den Nummern 1 bis 20 jeweils 2 Punkte addiert und von den Nummern 21 bis 22 jeweils 20 Punkte abzieht. Weder zur Personifikation der “Kraft” noch zu der der “Wissenschaft” gehört meines Erachtens die auf S. 15 oben abgebildete und dort mit der “Wissenschaft” in Verbindung gebrachte Rötelzeichnung (Privatsammlung, Mexiko), die Rivera neben einer Widmung und seiner Signatur mit der Notiz “Roma 1921” versah. Dies deutet auf eine Entstehung der Zeichnung in der italienischen Hauptstadt hin, die der Maler nachweislich in jenem Jahr besuchte (649), Monate bevor er im November desselben Jahres Einzelheiten der Schöpfung auch nur zu planen begann (12).

Coronel Rivera nennt die von Raffael und Perugino gestaltete Wandmalerei in San Severo in Perugia als kompositorisches Vorbild (11). Wie die Schöpfung sei auch das umbrische Fresko in drei vertikal übereinander liegende Schichten unterteilt; in Perugia bestehe die oberste angeblich aus dem Heiligen Geist, die mittlere aus Christus – hier fälschlicherweise als Ecce homo bezeichnet, statt als Rückkehr des Weltenrichters – und die unterste aus Peruginos stehenden Heiligen (12). Bei einer Betrachtung des italienischen Freskos wird jedoch offenkundig, dass es nur fragmentarisch erhalten ist. Über Christus und dem als Taube dargestellten Heiligen Geist, die eine gestalterische Einheit bilden und nicht als unterschiedliche Segmente gedeutet werden können, befand sich auf der zentralen Symmetrieachse der segnende Gottvater, dem – ganz wie in einigen Apsisdekorationen christlicher Basiliken – Riveras Empyreum exakt entsprechen würde. Bliebe man in dieser Tradition, befände sich auch hier genau unter dieser Darstellung Christus, der tatsächlich mit dem jungen Mann gemeint sein könnte, der an der Spitze der Waldpyramide in Kreuzform beide Arme dem Betrachter entgegenbreitet. Unter diesem sieht man jedenfalls eindeutig die Symbole der vier Evangelisten, deren Identität in der vorliegenden Publikation nicht erkannt ist, obwohl sie akkurat beschrieben werden (15).

Mit den Darstellungen der drei christlichen auf der linken und der vier aristotelischen Tugenden auf der rechten Seite des Freskos, die alle auf Wolkenbänken stehen und Heiligenscheine tragen, fügt sich Riveras Darstellung in abendländische Konventionen, denen auch die am Boden sitzenden Aktfiguren von Adam und Eva als Symbol der Menschheit entsprechen. Ihr Sündenfall ist durch die Schlange angedeutet. Wäre angesichts solch präziser und massiver Verbindungen zur christlichen Ikonographie trotz aller Besonderheiten Riveras nicht doch die so kategorisch ausgeschlossene traditionelle Symbolik ein angebrachteres oder zumindest offensichtlicheres Deutungsmuster? Immerhin handelte es sich um die Standardassoziation, die der durchschnittliche Mexikaner zur Entstehungszeit der Malerei mit deren Titel und Bildelementen verband. Und beim gedachten Publikum von Riveras Werken handelt es sich immer um die gesamte Gesellschaft und nicht um Einzelgruppen, die mit Geheimlehren vertraut sind. Thema des Werkes wäre dann die Überwindung der Folgen des Sündenfalls durch Offenbarung, Weisheit und Wissenschaft.

Solche Detailfragen können allerdings kaum den Wert einer Publikation trüben, die allein schon durch die Fülle, Vollständigkeit und Qualität ihrer Illustrationen einen fundamentalen Ausgangspunkt für weitere Forschungen über das Werk Riveras, dessen künstlerischen Errungenschaften und politisch-kulturellen Hintergrund bildet. Überall dort, wo man sich mit der Entwicklung Mexikos, der Geschichte Amerikas oder der Kunst und der politischen Ikonographie des 20. Jahrhunderts befasst, wird dieses Buch künftig unverzichtbar sein.

Martin Lozano, Luis; Coronel Rivera, Juan: Rivera (Extra Large Series), Taschen Verlag 2008
ISBN-13: 978-3-8228-4943-9, 674 p., EUR 94.99

Empfohlene Zitation:
Tobias Kämpf: [Rezension zu:] Martin Lozano, Luis; Coronel Rivera, Juan: Rivera (Extra Large Series), 2008. In: ArtHist.net, 21.01.2009. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/334>.

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