REV 30.01.2010

Daniel Parello: Die mittelalterlichen Glasmalereien in Marburg und Nordhessen

Rezensiert von Michael Buchkremer, Foto Marburg
Redaktion: Philipp Zitzlsperger
Click to enlarge

Der hier besprochene Band ist ein Ergebnis der Freiburger Arbeitsstelle für Glasmalereiforschung innerhalb des Langzeitprojektes „Corpus Vitrearum Medii Aevi“ (www.cvma-freiburg.de). Aufgabe dieses internationalen Forschungsunternehmens ist die wissenschaftliche Bearbeitung und Publikation aller nachweisbaren mittelalterlichen Glasmalereien. Die Ergebnisse werden in nach Kunstlandschaften gegliederten und gemäß international verbindlichen Richtlinien erstellten Corpusbänden publiziert. Der vorliegende Band schließt die Lücke zwischen dem 1999 vorgelegten Teilband zu den Glasmalereibeständen in Frankfurt und im Rhein-Main-Gebiet sowie dem für Frühjahr 2010 angekündigten Band zu Oppenheim, Rhein- und Südhessen. Wie alle bisherigen beeindruckt auch der vorliegende Band durch die Vollständigkeit der besprochenen Objekte, ihre wissenschaftliche Aufbereitung und hervorragende fotografische Dokumentation. Hinzu kommt die hohe Qualität des kritischen Katalogs, in welchem Daniel Parello mit überzeugenden Deutungen und eigenständigen Rekonstruktionen über den bisherigen Forschungsstand weit hinaus geht und z. T. überhaupt Neuland betritt.

Nordhessen war im Mittelalter keineswegs eine territorialpolitische Einheit und ist daher gelegentlich als „Durchgangslandschaft“ zwischen Niedersachsen, Westfalen und Thüringen charakterisiert worden. Von einer Kunstlandschaft mit eigenem Stilgepräge, wie man sie für andere Regionen Deutschlands definieren könnte, kann hier kaum gesprochen werden, Importe aus den Nachbarregionen sind fast die Regel. Diese komplizierte Gemengelage führt Daniel Parello dem Leser in der Einleitung vor Augen, in die er auch bedeutende, z. T. noch wenig erforschte Retabel zum Vergleich einbezieht. Parello lichtet das Dickicht der künstlerischen Einflüsse von westfälischen, kölnischen, mittelrheinischen, sächsisch-thüringischen und niedersächsischen Stileigenarten, die in Kunstwerken Nordhessens anzutreffen sind, und bündelt das Disparate in einer Gesamtschau. Für das behandelte Gebiet sind große Verluste an Glasmalereien durch Kriege, die Reformation und den Bildersturm des calvinistischen Landgrafen Moritz von Hessen-Kassel zu konstatieren, dennoch verzeichnet der Band mehr als 800 erhaltene bzw. historisch dokumentierte Scheiben an 36 Orten, die in alphabetischer Ordnung aufgeführt sind.

Die Bibliographie zu den Objekten ist mit stichwortartigen, äußerst nützlichen Kommentaren versehen. Die sich anschließenden Einführungen informieren über Geschichte und Programm der Verglasung und beschreiben den architektonischen Kontext. Parello legt hier höchst instruktive, verdichtete Überblickstexte vor. Im Abschnitt zur Verglasung der Klosterkirche Haina erfährt der Leser beispielsweise auch etwas über die seinerzeit richtungsweisende, die Originalsubstanz weitgehend bewahrende Restaurierung in den Jahren 1849-50. Es findet sich so mancher Hinweis darauf, wie sorglos nach wie vor mit dem einzigartigen kulturellen Erbe umgegangen wird: In Frankenberg wurden noch vor rund 50 Jahren unsachgemäße Restaurierungen ausgeführt, die zu chemischen Zersetzungsprozessen der Glasmalereien, mithin unwiderbringlichen Verlusten, führten; in der Hersfelder Stadtkirche sind im 20. Jh. mittelalterliche Fenster derart montiert worden, dass sie der Verwitterung ungeschützt ausgesetzt sind. Der Autor wird hier der Aufgabe gerecht, auch denkmalpflegerische Belange zu berücksichtigen und notfalls mit dem gebotenen mahnenden Ton vorzutragen.

In einem eigenständigen Katalogteil werden die Scheiben detailliert abgehandelt, mit übersichtlich gegliederten Rubriken für Erhaltung, Ikonographie, Komposition, Ornament, Maßen, Inschriften etc. Im z. T. umfangreichen Fußnotenapparat finden sich immer wieder wertvolle weiterführende Hinweise und vertiefende Diskussionen zum Forschungsstand. Ein weiteres Anliegen des Katalogteils ist die Dokumentation der Erhaltungszustände der Scheiben anhand von eigens dafür angefertigten Zeichnungen.

Herzstück des Corpus-Bandes sind die Glasfenster der Marburger Elisabethkirche. Parallel zur Heiligsprechung der Landgräfin Elisabeth von Thüringen 1235 erfolgte die Grundsteinlegung für den gotischen Kirchenbau des Deutschen Ordens als Grablege für die Heilige. Während die Langhausverglasung heute verloren ist, hat sich im Trikonchos ein großer Bestand an Glasmalereien erhalten, jedoch nicht in seiner ursprünglichen Anordnung, lediglich das obere Chorachsenfenster befindet sich noch an seinem ursprünglichen Standort. Die sehr rasche Erbauung der Dreikonchenanlage (1243 bereits eingedeckt) und die gleich großen Fensteröffnungen erschweren Rekonstruktionsversuche zusätzlich. Parello widmet sich auch dieser Aufgabe mit Sorgfalt und überzeugenden Vorschlägen: Von dem genannten Achsenfenster ausgehend rekonstruiert er das Programm der zweigeschossigen Chorverglasung mit den spätromanischen Standfigurenfenstern und dem Medaillonfenster der Kreuzigung Christi in der Zentralachse. In der oberen Reihe soll Christus mit Maria als Himmelskönigin zu seiner Linken und der heiligen Elisabeth zur Rechten gestanden haben. In der unteren Reihe seien die Personifikationen der Ecclesia und der Synagoga zu sehen gewesen sowie die Figur des 1228 heilig gesprochenen Franz von Assisi, gewissermaßen das Vorbild Elisabeths. Weitere Standfiguren, von denen sich nur noch Johannes d. T. und Bartholomäus erhalten haben, sind zu ergänzen, jedoch nur für den Scheitel des Chors. Auf dessen Langseiten waren Ornamentfenster angebracht, die durch ihre Lichtwirkung die zentrale Figurenreihe steigerte. Die strenge, statuarische Heiligenanordnung wird von Parello in eine schlüssige theologisch-liturgische und architektonische Gesamtkonzeption eingebunden: Sie bildet den Fond für den Hochaltar, in dem der Leib der Heiligen ursprünglich hatte beigesetzt werden sollen, bevor in der Nordkonche ihr Mausoleum errichtet wurde.

Die Nordkonche nimmt Parello als ursprünglichen Standort für den Elisabethzyklus an, der heute auf der Südseite des Chors installiert ist. Parello folgt hier Andreas Köstler[1], der die Medaillonfenster bereits in diesen Kontext gestellt hatte. Kompositorische und motivische Verwandtschaft besteht zwischen den Glasmalereien und den zeitgleichen Reliefs des Elisabethschreins.

In der Südkonche waren ursprünglich die Zyklen mit den klugen und törichten Jungfrauen sowie der Genesis angebracht. Kompositorische Besonderheiten ließen diese Fenster stets als altertümlich gegenüber den anderen Scheiben erscheinen. Monika Bierschenk hatte daher in ihrer umfangreichen Dissertation[2] die These vertreten, dass sie für den Vorgängerbau gedacht gewesen seien. Parello widerspricht und weist nach, dass die Maße der Scheiben den gotischen Fensteröffnungen entsprechen, zudem wären die Scheiben für die wesentlich kleinere romanische Vorgängerkirche entschieden zu groß gewesen. Die gestalterischen Besonderheiten werden ebenso einfach wie überzeugend „mit den Schwierigkeiten der ausführenden Werkstatt (erklärt), traditionelle Bildkonzepte in einer ihr gänzlich unbekannten Fensterform umzusetzen“. (379)

Für die Verglasung des Trikonchos lassen sich anhand der überlieferten Hauptwerke (spätomanische Standfiguren-, Genesis- und Elisabeth-Medaillonfenster) Werkstätten aus Niedersachsen und Köln identifizieren. Parello sieht allgemein in den Marburger Glasmalereien auch eine „Nähe zum Soester Stilmilieu“ und eine „Verwandschaft zum Goslarer Evangeliar“ (44). Letzteres wurde innerhalb der Forschung auch schon gegenteilig gesehen[3], ein eindeutiges Urteil mag der Rezensent angesichts der hohen Verlustrate an mittelalterlicher Malerei insgesamt nicht fällen. Zu überzeugen vermag aber Parellos eigenständige These, nach der die stilistischen Zusammenhänge über die Stationen Straßburg, Mainz und Köln verlaufen.

Einen weiteren Schwerpunkt des Bandes bilden die schönen Glasfenster in Haina, „neben dem Altenberger Dom die bedeutendste und umfangreichste Ornamentverglasung einer Zisterzienserkirche in Deutschland.“ (138) Hier haben sich 19 Fenster, vor allem auf der Nordseite der Kirche, erhalten. Während Parello für die Erstverglasung eine eigene, von Konversen geführte Glasmalereiwerkstatt annimmt, die unter der Leitung des Klosterbruders Lupuldus stand, welcher seine Signatur auf zwei Scheiben hinterließ, werden für spätere Fenster aufgrund stilistischer Erwägungen Importe aus Marburger und Frankfurter Werkstätten plausibel gemacht.

Als Besonderheit lässt sich das Westfenster mit der Kreuzigung Christi anführen, als Rest eines ursprünglich größeren Figurenprogramms. Es wurde innerhalb der Forschung bisher um 1300 datiert und gelegentlich als früheste figürliche Glasmalerei in einer Zisterzienserkirche gesehen. Parello datiert das Fenster aus technischen und stilistischen Gründen in den Zeitraum 1330/40. [4]

Weitere, bedeutende Glasmalerei-Standorte sind die Liebfrauenkirche in Frankenberg (mit einem Leben-Christi-Zyklus, den Parello abweichend von der bisherigen Forschung schlüssig rekonstruiert), die Stadtkirche in Immenhausen (der Bestand heute größtenteils auf der Löwenburg in Kassel-Wilhelmshöhe) oder die Stadtkirche in Hersfeld, die jeweils mit z. T. erstmals vorgeschlagenen Rekonstruktionen des ursprünglichen Bildprogramms vorgestellt werden. Von der einst umfangreichen Farbverglasung in Hersfeld, die als Beispiel für das selbstbewusste Stiftungswesen eines gegenüber den benachbarten Stiftsherren erstarkenden Bürgertums gelten kann, sind nach einem Kirchenbrand im Jahr 1952 nur noch Reste vorhanden. Das ursprüngliche Bildprogramm in Chor (Standfiguren unter Tabernakeln, darüber Ornamentscheiben) und Langhaus (u.a. Heiligenlegenden, Vita-Christi-Zyklus) wird anhand von Fotografien aus der Kriegsbergungskampagne, den letzten verlässlichen Bildzeugen vor dem Brandverlust, rekonstruiert. Die Glasmalereien aus dem Kloster Altenberg bei Wetzlar sind heute überwiegend auf Sammlungen des In- und Auslandes verstreut.

Auch dies ist die große Leistung, ursprünglich Zusammengehörendes in Bild und Textform wieder als solches erkennbar zu machen. Der hier rezensierte, mit akribischer Sorgfalt erstellte Band [5] ist weit mehr als eine kritische Dokumentation von Standortnachweisen, Literatur und Quellen. Äußerst kenntnisreich und souverän breitet Daniel Parello neben den präzisen Angaben zu den Glasmalereien seine Forschungen zu Stiftungswesen, historischem und stilistischem Kontext, Ikonographie und Bildprogrammatik mit großem Erkenntnisgewinn für den Leser aus. Dies alles geschieht in einer klaren, immer anschaulichen Sprache, die die anregende Lektüre auch zum Vergnügen macht.

Anmerkungen:

[1] Köstler, Andreas: Die Ausstattung der Marburger Elisabethkirche. Zur Ästhetisierung des Kultraums im Mittelalter. Berlin 1995.
[2] Bierschenk, Monika: Glasmalereien der Elisabethkirche in Marburg. Die figürlichen Fenster um 1240. Berlin 1991.
[3] Vgl. z.B. Hess, Daniel: Das Retabel von Wetter und die Wechselwirkungen zwischen Tafel- und Glasmalerei in Hessen und am Mittelrhein um 1250. In: Joachim Poeschke u.a. (Hgg.): Das Soester Antependium und die frühe mittelalterliche Tafelmalerei: Kunsttechnische und kunsthistorische Beiträge. Akten des Wissenschaftlichen Kolloquiums vom 5. - 7. Dezember 2002, veranstaltet vom Institut für Kunstgeschichte der Universität Münster, vom Westfälischen Landesmuseum für Kunst und Kulturgeschichte in Münster und der Fachhochschule Köln (= Westfalen. Hefte für Geschichte, Kunst und Volkskunde, Bd. 80), Münster 2005, S. 245-258, v. a. S. 255 u. 257.
[4] Die frühe Datierung hatte schon Annegret Laabs in ihrer vom Rezensenten in der Bibliographie vermissten Studie in Zweifel gezogen, ohne allerdings einen Gegenvorschlag zu machen, vgl. Laabs, Annegret: Malerei und Plastik im Zisterzienserorden. Zum Bildgebrauch zwischen sakralem Zeremoniell und Stiftermemoria 1250-1430. Petersberg 2000, S. 226.
[5] Als einziger „Ausreißer“ fiel die fehlende Nummerierung der Lagebezeichnungen im Grundriss der Elisabethkirche auf.

Parello, Daniel: Die mittelalterlichen Glasmalereien in Marburg und Nordhessen, Berlin: Deutscher Verlag für Kunstwissenschaft 2008
ISBN-13: 978-3-87157-224-1, 687 S.

Empfohlene Zitation:
Michael Buchkremer: [Rezension zu:] Parello, Daniel: Die mittelalterlichen Glasmalereien in Marburg und Nordhessen, Berlin 2008. In: ArtHist.net, 30.01.2010. Letzter Zugriff 25.04.2024. <https://arthist.net/reviews/329>.

Creative Commons BY-NC-NDDieser Text wird veröffentlicht gemäß der "Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 4.0 International Licence". Eine Nachnutzung ist für nichtkommerzielle Zwecke in unveränderter Form unter Angabe des Autors bzw. der Autorin und der Quelle gemäß dem obigen Zitationsvermerk zulässig. Bitte beachten Sie dazu die detaillierten Angaben unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de.

^