REV 27.03.2010

Oliver Meys: Memoria und Bekenntnis

Rezensiert von Kilian Heck, Kunstgeschichtliches Institut Frankfurt
Redaktion: Philipp Zitzlsperger
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Die Interpretation des Kunstwerks im Hinblick auf seine Funktion zu erörtern ist Errungenschaft und Erbe der Kritischen Kunstgeschichte der 1970er Jahre. Hieraus hat sich gegenwärtig eine Forschung entwickelt, die im Künstler und in seinem Kunstwerk komplexeste Eigenschaften und Befähigungen erkennen möchte. Ein Blick auf die Semantik einer beliebig herausgegriffenen Untersuchung der jüngsten Zeit könnte dieses Phänomen eindrucksvoll belegen: Hier werden zuhauf "Aspekte rückgebunden", "Affekte suggeriert" oder auch "Irritationspotentiale evoziert", aber vor allem werden bei einem Kunstwerk buchstäblich hinter jeder Ecke "Strategien erkannt". Überhaupt Strategie – das ist offensichtlich der Terminus für dieses kunsthistorische Multitasking schlechthin. Fröhliche Urständ feiert dieses hohe Wort in all jenen Texten der Kunstgeschichte, die gleichzeitig für eine Fachmonographie wie für einen Forschungsantrag verwendet werden könnten, die aber auch jedem Feuilleton-Artikel zur Zier gereichen würden, bei denen von allen Geisteswissenschaften die Kunstgeschichte übrigens das Gros der Lieferanten ausmacht. Die Austauschbarkeit der Texte und die sich in ihnen repetierenden Begriffe sind inzwischen Legion, nicht immer zum Nutzen der Erkenntnis.

Im Vergleich dazu kommt die Monographie von Oliver Meys zu den Grabdenkmälern evangelischer Landesherren geradezu bodenständig daher. Ihre Antragskompatibilität dürfte im Vergleich zu den Untersuchungen des augenphilologisch argumentierenden Zweiges der gegenwärtigen Kunstgeschichte als eher gering zu veranschlagen sein. Dabei ist allein der Umfang dieses kaum noch als Kompendium zu bezeichnenden Werks beeindruckend: Auf fast 900 Seiten - selbige sind 3,3 kg schwer! - mit ebenso gewichtigen 2977 Fußnoten listet Oliver Meys die Grabdenkmale evangelischer Landesherren des 16. und 17. Jahrhunderts auf, also der Phase, die in der Historiographie, nicht in der Kunstgeschichte, als Zeitalter der Konfessionalisierung bezeichnet wird.

Was aber zunächst einmal durch diese in der Regel vorzüglich bebilderte Arbeit deutlich wird, ist das Vorhandensein einer hochbedeutenden Skulpturengattung, die in keinem Verhältnis zu ihrer als nur gering zu veranschlagenden Forschungssituation steht. Selbst dem Rezensenten, der zur deutschen Grabskulptur des 16. und 17. Jahrhunderts gearbeitet hat, war die Fülle und auch Qualität dieser Denkmalsgattung so nicht präsent. Bezeichnend ist es in diesem Zusammenhang, dass die skulpturale Kunst des Alten Reichs in dieser Epoche, wenn überhaupt, dann als Kunst der Gegenreformation wahrgenommen wird. Das Klischee von der katholischen Reaktion in Bildform auf den vermeintlich nur wortorientierten Protestantismus ist zwar seit einiger Zeit revidiert, mit welcher Präsenz jedoch die evangelische, genauer die lutherische "Bedenkmalung" das Alte Reich überzogen hat, das ist bis heute nicht angemessen wahrgenommen worden.[1] Man fragt sich unweigerlich, warum diese über das Gebiet des gesamten Alten Reichs verbreitete Gattung bislang nicht eine viel zentralere Rolle bei der Erörterung der politischen Herrscherikonographie gespielt hat. Denn diese Denkmalsetzungen im Chorraum waren für die Gottesdienstbesucher ein an Sichtbarkeit kaum überbietbares Zeichen für die Etablierung und Durchsetzung der Fürstenherrschaft, was wiederum die sozialständige Gliederung einer Residenz bestens veranschaulichen konnte. Gerade hier setzt die materialorientierte Arbeit von Oliver Meys an.

Es mag angesichts der setzkastenartigen Bestückung der meist in der Form von Wandmonumenten arrangierten Grabdenkmale mitunter schwierig sein, ihre künstlerischen Qualitäten richtig einzuschätzen. Werden aber Denkmale wie das zwölf Meter hohe Monument für Herzog Johann Friedrich II. von Sachsen (+1595) mitsamt seiner beiden Ehefrauen und den vier Söhnen in der Coburger Morizkirche begutachtet, dann wird klar, dass es sich hier vor allem um eine monumentale Raumkunst handelt. Diese entfaltet ihre Wirkung nicht nur durch ihre besagte Größe, sondern auch durch eine geradezu theatralische Inszenierung der Fürstenfamilie, die in Form von Priants auf der Mensa des Denkmals aufgebaut wurde. Unter Einbezug der Beleuchtung durch die Chorfenster waren diese lebensgroßen Statuen im gesamten Kirchenraum sichtbar. Sie wurden durch die gottesdienstbesuchenden Untertanen als durchaus lebendig wirkende Protagonisten des sie regierenden Standes mit der diesem entsprechenden herrscherlichen Dignität wahrgenommen.

Die Arbeit gliedert sich in drei große Abschnitte: Zunächst wird der Leser ausführlich und erhellend über die Geschichte der Grablegen im Kirchenraum informiert. Die Translokation der dynastischen Grablege aus zumeist abseitig gelegenen Hausklöstern in die wichtigste Pfarrkirche der Residenz wird als wichtiger Schritt der frühneuzeitlichen Residenzbildung beschrieben. Sowohl die Rolle des mittelalterlichen dynastischen Stiftsgedankens, der Memoria wie auch die Bedeutung des Summepiskopats, das die neue Stellung des evangelischen Landesherrn als Oberhaupt der Kirche beschreibt, werden plausibel erörtert. Letzteres war zweifellos eine entscheidende Voraussetzung für diesen nachreformatorischen Denkmalskult am Grab - und auch für die unter anderem daraus erklärbare Positionierung dieser Monumente im alten Chor der zumeist noch mittelalterlichen Pfarrkirchen, demnach noch immer "ad sanctos".

Hier aber bleibt Oliver Meys jedoch auf halber Strecke der Deutung stehen: Dass diese Grabdenkmale als oberirdische Grabzeichen für die in der Regel unterhalb des Chorbodens in Form der Gruftbestattung beigesetzten Fürsten zu verstehen sind, wird zwar gesagt (85f.), aber in seiner ganzen Konsequenz nicht beschrieben. So sehr auch die Wichtigkeit des alten Chors als neue dynastische Ruhmeshalle zum Ausdruck kommt und historisch-theologisch hergeleitet wird, erscheint doch die Bedeutung dieses Ortes als politischer Mittelpunkt der Residenz nicht vollständig erfasst worden zu sein, insbesondere wenn der Kontext auf den gesamten Topos einer frühneuzeitlichen Residenzstadt ausgedehnt wird. Dann erst würde sich zeigen, wie der mit Denkmalen bestückte Chor mitsamt der darunterliegenden Gruft innerhalb des komplexen sozialen Gefüges der Residenz - bestehend aus Schloss, Rathaus und landesherrlichen Behörden - wie eine Art ideagenes Senklot wirken konnte, wie ein die historische Kontinuität der Dynastie und damit des ganzen Landes verbürgendes Herrschaftszeichen.

Diese bei materialreichen Arbeiten oft zu beobachtende Verengung des analytischen Blickes zeigt sich auch an anderer Stelle. Wäre nämlich ausführlicher und auf frühere Forschungsergebnisse zurückgegriffen worden, hätte sich ebenfalls die allmähliche Verlagerung des dynastischen Memorierens weg vom steinernen Monument im Kirchenchor hin zu anderen medialen Formen wie den Castra doloris, den Effigies und den gedruckten Funeralwerk besser erklären lassen, welche spätestens ab der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts von zentraler Bedeutung für die Repräsentation der lutherischen Dynastien wurden. Die komplexe zeremonielle Repräsentation eines deutschen Fürstenhofes um 1650 war eher auf ephemere zeremonielle Großereignisse ausgerichtet als auf eine dauerhafte, aber wenig dynamische Monumentalisierung in Form steinerner Denkmale im Kirchenraum.[2]

Im zweiten Teil widmet sich die Arbeit den Grabdenkmälern selbst, ihren spezifischen Formen wie dem Freigrabmal, den Tischgräbern, den Priants und vor allem den verschiedenen Typen der Wandgrabmäler, die wie in Kassel, Darmstadt oder Coburg retabelartige Gestaltung annehmen, was nicht von ungefähr zur ihrer Bedeutung als altarähnliche Monumente beiträgt. Dieser Abschnitt der Untersuchung von Meys ist von einer bisher kaum erreichten Differenziertheit der Betrachtung geprägt, wenn es auch fast zwangsläufig zu Überschneidungen bei den Typologien kommen musste. In einem daran anschließenden, dritten Abschnitt werden die ikonographischen Bildprogramme vor allem der zahlreichen Reliefs aufgeschlüsselt, die neben der zentralen Kreuzestheologie des Luthertums immer wieder Tugendenallegorien wie Caritas und Fides und dann ab etwa 1600 die Justitia thematisieren.

Der daran anschließende Katalog dürfte als Hauptverdienst der Arbeit gelten. Hier werden nach topographischen Gesichtspunkten die Grabdenkmale über das gesamte Gebiet des Alten Reichs erfasst. Dessen nicht genug werden in einem anschließenden zweiten Katalog auch noch die beteiligten Künstler mit ihren Biographien und ihren Werken vorgestellt. Dieser Fundus ist für nachfolgende Forschergenerationen eine einzigartige Materialbasis, der umfangreiche Rezeption zu wünschen ist.

Es bleibt nicht aus, dass ein solcher Katalog auch Lücken und Inkonsistenzen aufweist. So ist beispielsweise die sozialständische Trennung nicht ganz nachvollziehbar. Was mit "Landesherren" eigentlich gemeint ist, wird überhaupt nicht definiert. Zwar nehmen den weitaus größten Teil der Untersuchung die Grabdenkmäler von Dynasten ein. Entsprechend sind solche von Fürsten, Grafen und Herren berücksichtigt. Dass aber auch, wie im Falle der Grablege der Hatzfeldt in der Pfarrkirche St. Sebastian in Friesenhagen, vereinzelt reichsritterschaftliche Familien aufgenommen wurden, verwundert etwas, weil sich der niedere Adel ohne Reichsstandschaft sonst nicht in dieser Untersuchung findet. Umgekehrt fehlen vereinzelt wichtige Beispiele dynastischer Provenienz. So wird die zahlreiche oberirdische Denkmale umfassende, seit 1500 bestehende Grablege der Vögte von Gera und der Grafen Reuß in der Bergkirche St. Marien in Schleiz nicht mit aufgeführt. Beispiele aus Böhmen und Schlesien fehlen gleich ganz, was zumindest im Fall der evangelischen Piastenherzöge und ihrer Grablege in Liegnitz bedauerlich ist. Die dafür angegebene Begründung, dass "diese Gebiete seit 1526 im Besitz der katholischen Habsburger waren" (16), trifft für die Piasten nicht zu, die zwar Lehnsträger der böhmischen Krone waren, dennoch als souveräne Landesherren anzusprechen sind. Auch ist schon allein aus Kapazitätsgründen verständlich, dass katholische Landesherren nicht mit aufgeführt wurden, dennoch hätte hier ein Vergleich gezeigt, dass die Denkmalsetzungen dieser Fürsten nicht unbeeinflusst von denen ihrer evangelischen Territorialnachbarn geblieben sind. Etwa für die Fürstbistümer Münster, Osnabrück und Paderborn ließe sich das hinlänglich belegen. Bei letzterem Territorium ist das Grabmonument für Fürstbischof Dietrich zu Fürstenberg (+1618) im Paderborner Dom direkt als Rezeption des kaum einhundert Kilometer entfernten Grabmonuments für den Landgrafen Philipp den Großmütigen von Hessen (+1567) zu verstehen, einer Zentralgestalt der Reformation.

Zu ergänzen wäre hier auch, dass der bei mehreren, ehemals lutherischen Dynastien zu beobachtende Wechsel zur reformierten Lehre wiederum wichtige Auswirkungen auf die Denkmalsetzungen hatte. So ist es im Falle der Landgrafen von Hessen-Kassel eine verkürzende Deutung, wenn gesagt wird, dass "das große und aufwändige Grabdenkmal Philipps des Großmütigen und seiner Ehefrau Christine wie ein Denkmal für das ganze hessische Landgrafenhaus, beziehungsweise für seine in Kassel residierenden Vertreter, funktioniert hat, da nach ihm keine weitere aufwändige Denkmalsetzung mehr unternommen wurde" (521). Der Grund für diese abgebrochene Traditionslinie liegt vor allem im neuerlichen Konfessionswechsel der Kasseler Landgrafen zur reformierten Lehre begründet, in Folge dessen keine weiteren repräsentativen persönlichen Grabdenkmale im Kirchenraum mehr errichten wurden. Aus gleichem Grund bleibt fraglich, ob es bei den brandenburgischen Hohenzollern stets bei der "von Anfang an gewählten Form der Gruftbestattung mit aufwändigen Särgen" geblieben ist (30), oder ob nicht doch erst der Wechsel zum reformierten Glauben unter Kurfürst Johann Sigismund 1613 eine Konzentration auf die Gruftbestattung bewirkte. Im Falle der schon im 18. Jahrhundert abgerissenen Dominikanerkirche ist es immerhin fraglich, ob hier nicht doch oberirdische Grabdenkmale in dieser seit 1545 durch Joachim II. eingerichteten Dynastiegrablege vorhanden waren, was durch die Translokation der Monumente für Joachim I. (+1499) und Johann Cicero (+1533) aus Kloster Lehnin in diese im heutigen Stadtzentrum Berlins noch in Fundamenten erhaltenen Kirche immerhin denkbar wäre.

Noch ein anderes Defizit der Arbeit ist anzuführen: die Jahre 1943 bis 1945 mit ihren Zerstörungen deutscher Residenzstädte und der zugehörigen Grabeskirchen der ehemals hier regierenden Dynastien sind bei Meys praktisch nicht existent. Zwar wird noch die Zerstörung der Martinskirche in Kassel erwähnt und als Folge die Vernichtung oder Neugruppierung einiger Grabdenkmale (521) vermerkt, in den Bildunterschriften fehlen solche Hinweise jedoch völlig, so dass beim unkundigen Betrachter der hervorragenden Aufnahmen der Grabdenkmale in Königsberg (dem heute russischen Kaliningrad), Kassel oder Pforzheim zumindest der irrtümliche Eindruck entstehen könnte, diese Werke hätten den zweiten Weltkrieg unbeschadet überstanden. Hierfür ließen sich zahlreiche andere Beispiele finden.

Noch ein Wort zu den Künstlern, die so sehr dem Typus von Martin Warnkes „Hofkünstler“[3] zu entsprechen scheinen: Die Anbindung der deutschen dynastischen Grabmonumente an die europäische Grabplastik geschieht vor allem durch die beteiligten Künstler wie Giovanni Maria Nosseni (Freiberg, Stadthagen) oder Cornelis Floris de Vriendt (Königsberg, Schleswig). Sie alle legen darüber hinaus Zeugnis ab für Denkmale, die in ihrer Gestaltung auf die berühmtesten Beispiele ihrer Zeit reagierten – allen voran auf den Grabmalsentwurf für Papst Julius II. Tatsächlich vermochten es diese Grabmonumente, die sozialständische Gliederung des Territoriums innerhalb des Kirchenraums einer Residentstadt zu visualisieren und innerhalb dieser die Superiorität der Fürstenherrschaft herauszustellen.

Die angesprochenen Monita sollen nicht davon ablenken, dass die Untersuchung einen Meilenstein in der Forschung zur europäischen Grabplastik darstellt. Das sei in der ganzen Tragweite dieser Aussage betont. Es sind bei Oliver Meys hunderte von Grabdenkmalen ausführlich beschrieben, analysiert und wichtige Voraussetzungen für ihre Errichtung geklärt worden. Damit handelt sich um ein grundständig solides Korpuswerk für diese Denkmalsgattung, das in den kommenden Jahren breitest konsultiert werden wird.

Anmerkungen:

[1] Stellvertretend für viele Forschungsprojekte sei hier der Arbeitskreis "Kunst im Konfessionellen Zeitalter" genannt, vgl. die Untersuchung "Konfessionen im Kirchenraum: Dimensionen des Sakralraums in der Frühen Neuzeit", hg. von Susanne Wegmann und Gabriele Wimböck. Korb 2007.

[2] Hierzu Kilian Heck: Genealogie als Monument und Argument. Der Beitrag dynastischer Wappen zur politischen Raumbildung der Neuzeit, München/Berlin 2002, S. 273f.

[3] Martin Warnke: Hofkünstler: Zur Vorgeschichte des modernen Künstlers. Köln 1996, (2. Auflage).

Meys, Oliver: Memoria und Bekenntnis. Die Grabdenkmäler evangelischer Landesherren im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter der Konfessionalisierung, Regensburg: Schnell & Steiner 2009
ISBN-13: 978-3-7954-2173-1, 888 S., EUR 149,00

Empfohlene Zitation:
Kilian Heck: [Rezension zu:] Meys, Oliver: Memoria und Bekenntnis. Die Grabdenkmäler evangelischer Landesherren im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation im Zeitalter der Konfessionalisierung, Regensburg 2009. In: ArtHist.net, 27.03.2010. Letzter Zugriff 20.04.2024. <https://arthist.net/reviews/328>.

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