REV 28.09.2008

Charlotte Schoell-Glass/Elizabeth L. Sears (Hrsg.): Verzetteln als Methode

Rezensiert von Anke te Heesen, Tübingen
Redaktion: Claudia Sedlarz
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Dieses Buch liest man gern, man legt es nicht mehr aus der Hand. Manchmal ärgert man sich über dies und das (z.B. über die doch kleine und relativ gedrängte Schrift, oder über das abrupte Ende eines Kapitels (das schöne Kapitel 6)), aber zuverlässig tritt einem wieder der gelehrte Protagonist des Buches entgegen und spricht aus seinem grandiosen Papierkonvolut.

Bei dem vorliegenden Buch handelt es sich um eine intellektuelle Biographie des Ikonologen William S. Heckscher. Der Text besticht durch die langen und ausführlichen Zitate aus dem sorgfältig gesichteten Nachlaß des Gelehrten. Und so hat das Buch ein doppeltes Ziel: Es beschreibt ein akademisch geprägtes Leben und will zugleich die Arbeitsweise des Gelehrten anhand seiner Aufschreibesysteme verdeutlichen.

Darstellung und Auswahl wurden kenntnisreich von den Kunsthistorikerinnen Charlotte Schöll-Glass und Elizabeth Sears kommentiert und mit zahlreichen schwarz-weißen Abbildungen zu einer dichten biographischen Darstellung des erst in neuerer Zeit wieder entdeckten Ikonologen verbunden. [1] Ein Anhang informiert über den Inhalt des Archivs, die Literatur von und über Heckscher und enthält ein Verzeichnis der Namen seiner Korrespondenzpartner. Das Archiv, das Heckscher siebzig Jahre lang aufbaute, dokumentiert seine Publikationstätigkeit sowie seine Arbeitsmaterialien. Es kam fast zur Gänze durch die Vermittlung von Elizabeth Sears und Karen Michels im Jahr 2000 als Schenkung an die Hamburger Universität. Heute, nach einigen Jahren der Sichtung und Aufarbeitung ist dieser Nachlaß als William S. Heckscher-Archiv im Warburg-Archiv des Kunstgeschichtlichen Seminars der Universität Hamburg im Warburg-Haus zugänglich.

Eine intellektuelle Biographie, bei der vor allem die Arbeitsweisen eines Gelehrten Thema und Material zugleich bilden, entspricht einerseits einer Tradition (Gombrichs Buch über Aby M. Warburg), andererseits dem gegenwärtigen Interesse an der Herstellung und Repräsentation von Wissen. Daß Instrumente und Werkzeuge auch das Hergestellte bestimmen und beeinflussen können, ist wie im Labor so auch für den Schreibprozeß zu beobachten. Vor diesem, in den letzten Jahren intensiv erforschten Hintergrund ist zu erklären, warum heute – wir befinden uns sich schließlich im Stadium der Voll-Digitalisierung – Papierstöße und Zettelsammlungen, Bildmappen und Karteien einen so großen Reiz auf uns ausüben.

Nach einer Ausbildung als Porträtmaler studierte Heckscher Kunstgeschichte bei Erwin Panofsky, dessen Assistent er zeitweise war. Seine Dissertation über „Die Romruinen. Die geistigen Voraussetzungen ihrer Wertung im Mittelalter und in der Renaissance“, reichte er noch in Deutschland ein, um unmittelbar im Anschluß 1936 nach New York zu fliehen. Ab da folgten zahlreiche akademische Stationen in Princeton, London, Kanada, um schließlich als Professor an der University of Iowa (USA), Utrecht (Niederlande) und Duke University (USA) zu lehren. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen Studien zur Emblematik (1967), seine ikonologische Analyse von „Rembrandt’s Anatomy of Dr. Nicolaas Tulp“ (1958) oder die wissenschaftshistorisch-kulturgeschichtliche Darstellung der „Genesis of Iconology“ (1967). Es ging ihm dabei nicht allein um die klassisch ikonologische Verbindung von Text und Bild, deren Zusammenhänge zu erforschen er als seine zentrale Aufgabe sah, sondern auch um eine kulturgeschichtliche Öffnung der Bildanalyse im Sinne Aby M. Warburgs. Ähnlich wie für Warburg, an dessen Hamburger Wirkungsstätte er unter anderem studiert hatte (zudem war er in den Jahren von 1937 bis 1940 am Warburg Institute in London als freier Mitarbeiter tätig), zählte die transdisziplinäre Einbettung des Bildes zu seinen Anliegen, wie auch dessen Materialität für ihn eine große Rolle spielten.

Und dies ist der Punkt, an dem das eigene, jahrelang aufgebaute Archiv seine Bedeutung findet. Einerseits als Grundlage seines Prinzips der freien Assoziation, eines beständigen Verbindens und neu Generierens. Andererseits als ein materiell expandierender, sich verdichtender Gedankengang, der der eigenen wechselhaften und von vielen Ortswechseln gekennzeichneten Existenz entgegenzustehen vermochte. In den Notaten, Klebungen und Faltungen liegt eine dem Papier gewidmete Materialzärtlichkeit, die den Glauben an das Wort durch den Respekt für das Papier ermöglicht.

Was Heckschers genuine Arbeitsweise angeht, so wird in dem vorliegenden Buch vor allem die Zettelsammlung als Instrument der geistigen Arbeit beschrieben: Kleine Zettel, auf denen sich Fakten, Beobachtungen, Literaturhinweise und Bilder finden. Sie weisen drei, durch Querverweise miteinander verbundene Ordnungssysteme auf, ein alphabetisches (Textquellen wie Bildmaterialien), chronologisches (Jahreszahlen) und philologisches (englisch-lateinisch). Ein faszinierender Ordnungspunkt lautet „kulturelle Ersterscheinungen“, oder „primordia“. Heckscher vermerkte erste Dinge (und erinnert damit an die „primären Objekte“ George Kublers [2]) und „onlys, lasts and nevers“ – also „Letztmaliges, Einmaliges und Nie-Eingetretenes“ (S. 100). Es ist gerade diese Sammlung, die deutlich macht, wie nahe bei Heckscher Gegenstände der Analyse und Methode liegen. In seinem bekanntesten Aufsatz, der „Genesis of Iconology“, beschreibt er die Methode Warburgs, nicht ohne dies mit zeitgleichen kulturellen Erscheinungen – etwa der zeitgenössischen Kunst oder der Technikentwicklung – zu parallelisieren. Mit Blick auf die „primordia“ erhält der berühmte Aufsatz einen neuen Kontext.

Papierverzettelungen sind immer ausgestattet mit dem Glauben an das vollendete System, das, baut man nur lange genug daran, auch Bücher freigibt und produziert. Es hat nicht viele Gelehrte gegeben, bei denen dies funktionierte; vielleicht ist Niklas Luhmann in seiner „Kommunikation mit Zettelkästen“ einer der ganz wenigen, denen dies gelang. [3] Aber es gab genügend Wissenschaftler, die in die Zettelkästen ihre Zeit investierten, das System fütterten und sich darin verloren. Heckscher ist sich dieser Gefahr bewußt, wenn er 1979 schreibt: „Ich habe ja ein doppeltes System (a.) nach Jahren und (b.) nach Stichworten (die ich aus dem chronologischen System in Hülle und Fülle sauge). Ich weiß fast alle nutzlosen Sachen, haarklein. Aber WIRKLICHE Fragen bin ich nicht imstande zu beantworten.“ (S. 111) Im sprechenden und gelungenen Titel des Buches, „Verzetteln als Methode“, liegt deshalb die fein gewählte Ironie der Autorinnen, das methodische Vorgehen beim Sichverlieren zu beschreiben.

Doch der Titel weckt auch Erwartungen, die nur beschränkt eingelöst werden. Es wäre hilfreich gewesen, hätte man dem Leser neben der kunst- und lebenshistorischen Beschreibung zeigen können, daß Heckscher selbst in einer Tradition stand, die in erster Linie etwas mit der Kultur des Notats und des Exzerpts und weniger mit einem Gedächtnistheater zu tun hat (S. 100). [4] Die Gefahr, der Zettelsammlung im Sinne Heckschers zu verfallen und ihr ab und an etwas zu entnehmen, ist groß. Die Erzählung des Lebens und reiche kunsthistorische Einbettung seiner Nachlaßpapiere ist dieser Gefahr gekonnt entgangen, sie wäre noch spannender geworden, hätte man etwas über den historischen Hintergrund dieser Wissensordnung erfahren.

[1] Vgl. als jüngste Veröffentlichung den Text von Jörg Probst: „Form und Kartoffel. Aus dem Zettelkasten von William S. Heckscher“, in: Zeitschrift für Ideengeschichte, Heft II/2 2008, S. 62-79.
[2] George Kubler: The Shape of Time. New Haven 1962.
[3] Niklas Luhmann: Kommunikation mit Zettelkästen, in: Öffentliche Meinung und sozialer Wandel. Hrsg. v. Horst Baier u.a.. Opladen 1981.
[4] Vgl. dazu etwa die Forschungen von Henning Trüper über den belgischen Gelehrten Francois Louis Ganshof, die Arbeiten Markus Krajewskis zu Zettelkästen oder die Studie von Élisabeth Décultot über Johann Joachim Winckelmann.

Schoell-Glass, Charlotte; Sears, Elizabeth L.: Verzetteln als Methode. Der humanistische Ikonologe William S. Heckscher (1904-1999) (= Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte. Studien, Theorien, Quellen, VI), Berlin: Akademie Verlag 2008
ISBN-13: 978-3-05-004449-1, 186 p., EUR 39.80

Empfohlene Zitation:
Anke te Heesen: [Rezension zu:] Schoell-Glass, Charlotte; Sears, Elizabeth L.: Verzetteln als Methode. Der humanistische Ikonologe William S. Heckscher (1904-1999) (= Hamburger Forschungen zur Kunstgeschichte. Studien, Theorien, Quellen, VI), Berlin 2008. In: ArtHist.net, 28.09.2008. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/32>.

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