Übersetzungen werden - auch im erweiterten Sinne - gegenwärtig als zentrale Wege der Wissensvermittlung und als Faktoren kulturellen und gesellschaftlichen Wandels betrachtet. Der Moskauer Verlag "Nowoe Literaturnoe Obosrenie" ("New Literary Observer") hat eine Studie der schwedischen Kunsthistorikerin Margareta Tillberg zu dem russischen Avantgarde-Künstler und Farbtheoretiker Michail W. Matjuschin (1861-1934) vollständig ins Russische übertragen lassen und unter seinen Neuerscheinungen der Reihe "Studien zur Visualität" platziert.[1] Der 1992 gegründete Verlag stellt als sein zentrales Anliegen den Aufbau eines interdisziplinären Interpretations- und Diskussionsraums dar. Seine Publikationen behandeln häufig intellektuelle Milieus, der Verlag und seine Autoren repräsentieren ein kulturelles Feld, das im Zwischenraum von Literatur, Kunst und Wissenschaft aufgespannt ist. Die Übersetzung ist ein Schritt, die Forschung zur visuellen Kultur der Sowjetunion zu einem überregionalen Austausch zu bringen.
Margareta Tillbergs Untersuchungsgegenstand ist der 1932 veröffentlichte Farbenatlas von Michail Matjuschin, den er in den 1920er Jahren am Staatlichen Institut für Künstlerische Kultur (GINCHUK) in Leningrad entwickelt hatte.[2] Am Beispiel von Matjuschins Farbenatlas geht Tillberg den wissenschaftlichen Grundlagen und ideologischen Verzweigungen sowjetischer Vorstellungen von den Funktionen des Sehens nach: Sie konzentriert sich auf die Wissenschaftsgeschichte der frühen Sowjetunion, d. h. die Rezeption und den Transfer von physiologischen Wahrnehmungstheorien in der Kunst. Außerdem stellt Tillberg ein exemplarisches Lehrer-Schüler-Verhältnis dar und verdeutlicht die Zusammenarbeit, Hierarchien und Abhängigkeiten innerhalb des intellektuellen Zirkels um Matjuschin. Den Farbenatlas begreift sie als ambitioniertes Projekt, visuelle Phänomene zu normieren und in einen Gebrauchszusammenhang zu überführen. Indem die Produktionsweise und die Verwendung des in limitierter Auflage erschienenen und mit handgemalten Farbtafeln versehenen Atlas angesprochen werden, umreißt die Studie auch die materiellen Grundlagen sowjetischer gestalterischer Praxis.
Die Recherchen für Tillbergs Buch lagen in der Zeit der so genannten "Archivrevolution", dem "Archival Gold Rush" der 1990er Jahre. Die erweiterten Nutzungsmöglichkeiten ehemaliger sowjetischer Archive machten es möglich, Fragen an die sowjetische Kultur und Gesellschaft aufzuarbeiten: Die Mechanismen von Herrschaft mittels personaler Netzwerke sowie die Produktion und Funktion von Ideologie im Alltag konnten neu beschrieben werden. Auch in der Kunstwissenschaft sind in dieser Zeit Studien entstanden, die aufgrund breiter Archivarbeiten vor allem den Moskauer Konstruktivismus beleuchtet und einige der revolutionären Künstler in der Dynamik von Kunst und Leben neu positioniert haben. Dabei sind wichtige künstlerische Konzepte und Begriffe benannt worden, ohne die die Forschung nicht mehr auskommen wird: Maria Gough hat den erweiterten Kunstbegriff der "ustanowka", die Vorstellung von funktionellen Systemen, aufgearbeitet, Christina Kiaer hat die Polarisierung von visueller und haptischer Wahrnehmung in der Gegenstandsgestaltung nachgezeichnet.[3]
Das Thema der Farbe, Farbtheorie und Farbwahrnehmung, ist bisher nicht behandelt worden. Farbwahrnehmung bildete allerdings eine zentrale Schnittfläche gesellschaftlich prägender Diskurse der Physiologie, Biologie und des technologischen Wandels. Die Wahrnehmung von Farbe wurde sowohl in den Naturwissenschaften als auch in der Kunsttheorie als ein Problem der Konstitution des modernen Subjekts kontrovers diskutiert. In der frühen Sowjetunion bildete die Farbwahrnehmung außerdem, das macht Margareta Tillberg deutlich, eine ideologische Streitfrage: Die physikalische Komplexität des Phänomens Farbe erschwerte es, einen ontologischen Zusammenhang zwischen Material und Vorstellung bzw. Bewusstseinsbildung nachzuweisen.
Der Aufbau von Tillbergs Buch verfolgt die Entstehungsgeschichte des Atlas unter den sich wandelnden gesellschaftlichen und politischen Bedingungen. Die fünf Kapitel "Farbe" (I.), "Sehen" (II.), "Kultur" (III.), "Ideologie" (IV.) und "Synthese" (V.) implizieren die fortschreitende Modellierung eines intellektuellen Konzepts. Das erste Kapitel entfaltet das Hauptthema: Tillberg stellt dar, wie Matjuschin seine Farbforschung in der Theorie der Nachbilder verankert, die von Eugène Chevreul aus dessen Forschungen zu Simultankontrasten entwickelt worden war. Matjuschin arbeitete daran, Farben so zu kombinieren, dass sie ein verändertes "geistiges" Farbbild hervorbringen, und versuchte, diese Vorgänge nach wissenschaftlichen Vorbildern zu systematisieren. Außerdem bot ihm, wie Tillberg darstellt, der fließende visuelle Eindruck ("floating character") der Sukzessivkontraste die Möglichkeit, das Konzept einer "organischen Kultur" zu vertreten und damit den "räumlichen Realismus" im Konstruktivismus biologisch zu bestimmen. Das Kapitel basiert auf umfangreichen Archivrecherchen, die die Rekonstruktion von Matjuschins Arbeitsweise und seinen Wahrnehmungsexperimenten möglich macht: Matjuschin und seine Künstlerschüler zeichneten Erscheinungen von Farben in unterschiedlichen räumlichen Situationen auf. Ziel war ein "erweitertes Sehen" ("rasschirennoe srenie"), das Tillberg als phänomenologische Projektion auf die Umwelt identifiziert. Matjuschin verband Farbwirkung nicht mit Emotionen, sondern verstand sie als Ergebnis einer praktischen Übung. Obwohl das "erweiterte Sehen" in den Versuchen am GINCHUK von meditativen Praktiken gestützt wurde, interpretiert Tillberg dieses Wahrnehmungskonzept nicht als spirituelle Haltung. Sie weist auf die von Matjuschin anvisierten Konsequenzen für den Einsatz von Farben in gesellschaftlichen Zusammenhängen hin: Unter schwierigen materiellen und ökonomischen Bedingungen könnte die Farbwirkung kompensatorische Aufgaben übernehmen. Obwohl der Farbenatlas in nur 400 Exemplaren verbreitet wurde, fand er doch in einigen Bauentwürfen zur Farbgestaltung des öffentlichen Raums Verwendung. Eine so fundierte Rekonstruktion der Versuchsanordnungen, wie sie Tillberg bietet, hätte man sich von anderen Studien gewünscht, die mit den "Wahrnehmungsexperimenten" der Avantgarde, z. B. Nikolaj Ladowskijs, auf sich aufmerksam gemacht haben.[4] Für ihre überzeugende Arbeit wäre gar nicht vonnöten gewesen, dass die Autorin, in ihrem Buch eigene Sinneseindrücke nach Matjuschin'schen Regeln ebenfalls dokumentiert. Zwar kommt dadurch ein starkes Bedürfnis nach Überprüfbarkeit zu Ausdruck, jedoch zu Lasten des historischen Kontexts.
Das zweite Kapitel "Sehen" ist der Einordnung in die zeitgenössische Farbforschung gewidmet: Tillberg rekonstruiert den Wissenstransfer durch das Prisma der Rezeption von Farbtheoretikern wie dem erwähnten Eugène Chevreul, von Wilhelm Ostwald, Hermann von Helmholtz und anderen durch Matjuschin. Die drei nachfolgenden Kapitel "Kultur", "Ideologie" und "Synthese" differenzieren die Kontextualisierung dieser Farbforschungen weiter aus. Anhand beinahe lexikalischer Einführungen in die in den 1920er Jahren bekannten Farbtheorien macht Tillberg die Konflikte zwischen ideologischen Standpunkten deutlich. Sie zeigt, wie kontrovers Kunst- und Kulturtheoretiker die objektive oder subjektive Verankerung von Farbwahrnehmung verhandelten. Dabei ordnet sie die Auseinandersetzung Matjuschins mit bestimmten Farbtheorien in die parallel voranschreitende bolschewistische Vermittlung des dialektischen Materialismus ein. Diese beschreibenden Analysen machen deutlich, wie ein intellektuelles Konzept in eine sowjetische Realität hineinwachsen konnte und zugleich das eigene Erleben als Differenz einsetzte. Obwohl Tillberg an einigen Stellen ihres Buchs diesen Ansatz selbst einschränkt,[5] bieten die gesellschaftliche Kontextualisierung und die historische Fundierung der Arbeit wichtige Anstöße für die internationale Farbforschung verschiedener Wissenschaftszweige. Die Studie lässt sich gut mit den Arbeiten einer - kleinen - russischen Forschungsgemeinde verbinden, die im Hintergrund großer Ausstellungen künstlerische Wahrnehmungskonzepte reflektiert haben.[6] Beinahe nebenbei erfährt man bei Tillberg Aufschlussreiches und Unbekanntes über andere Protagonisten des kulturellen Feldes der sowjetischen 1920er Jahre (den Kunsthistoriker Nikolaj Punin, die Künstlerin Elena Guro sowie die Mitarbeiterinnen Matjuschins, die Geschwister Boris und Maria Ender, sowie weitere Schülerinnen und Schüler). Das Buch beinhaltet einen Abdruck der von Maria Ender verfassten Einleitung des Atlas, eine chronometrische Wiedergabe der Farbtafeln sowie ein instruktives Begriffslexikon.
Tillbergs Buch steht in einer Reihe mit den angesprochenen amerikanischen, deutschen und russischen engagierten Auseinandersetzungen um die Funktionen und Funktionalisierungen des Sehens in der frühen Sowjetunion. Es trägt dazu bei, die sowjetischen Diskussionen um Visualität als hoch differenzierte Diskurse analysierbar zu machen, und stellt damit einen Quantensprung der kunstwissenschaftlichen Forschung dar. Es macht neugierig auf die Ergebnisse des neuen, am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin angesiedelten Forschungsprojekts von Margareta Tillberg - die Entwicklung des sowjetischen Designs in der Breshnev-Zeit in ihrer Verknüpfung mit der Kybernetik, der Wissenschaft von der Funktion und Steuerung von Systemen.
[1] Übersetzt wurde das Buch von D. Duchavina und M. Jarosch, die englische Originalfassung war in Stockholm erschienen: Tillberg, Margareta: Coloured Universe and the Russian Avant-Garde. Matiushin on Colour Vision in Stalin's Russia 1932. Stockholm University 2003.
[2] M. W. Matjuschin: Sakonomernost ismenjaemosti zwetowych sotschetanij. Sprawotschnik po zwetu [Gesetze der Veränderungen von Farbkombinationen. Farbenatlas]. Moskau/Leningrad 1932.
[3] Gough, Maria: The Artist as Producer: Russian Constructivism in Revolution. Berkeley 2005; Kiaer, Christina: Imagine No Possessions: The Socialist Objects of Russian Constructivism. Bloomington 2006.
[4] Vöhringer, Margarete: Avantgarde und Psychotechnik. Wissenschaft, Kunst und Technik der Wahrnehmungsexperimente in der frühen Sowjetunion. Göttingen 2007.
[5] So z. B. durch die partielle Anlehnung an das gängige, unhinterfragte Schema von ideologischer Anpassung und Abweichung. Im englischen Originaltitel wird diese Polarisierung noch zugespitzt, vgl. Anm. [1].
[6] Z. B. die Studien von Irina Karassik zum GINCHUK, Ausst.-Kat. Musej w Musee. Russkij awangard is kollekzii museja chudoshestwennoj kul'tury w sobranii Gosudarstwennogo Russkogo Museja. Sankt Petersburg 1998; Bobrinskaja, Ekaterina: Russkij awangard: Granizy iskusstwa. Moskau 2006.
Margareta Tillberg: Zwetnaja wselennaja: Michail Matjuschin ob iskusstwe i srenii, Moskau: Novoe literaturnoe obozrenie 2008
ISBN-13: 978-5-86793-600-6, 528 Seiten, 17 Abbildungen (davon 1 farbig), ca. 480 Rubel
Empfohlene Zitation:
Alexandra Köhring, Monika Wucher: [Rezension zu:] Margareta Tillberg: Zwetnaja wselennaja: Michail Matjuschin ob iskusstwe i srenii, Moskau 2008. In: ArtHist.net, 29.09.2009. Letzter Zugriff 10.05.2025. <https://arthist.net/reviews/31846>.
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