Der moderne Mensch ist mobil und die Motivationen dafür sind vielfältig: Tourismus und Migration, Forschungsexpedition und Künstlerreise kamen auf einer interdisziplinären Tagung des Centrum für Postcolonial und Gender Studies (CePoG) der Universität Trier zur Sprache. Kunstgeschichte und Ethnologie, Literatur- und Medienwissenschaften, Soziologie und Geografie gingen den „Topologien des Reisens“ nach. Der Tourismus sei weltweit der drittgrößte Dienstleistungssektor, hob Alexandra Karentzos hervor, die zusammen mit Alma-Elisa Kittner die Tagung organisiert hat. Zwischen einer affirmativen Tourismusforschung und einer weit verbreiteten Tourismuskritik wollte Karentzos eine differenzierte Sicht eröffnen und nannte als Leitfaden die Frage nach Utopie und Dystopie. Kittner bezeichnete den Tourismus, auf John Urry anspielend, als eine Form angewandter Bildpraxis und unterstrich so den Bezug zur Kunstgeschichte.
In der ersten von acht Sektionen arbeitete Andreas Ackermann das Konzept der Diaspora heraus, das mit Zerstreuung, aber auch mit einer symbolischen Heimat zu tun habe. Als Parallelgesellschaften stigmatisiert, kennzeichne Diaspora-Gemeinschaften wie die kurdische Minderheit der Yeziden eine starke Solidarität. Nicht ganz überzeugend versuchte Ramona Lenz am Beispiel einer serbischen Arbeitsmigrantin, die auf Touristenvisum reist, Grenzen zwischen Migration und Tourismus zu verwischen. Psychische Probleme von Deutschen, die in privilegierter Stellung in Afrika aufwuchsen, beschäftigen Jacqueline Knörr. Knörrs Fazit: Wer bereits in Afrika den Austausch mit seiner Umgebung pflegte, hat auch in Deutschland weniger Probleme.
In der zweiten Sektion ging es um den Nomadismusbegriff nach Deleuze/ Guattari: Diesem „metaphorischen Konzept“, so Birgit Haehnel, [1] stellte Iulia-Karin Patrut exkludierende Diskurse über „Zigeuner“ und Juden gegenüber. Gabriele Dürbeck behandelte die Weltreise Adalbert von Chamissos 1815-18 und dessen pazifisches Alter Ego, Kadu. Chamissos zwanzig Jahre später entstandenen Reisebericht bewertet sie allerdings eher als sentimentale Rückschau. Unter dem Stichwort Bohème resümierte Gertrude Cepl-Kaufmann die lebensreformerischen Bewegungen in Deutschland vom späten 19. Jahrhundert bis zum Beginn des Nationalsozialismus. Zwischen Friedrichshagen und dem Monte Verità bei Ascona, von Friedrich Nietzsche bis Hermann Hesse ließ sie ein bedeutendes Kapitel der Kulturgeschichte Revue passieren. Paula-Irene Villa stellte Rosi Braidottis geschlechtsspezifischen Nomadismusbegriff vor und fragte nach dem „Scharfblick der Ausgeschlossenen“ Bourdieus.
In der dritten Sektion über Kunst und Tourismus zeigte Nika Spalinger, wie in der Schweiz Kunst und Architektur gezielt für Tourismus werben. Peter Schneemann dekonstruierte das romantische Bild der Künstlerreise. „Die zeitgenössische Kunstszene ist eine Jetset-Szene“, konstatierte Schneemann anhand internationaler Stipendien von New York bis Namibia. Nicht anders als gewöhnliche Sterbliche, so auch Michael Zinganel, bedienten Künstler mit den Bildern ihrer Reisen die Erwartungen eines bestimmten Publikums: Hinter der Kritik am Tourismus stehe nur der Wunsch nach sozialer Differenzierung.
Die vierte Sektion nahm die heile Welt der Urlaubsparadiese in den Blick. Mit H. Claurens Roman „Mimili“ und dem Kinder-Klassiker „Heidi“ zeigte Ute Dettmar, wie die Literatur zuerst die Klischees produziert hat, die dann Millionen von Touristen veranlassten, die Alpenregion aufzusuchen. Peter Gendolla führte mit Thomas Mann, Wolfgang Koeppen und Rolf-Dieter Brinkmann das Ende der klassischen Bildungsreise vor Augen. Insbesondere bei Brinkmann ist Rom nur noch die Karikatur all jener Erwartungen, welche die Literatur seit Jahrhunderten aufgebaut hat. Christiane Holm beschäftigte sich mit Reisetagebüchern von Frauen. Die Problematik umcodierter Geschlechterrollen zeigt sich, wenn Isabelle Eberhardt abfällig über arabische Frauen spricht oder Else Buschheuer auf dem Cover der Buchausgabe ihres Weblogs in Feldherrenpose und Tarnfarben auftritt.
Die fünfte Sektion fiel insofern ein wenig aus dem Rahmen, als zwei der drei Beiträge dem Tourismus offenbar uneingeschränkt positiv gegenüber standen. Stefan Zimmermann referierte über Reisen zu Drehorten von Filmen.[2] Karlheinz Wöhler versuchte sich an einer Theorie des Virtuellen: Imaginäre Gegenwelten sieht der Tourismusforscher in der Lüneburger Heide ebenso wie in den australischen Aboriginees verkörpert. Ein bedeutendes Kapitel der Mediengeschichte hatte zuvor Ralph Hyde aufgeschlagen: Erst kürzlich ist das bisher einzige Exemplar jener Panoramen wieder aufgetaucht, die im England des 19. Jahrhunderts als multimediale Show mit Lichteffekten, Erzähler und einer Band Reisen in ferne Länder verbildlichten. Zwei Unternehmen beherrschten den Markt, ihre Programme fanden großen Anklang.
Die sechste Sektion behandelte Reisen in Maskerade. Die Trennung zwischen Person und Maske sei eine moderne Erscheinung, gab Nina Trauth zu bedenken: Im Barock zeigten Reisende wie Jean-Baptiste Tavernier, François de la Boullaye-le-Gouz oder der Jesuit Philippus Baldäus, die sich in orientalischer Tracht darstellen ließen, damit ihre Weltläufigkeit und fingierten zuweilen eine höhere soziale Stellung. Lady Mary Montagu brachte fremden Kulturen ein genuines Interesse entgegen, meint Patricia Plummer. Wenn Lady Mary, die 1716 in Istanbul weilte, annahm, der Schleier gäbe türkischen Frauen völlige Freiheit, so wirft dies auch ein Licht auf die Position von Frauen in der damaligen englischen Gesellschaft. Ihr Sohn Edward Wortley wurde zu einer zwielichtigen Figur zwischen den Kulturen: Er sprach fließend arabisch, trat in türkischer Kleidung auf, machte aber auch durch Skandale auf sich aufmerksam.
In der siebten Sektion über Expeditionen präsentierten Ulrike Bergermann und Ute Holl die emblematische Figur des Forschungsreisenden Francis Galton, der 1853 ein Handbuch für Reisen in unbekannte Regionen des Globus herausgab. Der Vetter Darwins und Erfinder der Eugenik war von dem Gedanken besessen, buchstäblich alles vermessen zu wollen. Darin sehen Bergermann und Holl ein Remedium gegen den Schwindel, der Galton in der Fremde befiel, zugleich eine Maschinerie zur Produktion kolonialen Wissens. Erhard Schüttpelz und Anja Dreschke stellten die komplementären Filme „Les maîtres fous“ und „Der Jaguar“ von Jean Rouch vor: Die dokufiktionale Perspektive, so Schüttpelz, brachte erstmals die Ansichten der Dargestellten zu Gehör. Dreschke unterstrich Rouchs kaum zu überschätzende Bedeutung für die Film-, Theater-, Kunst- und Mediengeschichte der sechziger Jahre. Abschließend erinnerte Dietmar Rübel an den niederländischen Künstler Jan Bas Ader, der 1975 eine Atlantikexpedition im Einmann-Segelboot nicht überlebte und damit einen Mythos zu vollenden schien, der in seinem künstlerischen Werk bereits angelegt war.
Noch einmal interessant wurde es in der letzten Sektion zum Bedeutungswandel von Objekten: Unter dem Titel „Migration der Formen“ wird dieses Thema derzeit auch auf der Documenta diskutiert.[3] Gabriele Genge beschäftigte sich mit afrikanischen Artefakten: Ursprünglich als Repräsentanten des Anderen gesammelt, würden diese heute häufig unter dem Blickwinkel einer vermeintlich universalen Ästhetik betrachtet. Dabei könnten sie viel eher etwas über die koloniale Geschichte aussagen, wie Genge an Arbeiten von Yinka Shonibare, Georges Adéagbo und Romouald Hazoumé nachwies. Abschließend präsentierte Jens Baumann Objekte aus Indien und China im barocken Brasilien: Elfenbeinerne Christusfigürchen in der Ikonografie des guten Hirten und doch fast wie ein sitzender Buddha; chinesische Löwen an der Außenmauer eines Franziskanerkonvents; Lackmalerei am Triumphbogen einer Kapelle in Minas Gerais. Diese „Ausweitung und Öffnung der Möglichkeiten der Wahrnehmung“ stellte Baumgarten in den Kontext des weltumspannenden portugiesischen Kolonialreichs, in dem Beamte von Goa oder Macau nach Brasilien versetzt wurden.
Reisen ist ein universales Thema. Menschen sind immer gereist, und es gibt Formen des Reisens, die auf der Tagung nicht zur Sprache kamen: Die Geschäftsreise zum Beispiel, ohne die es eine Globalisierung nicht gäbe. Oder auch Wanderschaft, Kreuzzüge, Pilgerfahrten: Galt nicht bereits im Mittelalter die Reise als Metapher des Lebens schlechthin? In der Abschlussdiskussion regte Hasso Spode denn auch an, im Falle einer Fortsetzung des Projekts nicht nach Topologien, sondern nach Typologien des Reisens zu fragen: „Welche Arten des Reisens gibt es?“
Umgekehrt wurde der Fokus auf Perspektiven der Gender und Postcolonial Studies nicht immer deutlich. Zwei Bemerkungen Gudula Mayrs, die für 2008 eine Ausstellung zu Künstlerreisen im Westfälischen Landesmuseum in Münster vorbereitet, verdienen insofern Interesse. Ad eins: Bei den Künstlern handle es sich zumeist um privilegierte Reisende. Die kreative Leistung nicht-westlicher Künstler, die im westlichen Kontext Anschluss zu finden suchten, gerate oft nicht genügend ins Blickfeld. Zweitens kam Mayr auf die Dichotomie von Utopie und Dystopie zurück: „Was nicht ins utopische Bild passt, wird in den allermeisten Fällen in Texte ausgelagert.“ Wie sich mit Paul Gauguin belegen ließe, der in Texten wie „Noa Noa“ die „schmutzige Wahrheit“ der kolonialen Realität scharfsichtig analysiert, in seiner Malerei jedoch kaum ein Klischee paradiesischer Inselwelten auslässt.
Anmerkungen:
[1] Vgl. auch: Birgit Haehnel, Regelwerk und Umgestaltung. Nomadistische Denkweisen in der Kunstwahrnehmung nach 1945, Berlin 2006.
[2] Parallele Erscheinungen des Reenactment in der Kunst thematisiert die Ausstellung: „History Will Not Repeat Itself“, Hartware MedienKunstVerein, Phoenixhalle, Dortmund-Hörde, 9.6. – 23.9. 2007.
[3] Podiumsdiskussionen Documenta 12/ Kunsthochschule Kassel, 13./14.7. 2007.
Empfohlene Zitation:
Dietrich Heißenbüttel: [Tagungsbericht zu:] Topologien des Reisens (Centrum für Postcolonial und Gender Studies (CePoG), Universität Trier, 01.–03.06.2007). In: ArtHist.net, 16.07.2007. Letzter Zugriff 30.12.2024. <https://arthist.net/reviews/315>.
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