REV 15.10.2007

Bernd Nicolai: Gotik

Rezensiert von Steffen Krämer
Redaktion: Philipp Zitzlsperger

Seit nunmehr zehn Jahren veröffentlichen renommierte deutsche Fachverlage mehrbändige Reihen zu den einzelnen Epochen der europäischen oder deutschen Kunst. Den Höhepunkt, zumindest was den quantitativen Umfang betrifft, stellt die vom Reclam-Verlag mit wechselnden Autoren ab 2002 publizierte Reihe über die verschiedenen ,Kunst-Epochen‘ dar. Schließlich handelt es sich hierbei um insgesamt zwölf Bände über das europäische, teilweise sogar internationale Kunstgeschehen seit der frühchristlichen Zeit bis in die Gegenwart.

Der von Bernd Nicolai unter Mitarbeit von Andreas Waschbüsch und Markus Thome verfasste vierte Band der ,Kunst-Epochen‘ über die Gotik ist nun erschienen. Auf knapp 400 Seiten soll dieser Band den Leser über die verschiedenen Gattungen der Bildenden Kunst in einem Zeitraum von 400 Jahren - von 1150 bis 1550 - informieren. Lediglich 53 kleinformatige Schwarzweiß-Abbildungen dienen als Illustrationen zu den etwa 90 Werkbeispielen, die das Kunstschaffen in Europa zur Zeit der Gotik dokumentieren sollen. Um diese verschiedenen Kunstwerke besser einordnen zu können, sind den zwei Werkkatalogen zur Früh- bzw. Hochgotik und zur Spätgotik Einführungen in die historischen wie künstlerischen Voraussetzungen, Entwicklungen und Rahmenbedingungen vorangestellt. Zudem bietet die Einleitung einen allgemeinen Überblick über die Etymologie des Begriffs ,Gotik‘, über die Forschungsgeschichte seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts und über den kultur- wie kunsthistorischen Kontext dieser mittelalterlichen Epoche.

Bereits in dieser Einleitung wird die Fähigkeit von Bernd Nicolai offenkundig, etablierte Forschungsmeinungen in sprachlich prägnanter Form kritisch zu hinterfragen. So bezweifelt er etwa die von Erwin Panofsky und Otto von Simson in die wissenschaftliche Diskussion eingebrachte Leitvorstellung, Abt Suger von St.-Denis habe die Schriften des hl. Dionysios Areopagita und dessen propagierte Lichtmystik als gestaltgebendes Element bei der Errichtung des ersten Kirchenbaus der Gotik verarbeitet (S. 19f.). Der Verweis auf die neueste Forschungsliteratur und eine sorgfältige Erörterung dieses Themenbereichs im Rahmen der Werkbeispiele untermauern seine Kritik (S. 109-112). Auf ähnliche Weise werden nun im gesamten Text auch andere traditionelle Lehrmeinungen und wissenschaftliche Termini in Frage gestellt, wie etwa die Begriffe der ,Königskathedrale‘, des ,Übergangsstils‘, oder der ,Reduktionsgotik‘. Hierin zeigt sich Nicolais fundierte und außerordentlich weit gefächerte Kenntnis des wissenschaftlichen Gegenstandes, die sich allerdings nicht nur darin äußert, berechtigte Zweifel an überlieferten Forschungsmeinungen zu artikulieren. Vielmehr verweist er auf andere, teilweise neuartige Erklärungsansätze, so zum Beispiel auf den hohen Stellenwert der mittelalterlichen Kunstzentren und herrschaftlichen Höfe, die Rolle der Stifter mit ihrer im Stiftungsgedächtnis verankerten Memoria oder die Bedeutung der höfischen Mode als „international wirkkräftiges Kunstideal“ (S. 23).

In der Einleitung eher summarisch dargelegt ist jedoch die Forschungsgeschichte zur Gotik, zumal sich Nicolai auch im weiteren Textverlauf lediglich mit der deutschsprachigen Fachliteratur genauer beschäftigt. Schon ein kurzer Blick in Paul Frankls berühmtes Handbuch über die literarischen Quellen zur Gotik zeigt indes, dass hierbei auch die französische und englische Forschungsgeschichte berücksichtigt werden muss [1]. Schließlich war es nicht der von Nicolai erwähnte deutsche Autor Franz Mertens, der erstmals 1835 auf den französischen Ursprung der Gotik verwies (S. 11), sondern vielmehr der Engländer George Whittington, der diese wissenschaftliche Behauptung bereits 1809 aufgestellt hatte [2]. Überhaupt zeigen sich in der Einleitung mitunter erstaunliche Graduationen in der Auswahl und Bedeutung einzelner Themenbereiche: So wird die Betonung der sinnlichen Erfahrung in der gotischen Kunst umfassend dargelegt, während der in der gesamten gotischen Epoche europaweit auftretende Antikenbezug nur mehr eine kurze Erwähnung findet. Hier hätte man durchaus anders gewichten können.

Der Hauptteil besteht aus zwei Einführungen zur Früh-, Hoch- und Spätgotik, untergliedert nach den einzelnen, für die künstlerische Entwicklung wichtigen europäischen Ländern. Ebenso prägnant wie instruktiv sind die Darstellungen der historisch-politischen Rahmenbedingungen, ohne deren Kenntnis der Leser die nationalen Ausprägungen der gotischen Kunst sicherlich nicht verstehen würde. Bernd Nicolai ist sich sehr wohl bewusst, dass kulturelle wie gesellschaftliche Konditionen in vielerlei Hinsicht auf ein mittelalterliches Kunstwerk eingewirkt haben können, und so schildert er die jeweils unterschiedlichen politischen Hintergründe selbst bei den einzelnen Werkbeispielen: Die historische Bedeutung des gewaltsamen Todes von Erzbischof Thomas Becket für den Chorneubau in Canterbury (S. 155f.) wird dadurch ebenso verständlich wie die politische Dimension des lokalen Heiligenkultes, der sich im Neubau der Marburger Elisabethkirche manifestierte (S. 184f.).

Auch werden in diesen beiden Einführungen berühmte wissenschaftliche Erklärungsansätze zur gotischen Kunst genannt und zumindest kurz erörtert. Auf Hans Sedlmayrs These, die gotische Kathedrale als Abbild des Himmlischen Jerusalems zu deuten (S. 33f.), folgt dementsprechend Hans Jantzens Leitidee der ,diaphanen Struktur' (S. 39). Martin Warnkes Begriff des ,Anspruchsniveaus', mit dem der historisch bedeutsame Wettbewerb zwischen einzelnen mittelalterlichen Bauvorhaben erläutert werden kann, ist demgegenüber nicht explizit erläutert worden [3]. Dies ist zweifellos ein klares Manko, verweist doch Nicolai in vielen Fällen ausdrücklich auf das ausgeprägte Rivalitätsverhalten zwischen einzelnen Bauträgern in der gotischen Epoche: so zum Bespiel die immer wiederkehrende Konkurrenz zwischen den beiden Hauptkirchen in Nürnberg, St. Sebald und St. Lorenz (S. 333). Überhaupt sind in den Einführungen einige ungenaue, teilweise sogar fehlerhafte Aussagen zu finden: So spricht Nicolai in Bezug auf die sechsteilige Gewölbefiguration frühgotischer Kathedralen in Frankreich vom ,gebundenen System' (S. 43), das sich aber als wissenschaftlicher Fachbegriff eindeutig auf die Wölbungssystematik romanischer Sakralbauten bezieht. Ebenso irreführend ist seine Aussage, die Gotik des französischen Kronlandes stelle eine Synthese aus der normannisch-englischen Rippenwölbungstechnik und dem burgundischen Umgangschorsystem cluniazensischer Prägung dar (S. 38f.). Englische Rippenwölbungen vom Anfang des 12. Jahrhunderts, wie in der Kathedrale von Durham, sind für die frühgotische Baukunst in Frankreich sicherlich nicht ausschlaggebend gewesen, und der Typus des Umgangschores findet sich nicht nur in Burgund, sondern auch in anderen Kunstlandschaften der französischen Romanik. Eine wissenschaftlich exaktere Diktion wäre in den Einführungen demnach sinnvoll gewesen.

Bei den nun folgenden Werkbeispielen legt Nicolai in der Regel größeren Wert auf Datierungsfragen, Herleitungsvorschläge und stilistische Bezugssysteme, als auf deren formale Analyse. Berücksichtigt man, dass nur 53 Abbildungen als Textillustrationen zur Verfügung stehen, dann wirkt sich dieser Mangel an deskriptiver Bewertung auf das Verständnis des Lesers eher nachteilig aus. Mustergültig hierfür steht die Untersuchung des Neubaus der Abteikirche von St.-Denis: Nach der nur knapp drei Seiten umfassenden Erörterung kann der Leser wohl kaum nachvollziehen, was an diesem „Initialpunkt gotischer Architektur“ (S. 109) baukünstlerisch so überaus innovativ ist. Die wiederholten Verweise auf den architektonischen Altbestand in St.-Denis, auf den das Konzept des Neubaus sorgfältig Rücksicht nahm, sind durchaus von wissenschaftlichem Interesse, doch hätte man diesbezüglich eher auf die neuere Forschungsliteratur verweisen sollen [4].

Überdies fällt bei der Zusammenstellung der Werkbeispiele auf, dass ein nicht geringer Teil der Baudenkmäler aufgrund ihrer künstlerisch hochwertigen Ausstattungen und nicht wegen ihrer architektonischen Besonderheiten ausgewählt wurde. Und schließlich sollte man sich grundsätzlich fragen, ob bei einer solch reduzierten Auswahl von nur etwa 90 europäischen Werkbeispielen gleich drei hochgotische Zisterzienserchöre oder mehrere deutsche Schnitzretabel des 14. Jahrhunderts untersucht werden müssen. Hier hätte man die Liste der Werkbeispiele nochmals genauer überprüfen sollen.

Zweifelsohne ist es ein gewagtes Unternehmen, auf knapp 400 Seiten und ohne das übliche Repertoire großformatiger Abbildungen eine derart facettenreiche und über vier Jahrhunderte andauernde Kunstepoche wie die europäische Gotik vorzustellen. Doch resultiert dieses Risiko primär aus der besonderen Form der Veröffentlichung als Bestandteil einer mehrbändigen Kunstbuchreihe. Und so kann man Bernd Nicolais handliches Taschenbuch zur Gotik trotz der genannten Einwände als das bezeichnen, was der Reclam-Verlag in Bezug auf die Reihe der ,Kunst-Epochen' offiziell verlautbaren lässt: als „einen fundierten Einstieg in die Kunstgeschichte“ [5].

[1] Paul Frankl: The Gothic. Literary Sources and Interpretations through Eight Centuries, Princeton/New Jersey 1960
[2] George Whittington: An Historical Survey of the Ecclesiastical Antiquities of France [.], London 1809, S. 46, 49, 153.
[3] Martin Warnke: Bau und Überbau. Soziologie der mittelalterlichen Architektur nach den Schriftquellen, Frankfurt/M. 1984, S. 13-27 (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 468)
[4] Stephan Albrecht: Die Inszenierung der Vergangenheit im Mittelalter. Die Klöster von Glastonbury und Saint-Denis, München/Berlin 2003
[5] Reclam Verlag: Internetprogramm: Kunst-Epochen, S. 1

Nicolai, Bernd: Gotik, Stuttgart: Reclam 2018
ISBN-13: 978-3-15-018171-3, 397 S. 53 Abb., € 9,00

Empfohlene Zitation:
Steffen Krämer: [Rezension zu:] Nicolai, Bernd: Gotik, Stuttgart 2018. In: ArtHist.net, 15.10.2007. Letzter Zugriff 27.04.2024. <https://arthist.net/reviews/29710>.

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