REV 03.09.2007

Barbara Lange (Hrsg.): Vom Expressionismus bis heute

Rezensiert von Christoph Otterbeck
Redaktion: Philipp Zitzlsperger

Der Prestel-Verlag hat sich an eine umfangreiche Editionsarbeit gemacht und wagt eine achtbändige „Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland“. Alle Bände werden von Lehrstuhlinhabern der deutschsprachigen Universitätskunstgeschichte herausgegeben und beteiligen eine Vielzahl weiterer Autorinnen und Autoren. Das erklärte Ziel besteht in einer umfassenden Darstellung der Kunstgeschichte in Deutschland auf dem heutigen Forschungsstand. Bisher liegen drei Bände vor, unter anderem der achte Band mit dem Titel „Vom Expressionismus bis heute“, verantwortet von Barbara Lange, Professorin an der Universität Tübingen.

Auf den ersten Blick unterliegen die einzelnen Bände einem gemeinsamen Schema: auf eine Einleitung durch den Herausgeber folgt ein umfangreicher Tafelteil mit großzügigen, seitenfüllenden Farbreproduktionen. Es schließen sich Textbeiträge zu einzelnen Themen und diesen zugeordnet die Kommentartexte zu den herausgehobenen und katalogisierend durchnummerierten Hauptwerken des behandelten Zeitabschnitts an. Blickt man etwas genauer hin, so organisieren die einzelnen Herausgeber die Präsentation der Kunst und ihre Erläuterung doch recht unterschiedlich.

Barbara Lange und ihre Mitarbeiterinnen wählten 172 Werke und lassen sie vor dem Leser, der dem Buch Seite für Seite folgt, wie ein Zeitband abrollen, in einer weitgehend chronologischen Ordnung, aber gattungsübergreifend. So folgt beispielsweise auf eine Fotografie von Albert Renger-Patzsch die Reproduktion eines handgeschriebenen Gedichts von Else Lasker-Schüler nebst zugehöriger Farblithographie. Später im Tafelteil steht die Abbildung eines Verwaltungshochhauses von Paul Schneider-Esleben neben der Wiedergabe des Gemäldes „The Meeting“ von Richard Lindner. Die großen Bildseiten laden zur eingehenden Betrachtung ein. Die Bereiche Architektur, Skulptur, Malerei, Zeichnung und Druckgraphik sowie Kunsthandwerk sind im Bildteil ineinander verwoben, und werden nicht, wie beispielsweise im Band „Klassik und Romantik“, nacheinander dargestellt. Zudem kommen im zwanzigsten Jahrhundert neben den traditionellen Feldern der bildenden Kunst neue Erscheinungsformen hinzu wie Rauminstallationen, Aktionen oder elektronische Kunst. Auf den aufgeschlagenen Doppelseiten entstehen reizvolle und zu Vergleichen ermunternde Zusammenstellungen. Die Kombinationen können assoziativ wirksam werden, das aber bleibt unkommentiert und somit ganz Sache der Benutzerinnen und Benutzer. Dieser Tafelteil des Buches soll wohl zunächst zum aufmerksamen Schauen anregen, denn die hier wiedergegebenen Kunstwerke sind nur mit einer sehr knappen Legende ausgestattet. Schon an dieser Stelle wären wenige zusätzliche Angaben hilfreich, beispielsweise die Maße und Standorte der Gemälde betreffend. Leider führt auch kein Verweis aus dem prominent inszenierten Bildteil zu den Kommentaren, die sich im zweiten Teil des Buches finden und dort in einer anderen Ordnung als im Bildteil stehen. Sie sind daher schwer auffindbar und es hilft wirklich nur Blättern. Vielleicht ließe sich diese Schwäche bei den kommenden Bänden der Reihe noch vermeiden, indem an die Nennung der Katalognummer im Bildteil die Zahl der Seite angehängt wird, auf welcher der zugehörige Kommentar zu finden ist.

Um das ausgebreitete Material zu interpretieren, wird es im Folgenden neu sortiert und der Bestand um mehr als dreihundert weitere, schwarz-weiß wiedergegebene Werke erweitert. Teilweise kommt nun doch die alte Gattungslogik zum Zuge: Architektur, Design und Kunsthandwerk, Fotografie, Elektronische Kunst werden jeweils einzeln abgehandelt. Die Bereiche Malerei, Bildhauerkunst, Graphik und Performances bespricht Barbara Lange gemeinsam unter dem Thema „Konzepte von Bild und Raum“. Die zweite Hälfte der aufsatzartigen Texte widmet sich Themen, die das Verhältnis von Kunst und Politik betreffen. Schon bei der Nennung einiger Titel wird deutlich, wie wichtig das Abhängigkeitsverhältnis von Kunst und Politik war und ist, nicht nur im Hinblick auf die Produktion der Kunst, sondern auch in Perspektive auf Rezeption und Interpretation. Es geht in den einzelnen Texten unter anderem um „Kunst und visuelle Kultur als Mittel staatlicher Selbstdarstellung“, „Künstler als Reformer und Kritiker“, „Feministische Interventionen in der Kunst und im Kunstbetrieb“, „Kunst und Judentum“, „Emigration und Exil“, „Opposition in der DDR“. Das übergeordnete Thema des Bandes betrifft dem Titel entsprechend die bildende Kunst in Deutschland. Vor einhundert Jahren bemühte man sich bei entsprechender Fragestellung noch darum, für die „eigene“ Kunst einen Nationalcharakter zu definieren und von anderen abzugrenzen. Im Rückblick wissen wir, wie verhängnisvoll die auch von Kunstschaffenden und Kunsthistorikern vorgebrachten Argumente zu einem übersteigerten Nationalismus beitrugen, der im Nationalsozialismus zu einer brutalen und zerstörerischen Wirklichkeit wurde. Einen Ausweg aus den Trümmerfeldern suchten viele Künstler und Künstlerinnen nach dem Krieg im Schulterschluss mit Kollegen jenseits der Grenzen. Im Westen wurden Paris und New York vorbildlich, im Osten kamen die Konzepte aus Moskau, soweit das landläufige und dringend der Differenzierung bedürftige Bild. Der vorliegende Band zeigt nun, dass dieses einfache Geschichtsmodell nicht ausreicht, die komplexen Verhandlungen des Kunstbegriffs nachzuvollziehen. So gab es im Westen gegen Ende der fünfziger Jahre genauso wenig nur ungegenständliche Leinwandmalerei, wie es im Osten nicht nur staatskonformen sozialistischen Realismus gab. Es werden die Brennpunkte der Kunstgeschichte in den sechs verschiedenen deutschen Staaten des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart vorgeführt, die Phasen der Öffnung für Anregungen und Gäste aus dem Ausland, des Austauschs und des Reisens, genauso wie die Zeiten der Abschließung und der Funktionalisierung der Kunst.

Insgesamt handelt es sich bei „Vom Expressionismus bis heute“ nicht um die Erzählung der Kunstgeschichte auf herkömmliche Art, also weder um eine Geschichte der großen Künstlerpersönlichkeiten noch um das Aufsagen einer Stilgeschichte. Konsequenterweise erscheinen Bereiche, die im Ausstellungsbetrieb und den öffentlichen Kunstsammlungen größten Raum bekamen und auch noch bekommen, plötzlich ziemlich klein, der Expressionismus beispielsweise oder die ungegenständliche Malerei, also die beiden großen, ehemals nahezu „heroisch“ kommentierten Felder der Kunst. Hier wird also der längst vollzogene Generationswechsel in der Kunstforschung einem breiteren Publikum angeboten.

Eine strenge Regel verordnete sich die Herausgeberin, um dann in einigen Ausnahmefällen dagegen zu verstoßen: jeder und jede Kunstschaffende sollte nur mit einem Werk im Katalogteil präsent sein. Die Ausnahmen mit zwei Beispielen sind ein paar Architekten, dreimal erscheint Joseph Beuys und an der Spitze steht unvermutet Albert Speer mit vier Werken. Dass ausgerechnet der berühmt-berüchtigte Vorzeigearchitekt des Nationalsozialismus nun gemessen an der Zahl der in dieses Buch aufgenommenen Beispiele als Künstler mit dem größten Werk dasteht, mutet doch etwas merkwürdig an. Vielleicht ist es aber auch nur eine deutliche Markierung eines kollektiven Traumas, das in vielen Textbeiträgen angesprochen wird. Auch in der Einleitung heißt es: „Das Trauma des Nationalsozialismus bestimmte und bestimmt auch die Themen und den Kanon der Kunstgeschichte in Bezug auf Forschungsarbeiten, Sammlungs- und Ausstellungspraxis.“

Ein Vergleich mit den beiden weiteren abgeschlossenen Bänden der „Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland“ zeigt, dass Barbara Lange sich mit 172 Nummern für einen viel kleineren Kernbestand an Werken entschieden hat als ihre bisherigen Kollegen. Der Band „Klassik und Romantik“ verzeichnet 535 Katalognummern, die „Gotik“ wird anhand von 309 Beispielen erläutert. Dieser Zahlenvergleich gibt weniger über den Umfang der Bände Aufschluss - denn in jedem Falle kommen weitere Abbildungen hinzu und das Verhältnis der Gesamtabbildungszahl ist weit ausgewogener -, als dass er eine methodische Entscheidung illustriert. Die diskursive Durchdringung des künstlerischen Materials ist Lange offensichtlich wichtiger als die Breite der Präsentation. Bei der konkreten Auswahl wird selbstverständlich jede und jeder etwas vermissen und sich über die Aufnahme anderer Werke wundern. Welche Standardbeispiele könnten vermisst werden? Es gibt beispielsweise nichts von Richard Oelze, auch nicht sein berühmtes Gemälde „Erwartung“, das sich seit langem in New York befindet. Von Schlemmer wurde nicht das sonst gern gezeigte Bild „Bauhaustreppe“ gewählt (ebenfalls Museum of Modern Art), sondern eine Graphik zum „Triadischen Ballett“. Das soll und kann kein Vorwurf sein und ergibt sich im letztgenannten Fall wohl aus der Entscheidung, die Öffnung der Bildenden Kunst im 20. Jahrhundert vorzuführen, also neben den Ölbildern auch auf Experimente auf der Bühne hinzuweisen. Letztlich ist die Frage wenig fruchtbar, was alles fehlt oder zu fehlen scheint und ob dieses Buch einen brauchbaren Kanon, eine gültige Richtschnur für die Kunst des 20. Jahrhunderts in Deutschland abgeben könnte. Tatsächlich wurde der Band ja von Kunsthistorikerinnen und Kunsthistorikern erarbeitet, welche die Kanonbildungsprozesse intensiv beobachtet und mit Nachdruck kritisiert haben. Nun vor die Aufgabe gestellt, selbst einen gedruckten Korpus vorzulegen, begann eine sicher nicht leichte Zeit. Die unvermeidbaren Mechanismen des gleichzeitigen Ein- und Ausschließens sowie der Hierarchisierung mussten wohl oder übel geübt und möglichst schmerzarm angewandt werden. Fast entschuldigend wirkt die vorgebrachte Versicherung, dass der Band von den Benutzern im Geiste zu erweitern sei. Es finden sich schließlich auch keine Elemente, die einen Gebrauch als Richtschnur erst ermöglichen würden: keine Listen, keine Übersicht der behandelten Künstlerinnen und Künstler, keine Kurzbiographien.

Im Ganzen ist auch der achte Band der „Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland“ nicht Teil des „ersten vollständigen Nachschlagewerks zur deutschen Kunstgeschichte“, wie die Verlagswerbung vollmundig behauptet. Es handelt sich um eine gute, problemorientierte Einführung in die Kunst des zwanzigsten Jahrhunderts, in der man zu einer stattlichen Zahl an Werkbeispielen erste Informationen erhält. Mehr kann ein solcher Band auch kaum leisten. Die Stärken des Buches liegen dort, wo man vom Versuch der Präsentation eines Kanon abrückt und eine Sensibilisierung von Fragestellungen anregt. Hierbei bieten die zahlreichen Aufsätze eine gute Ausgangsbasis.

Lange, Barbara (Hrsg.): Vom Expressionismus bis heute, München: Prestel Verlag 2007
ISBN-13: 978-3-7913-3125-6, 639 S., 540 Abbildungen, davon 160 in Farbe, € 140,00

Empfohlene Zitation:
Christoph Otterbeck: [Rezension zu:] Lange, Barbara (Hrsg.): Vom Expressionismus bis heute, München 2007. In: ArtHist.net, 03.09.2007. Letzter Zugriff 30.06.2024. <https://arthist.net/reviews/29610>.

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