REV 20.03.2012

Albert Châtelet: Hubert et Jan Van Eyck

Rezensiert von Volker Herzner, Karlsruhe
Redaktion: Philipp Zitzlsperger
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Warum dieser Titel, der beiden Künstlern gleichsam eine Aura sakraler Unantastbarkeit verleiht? Weil deren Autorschaft am Genter Altar tatsächlich von vornherein als erhaben über jede kritische Nachfrage erscheinen soll. Dabei geht es als Problem nur um die Rolle Hubert van Eycks, denn ein Anteil Jan van Eycks wurde niemals in Frage gestellt. Gleich auf der ersten Seite seines Buches macht Albert Châtelet deutlich, worauf es ihm ankommt, denn hier verkündet er den Bannfluch gegen diejenigen Autoren, die es gewagt haben, die Mitwirkung Huberts am Genter Altar in Frage zu stellen: „D’autres encore (Émile Renders, Volker Herzner) ne voudraient voir en lui [Hubert van Eyck] qu’un ‚personnage de légende‘. Cette position peut être satisfaisante pour l’esprit et l’œil en faisant disparaître les problèmes. Elle fait fi des témoignages historiques, en s’appuyant sur une critique superficielle et arbitraire des témoignages“ (7). Mit den „témoignages historiques“, die nach Ansicht Châtelets von den beiden Autoren[1] als Unflat behandelt würden, ist die berühmte Inschrift des Genter Altars gemeint, die Hubert als den Hauptmeister des Altares rühmt, Jan dagegen nur als dessen Vollender nennt, danach den Auftraggeber Joos Vijd anführt und als Vollendungsdatum den 6. Mai 1432 angibt. Der notwendigen Diskussion um ein bedeutsames Problem geht Châtelet jedoch aus dem Weg, er glaubt vielmehr, mit seiner vernichtenden Aburteilung jede weitere Diskussion als überflüssig, willkürlich und unwissenschaftlich verhindern zu können.

Dabei müßte es eigentlich jedem Historiker, der auch nur ein wenig mit dem sozialen Status der Künstler im Mittelalter vertraut ist, sofort in die Augen springen, dass eine Inschrift, die an erster Stelle die Künstler rühmt und danach erst den Auftraggeber nennt, in eklatanter Weise der unabdingbaren sozialen Hierarchie des Mittelalters widerspricht und deshalb nicht authentisch sein kann. Außerdem steht eine Altarstiftung wie die des Genter Altars selbstredend im Dienste des Seelenheils des Auftraggebers; die Inschrift des Altars bringt jedoch ein völlig anderes Anliegen zum Ausdruck, denn in ihr wird statt dessen der Betrachter mit den Schlußworten aufgefordert, „das Werk zu beschützen“ („acta tueri“). Allein diese Aufforderung würde genügen, die Inschrift als nachmittelalterlich zu erweisen. Höchstwahrscheinlich wurde sie erst nach dem Bildersturm angebracht, als man jeden Anlaß hatte, unter Berufung auf den Kunst-Wert des Altares das Werk dem Schutz der Betrachter anzuempfehlen. Alle erwähnten Merkwürdigkeiten scheint Châtelet jedoch als völlig üblich in einer Inschrift des frühen 15. Jahrhunderts anzusehen. Ihm gibt nicht einmal zu denken, dass keiner der frühen Besucher des Genter Altars – weder Hieronymus Münzer 1495, noch Antonio de Beatis 1517 oder Dürer 1521 – Kenntnis von den Informationen gehabt hat, die der Inschrift zu entnehmen sind.

Die fragliche Inschrift gibt, wie gesagt, 1432 als das Vollendungsjahr des Genter Altars an. Auch dieses Datum steht im Widerspruch zum tatsächlichen Vollendungszeitpunkt des Altars, der seit langer Zeit bekannt ist, aber gern ignoriert wird. Am 13. Mai 1435 stifteten die Auftraggeber des Altares, Joos Vijd und Elisabeth Borluut, die Zelebrierung täglicher Messen „in der Kapelle und an dem Altar, die sie mit ihren Mitteln in der genannten Kirche [St. Johannes] neu errichtet haben“. Da die Auftraggeber bereits sehr alt und krank waren, aber unermeßlich reich und kinderlos, ist unzweifelhaft, dass sie diese Meßstiftung zu dem aus ihrer Sicht frühesten sinnvollen Zeitpunkt durchgeführt haben; das heißt, der Altar dürfte zu diesem Zeitpunkt soeben vollendet worden sein, oder aber seine Vollendung stand unmittelbar bevor.

Wenn der Genter Altar aber erst 1435 fertiggestellt wurde, fragt es sich, ob Hubert van Eyck tatsächlich noch Gelegenheit gehabt hätte, wesentliche Teile auszuführen; dann hätten die Arbeiten lange vor dessen Tod im September 1426 beginnen müssen. Ein eindeutiges Argument gegen eine derartige Möglichkeit ergibt sich aus dem Umstand, dass die Cumäische Sibylle auf der Außenseite des Genter Altars die Züge der Isabella von Portugal, der dritten Gemahlin Philippe le Bons, aufweist, die Jan van Eyck erst im Januar 1429 in Portugal porträtiert hat. Soll man vielleicht annehmen, dass Hubert den Platz für diese Sibylle freigelassen hätte, damit Jan in späteren Jahren das Porträt der Isabella einfügen konnte? Dieses Porträt führt vielmehr zu dem Schluss, dass der Altar überhaupt erst nach der Rückkehr Jans von der Portugalreise begonnen wurde, also frühestens Anfang 1430. Châtelet bildet sowohl die überlieferte Replik des Porträts als auch die Cumäische Sibylle ab (Abb. S. 80 und S. 116), geht auf den eigentlich unübersehbaren Zusammenhang aber mit keinem Wort ein.

Wenn der Altar aber erst in den Jahren zwischen 1430 und 1435 entstand, gibt es keine Möglichkeit, Hubert mit ihm in Verbindung zu bringen. Darin liegt die eigentliche Bedeutung des Nachweises der gefälschten Inschrift. Es kann somit auch keine Grundlage für sonstige Attributionen an Hubert geben, denn diese ließen sich einzig und allein über dessen mögliche Anteile am Altar gewinnen. Insofern ist die Abwehrhaltung Châtelets gut verständlich, denn er möchte Hubert mit einem ansehnlichen Oeuvre bedenken. Doch dazu später.

Châtelet verweigert aber nicht nur jede Diskussion; noch erstaunlicher ist, dass er, um unbeirrt an der Authentizität der Inschrift festhalten zu können, höchst willkürlich mit allen sonstigen historischen Zeugnissen über den Genter Altar umgeht, von denen es eine ganze Reihe gibt. So versucht Châtelet zum Beispiel, die erwähnte Meßstiftung vom 13. Mai 1435 als ein unwiderlegliches Argument gegen das Datum 1432 der Altarinschrift aus dem Weg zu räumen, indem er kühn behauptet, dass der Eyckische Altar für die Vijd-Kapelle viel zu groß wäre und daher gar nicht für sie bestimmt gewesen sei („‘Le Retable de l’Agneau mystique’ n’a donc pas été fait pour la chapelle édifiée par Joos Vijd“; S. 66, 86, 264). Der Altar mit den monumentalen Stifterbildern des Joos Vijd und der Elisabeth Borluut und die Meßstiftung des Ehepaares für ihre Kapelle hätten also gar nichts miteinander zu tun! Da darf man sich schon wundern. Aus gutem Grund ist bisher noch niemand auf diese Idee gekommen.

Am 6. Mai 1432 – dem Vollendungsdatum laut Inschrift – sei der Altar nur provisorisch, vielleicht sogar „démonté“, in Jan van Eycks Brügger Haus präsentiert worden (85, 25). Später sei das Retabel dann im geräumigen Südquerhaus der Genter Johanneskirche aufgestellt gewesen (66). Für seine Kapelle hätte Joos Vijd, wie Châtelet meint, wahrscheinlich einen kleineren Altar in Auftrag geben wollen, woran er aber durch den Tod gehindert worden sei (86). Das sind in der Tat sehr phantasievolle, aus Argumentationsnot geborene Erwägungen! Erst zwischen 1495 und 1517 habe der Altar schließlich seinen nachmaligen Platz in der Vijd-Kapelle, der ersten südlichen Chor-Kapelle, gefunden (264). Für diese Mutmaßung führt Châtelet ein Argument an, das sich aber sofort als gegenstandslos erweist. Da Antonio de Beatis 1517 in seinen Reisenotizen die Vijd-Kapelle als Ort des Genter Altars erwähnt, Münzer 1495 dagegen allein den Altar beschreibt, glaubt Châtelet schlussfolgern zu können, dass der Altar erst nach 1495 und vor 1517 in die Vijd-Kapelle gekommen sei.

Während es – bezeichnenderweise – der Forschung in mehr als hundertjährigem intensiven Bemühen nicht gelang, die Hände der beiden angeblich beteiligten Meister auf nachvollziehbare Weise zu scheiden, gibt sich Châtelet überzeugt, dass er die Lösung des Problems gefunden habe. Er glaubt, genau sagen zu können, was Hubert und was Jan gemalt hat (121 ff.). Die aufgezeigten Verschiedenheiten gibt es durchaus, doch sind sie durch die unterschiedlichen thematischen Aufgaben bedingt, die jeweils unterschiedliche gestalterische Lösungen verlangten. Eine Stilkritik, die das nicht berücksichtigt, verfehlt offensichtlich ihren Zweck.

Châtelet beschäftigt sich auch ausführlich mit dem Madrider „Lebensbrunnen“, den er, wie frühere Forscher, noch für das in den späten 1440er Jahren entstandene Werk eines Eyck-Nachfolgers hält. Er rühmt sich seiner Entdeckung, dass unter den Persönlichkeiten, die die Ecclesia repräsentieren, bedeutende französische Größen dargestellt seien. So glaubt er die Porträts von König Charles VII, dem künftigen Louis XI, René d’Anjou, evtl. Jean de Calabre und Jacques Cœur identifizieren zu können, was ihn veranlaßt, in letzterem den Auftraggeber des „Lebensbrunnens“ zu sehen; vielleicht sei das Werk ja für dessen prachtvolle Kapelle in der Kathedrale von Bourges bestimmt gewesen (200 f., 296 f.)

Châtelet konnte eine derartige These nur äußern, weil er die neuen Forschungsergebnisse nicht berücksichtigt hat, die von Pilar Silva Maroto 2006 publiziert worden sind.[2] Aufgrund dendrochronologischer Untersuchungen steht nun endgültig fest, dass der „Lebensbrunnen“ bereits Ende der 1420er Jahre entstanden ist. Während auch früher schon das Madrider Gemälde als eine Kopie nach einem Frühwerk Jan van Eycks angesehen werden konnte, erweisen die Pentimenti in den Untermalungen nun sogar den Madrider „Lebensbrunnen“ als ein frühes Werk des Künstlers selbst. Diese Erkenntnisse sind insofern von grundlegender Bedeutung auch für die Entstehung des Genter Altars, als der „Lebensbrunnen“ damit endgültig als die wichtigste ikonographische Vorstufe und Voraussetzung des Genter Altares feststeht. Wenn aber der „Lebensbrunnen“ Jan van Eycks die Voraussetzung für den Genter Altar bildet, dann kann Hubert van Eyck nichts mit dem Entwurf des Altars zu tun gehabt haben - womit sich ein weiteres Mal die Nicht-Authentizität der Altarinschrift bestätigt.[3] Châtelet hatte also durchaus seine guten Gründe, die neuen Forschungen zum „Lebensbrunnen“ zu ignorieren.

Anders als der Titel vermuten läßt, wird in dem großformatigen, prachtvoll bebilderten Band sozusagen das gesamte Eyckische Oeuvre behandelt. Der Anhang enthält Dokumentationen und Werkverzeichnisse nicht nur von Hubert und Jan van Eyck, sondern ebenso von den vermeintlichen Van Eyck-Schülern „Lambert van Alpas (alias Albert van Ouwater)“ und „Jean de Pestevien“. Aber auch bei der Einordnung von Werken Jan van Eycks außerhalb des Genter Altars hält Châtelet erstaunliche Überraschungen bereit. Die Berliner „Madonna in der Kirche“ wird seit geraumer Zeit schon aus guten stilistischen Gründen nicht mehr in die Mitte der 1420er Jahre, sondern in die Mitte oder wohl besser noch an das Ende der 1430er Jahre datiert. Châtelet meint dagegen, dass die „Madonna in der Kirche“ von allen Gemälden Jan van Eycks der „Totenmesse“ des Turin-Mailänder-Stundenbuches, die er (viel zu spät; aber das ist ein anderes Thema) um 1424 datiert, am nächsten stehe, ja, dass sie diese direkt reflektiere und deshalb um 1425 entstanden sein müsse (75). Dabei liegen buchstäblich Lichtjahre zwischen beiden Werken, nämlich Jahrzehnte der künstlerischen Entwicklung in der Darstellung subtilster Lichtsituationen, was Châtelet erstaunlicherweise nicht wahrzunehmen bereit ist.

Jan van Eyck ist seit 1422 als Hofmaler zunächst von Jean de Bavière und dann von Philippe le Bon dokumentarisch bezeugt. Hubert dagegen ist ab 1424 in Gent nachweisbar. Der einzige Beleg für die Annahme, dass er der Bruder Jans war, ist übrigens die – falsche – Altarinschrift. In den Augen Châtelets besaß Hubert, da er kein Hofmaler war, eine größere Ungebundenheit, was ihm, Châtelet, viel Freiraum für bestimmte Vermutungen öffnet. So läßt er ihn ausgiebig in Pariser Ateliers tätig sein und für den französischen Hof arbeiten. Neben illuminierten Handschriften (29 ff., 248 f.) möchte er ihm nichts Geringeres als die Gerichtstafel des New Yorker Diptychons zuschreiben, die er um 1418 datiert, da er glaubt, in dem grüngewandeten Prinzen hinter dem Kaiser den späteren Charles VII. identifizieren zu können. Die stilistische Begründung? Die Gerichtstafel sei altertümlicher (er sagt tatsächlich: „... une facture beaucoup moins maîtrisée et une composition plus traditionelle“, S. 29) als die Kreuzigungstafel, weshalb Hubert eher als Jan als Autor in Frage komme; die atemberaubende Darstellung der „Hölle“ scheint für Châtelet gar nicht zu existieren. Wie ist das möglich? Außerdem verrate das Gesicht des Christus Judex Ähnlichkeiten mit dem Christus Rex des Genter Altars, den Hubert ja zumindest entworfen habe. Die „modernere“ Kreuzigungstafel auch Hubert zuzuschreiben, sieht Châtelet offenbar keine Möglichkeit, sie beläßt er Jan, der in diesen frühen Jahren ebenfalls in Paris tätig gewesen sei. Beide „Brüder“ hätten also 1418 Seite an Seite das New Yorker Diptychon für den französischen Hof angefertigt. Das ist – von der behaupteten Beteiligung Huberts ganz abgesehen – eine unhaltbare Vorstellung, da das Diptychon auf keinen Fall so früh entstanden sein kann. Die Forschung datiert es einhellig in die dreißiger Jahre, Jacques Paviot glaubt es sogar erst nach dem Tod Jan van Eycks entstanden.[4]

Châtelets aufwendig gestaltetes Buch über „Hubert und Jan van Eyck“ ist von ihm zweifellos als die Krönung seines Lebenswerkes gedacht. Leider zeigt sich, dass sein bedingungsloses Festhalten an der Authentizität der Altarinschrift ihm den Weg versperrt, diesem Anspruch gerecht zu werden.

Anmerkungen:

[1] Émil Renders: Hubert van Eyck. Personnage de légende; Paris und Brüssel 1933. Volker Herzner: Jan van Eyck und der Genter Altar; Worms 1995; im Quellenanhang, S. 273 ff., sind alle im Folgenden erwähnten Dokumente und Quellen zum Genter Altar publiziert.
[2] Pilar Silva Maroto: Le dessin sous-jacent de deux peintures eyckiennes du Musée du Prado: Le Triomphe de l’Église sur la Synagoge, école de van Eyck, et Saint François recevant les stigmates, du Maître de Hoogstraten, in: La peinture ancienne et ses procédés: copies, répliques, pastiches. Le Colloque XV pour l’Ètude du Dessin Sous-Jacent et de la Technologie dans la Peinture, Bruges, 11-13 septembre 2003; éd. par Hélène Verougstraete; Leuven 2006, S. 42-50.
[3] Siehe dazu zuletzt Pierre Colman: Jan van Eyck et Jean sans Pitié (Mémoire de la Classe des Beaux-Arts: Collection in-8; sér. 3, t. 27); Brüssel 2009, S. 131 f.; und Volker Herzner: Der Madrider Lebensbrunnen aus der Werkstatt Jan van Eycks und die zielsicheren Irrwege der Forschung. [e-Journal:] In: Kunstgeschichte. Open Peer Reviewed Journal, 2011 (urn:nbn:de:0009-23-28428). Dazu auch ein Kommentar von Pierre Colman.
[4] Jacques Paviot: La ‚Crucifixion’ et le ‚Jugement dernier’ attribués à Jan van Eyck (Diptyque de New York), in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 73, 2010, 145-168.

Châtelet, Albert: Hubert et Jan Van Eyck. Créateurs de l'Agneau mystique, Dijon: Éditions Faton 2011
ISBN-13: 978-2-87844-152-9, 319 S., 68,-- EUR

Empfohlene Zitation:
Volker Herzner: [Rezension zu:] Châtelet, Albert: Hubert et Jan Van Eyck. Créateurs de l'Agneau mystique, Dijon 2011. In: ArtHist.net, 20.03.2012. Letzter Zugriff 19.04.2024. <https://arthist.net/reviews/2949>.

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