REV 27.01.2010

Robert Habel: Alfred Messels Wertheimbauten in Berlin

Rezensiert von Elmenhorst Lucas, Berlin
Redaktion: Philipp Zitzlsperger
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Es wirkt wie eine Ironie der Geschichte, dass im Frühjahr 2009 im Zuge der Finanzkrise mit den beiden letzten Wertheim-Warenhäusern in Berlin Wertheim als eigenständige Marke fast zeitgleich zum 100. Todestag des Berliner Architekten Alfred Messel, dem Hausarchitekten von Wertheim, endgültig verschwindet. Bis auf einen Rest des heute stark überformten Wertheimbaus in der Rosenthaler Straße sind alle seine Berliner Warenhausbauten zerstört. Messels Hauptwerk, das von ihm mehrfach erweiterte Kaufhaus Wertheim am Leipziger Platz, war mit einer Verkaufsfläche von 106.000 qm das seinerzeit größte Warenhaus Europas. Nach den Beschädigungen im Zweiten Weltkrieg wurde es nach Gutachten von Richard Paulick und Werner Flindt als wiederaufbaufähig eingestuft. Entgegen der eindeutigen Stellungnahme der Baukommission für einen Wiederaufbau wurde es 1954 abgerissen (367).

Das ebenfalls zu Messels 100. Todestag erschienene, schwergewichtige, opulent ausgestattete und hervorragend bebilderte Buch von Robert Habel ist zugleich die Publikation der 2005 an der Freien Universität Berlin eingereichten Dissertation und das Ergebnis seiner über 10-jährigen Forschungsarbeit. Habel leitete zudem das DFG Projekt „Alfred Messel“ und ist Mitinitiator der aktuell laufenden Berliner Ausstellung „Alfred Messel. Visionär der Großstadt“ (Kulturforum der Staatlichen Museen Berlin noch bis zum 7. Februar 2010).

Da sowohl ein großer Teil der Bauakten der Wertheimbauten wie auch Messels Nachlass als vernichtet gelten, wurden Habels Forschungen mit großer Neugier erwartet. Seine immensen und gründlichen Recherchen im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz, Landesarchiv Berlin, Archiv des Landesdenkmalamtes, Handschriftenabteilung der Staatsbibliothek Berlin, der Plansammlung der Technischen Universität Berlin sowie seine umfassende Auswertung der zeitgenössischen Berichte und Rezeptionen in Briefen, Tageszeitungen und Zeitschriften für seine Analyse können kaum überschätzt werden. Mit ihnen schließt er eine lang beklagte Forschungslücke. Denn seit Walter Curt Behrendts Monographie zu Alfred Messel von 1911 ist keine umfassende Forschungsarbeit zu dem Werk dieses für Berlin wichtigen Architekten erschienen.

Das Buch besteht aus zwei Teilen: Den ersten Teil und zugleich Kern der Arbeit bildet eine ausführliche Untersuchung des Warenhauses Wertheim am Leipziger Platz als dem wohl zentralen Werk Messels und seiner Bau- und Planungsgeschichte, Ausstattung und Rezeption sowie der Wertheimbauten an der Oranienstraße und der Rosenthaler Straße. Der zweite Teil dokumentiert erstmals in einem umfangreichen Werkkatalog Messels mit zirka 90 Bauten gesamtes architektonisches Werk.

In sechs chronologisch geordneten Kapiteln untersucht Habel die vier Bauphasen dieser Warenhausbauten, den Einfluss der Bauherren, mögliche Vorbilder, sowie die Rezeption und Diskussionen um die Bauten in den zeitgenössischen Medien. Dass er in dieses für die Wertheimbauten ideale Schema dann ebenfalls die Beschreibungen der anderen Werke Messels einfügt, mitunter auch die seiner wesentlich kleineren Bauvorhaben, die ganz andere Bauaufgaben behandeln, führt stellenweise zu Brüchen im Lesefluss und ist, soviel sei vorausgeschickt, die größte Schwäche des Buches.

Ausführlich widmet sich Habel der Fassadengestaltung des ersten Wertheimbaus (1896/97) an der Leipziger Straße, sicher eine der bemerkenswertesten Schöpfungen Messels, die bereits Zeitgenossen als eine architektonische Sensation empfanden. Indem Messel das eiserne Innengerüst in die steinernen Vertikalen der gotisierenden Fassadenpfeiler umsetzte, thematisierte er deutlich den konstruktiven Gedanke des Skelettbaus (135 ff.). Damit gelang es ihm, die Ingenieurbaukunst und die architektonische Baukunst miteinander zu verbinden und Schaufenster an Schaufenster sowohl über die gesamte Länge als auch die ganze Höhe des Bauwerks zu reihen. Schon Peter Behrens und Henry van de Velde lobten den modernen Entwurf, der auf eine unzweckmäßige dekorative Fassadengestaltung verzichtete. Habel kann aufgrund seiner Quellenarbeit nachweisen, dass – anders als dies die bekannten Schwarzweißfotos nahelegen – die subtile Farbigkeit der Baumaterialien für das Erscheinungsbild der Pfeilerfassade von großer Bedeutung war: Messel verwendete eine differenzierte Kombination verschiedenster Metalle wie Kupfer, Messing, Gold, Eisen und Bronze für die polychromen Fassaden. Zeitgenössische Farbfotos, die Habel publiziert, geben einen Eindruck von dem raffinierten Wechselspiel zwischen den Gold- und Grüntönen der Metalle und des Daches mit den hellgrau-gelblichen Steinpfeilern (139).

Die großen zentralen Lichthöfe, um die herum sich die Etagen mit dem umfassenden Warensortiment für jeden Lebensbereich gliederten, waren bis dahin in Deutschland unbekannt. Bei der Analyse der Warenhausbauten als architektonisch neuen Bautypus beschreibt Habel neben den bekannten stilistischen Vorbildern ausführlich auch Paul Sédilles Warenhaus Au Printemps in Paris (1881-83) als ein mögliches Vorbild für die Grundrissdisposition (118). Dessen zeitliche Priorität wurde bisher von vielen deutschen Autoren ignoriert.

Des Weiteren kann Habel anhand zweier bisher unbeachteter und undatierter Fassadenpläne Messels nachweisen, dass seine Mitarbeiter Paul Kolb und Eugen Schmohl diese für die vierte und letzte Erweiterung des Wertheimbaus am Leipziger Platz 1926/27 ausführten (247 u. 349). Ausführlich rekonstruiert er mit Hilfe der zeitgenössischen Quellen die Zusammenarbeit von Messel mit den Ingenieuren und Maschinenbauern. So würdigt er Martin Altgelt, den Kompagnon Messels, als Ingenieur der Konstruktion und Statik des Eisenskeletts (132). Josse und Kuhn hingegen entwickelten die innovative technische Ausstattung der Wertheimbauten, u.a. für Licht, Wärme, Kühlung, vor allem die erste elektrische Fahrtreppe in Europa, die 6.000 Kauflustige im Laufe einer Stunde transportieren konnte und damit ein Vielfaches der Kapazität eines Aufzuges besaß (189). Für die hauseigenen Kraftwerke ließ Josse auf Wunsch der Bauherren eine aus dem Industriebau adaptierte Rauchentsorgungsanlage mit modernen Ventilatoren einbauen, um den Bau eines 75 m hohen Schornsteins zu vermeiden. Mit Erstaunen lernt der Leser, dass die Baugrube wegen des hohen Grundwasserstandes zunächst betoniert und erst anschließend entwässern wurde, ein Vorgehen, das Mitte der 1990er Jahre auch für die Neubebauung des Potsdamer Platzes Anwendung fand (293).

Bemerkenswertes Verdienst des Buches ist die differenzierte Darstellung des akribisch recherchierten Werkkatalogs im zweiten Teil des Buches. Über die 87 bekannten Bauten Messels hinaus dokumentiert er verschiedene, teils bisher unpublizierte, undatierte und unsignierte Projektzeichnungen und seine Tätigkeit als Preisrichter. Habels Recherchen zu Messels Werken und ihrer Bau- und Planungsgeschichte sind beeindruckend. Die umfangreichen Quellen- und Literaturangaben ermöglichen den Einstieg in eine weitere Forschung zu allen Objekten. Souverän und sachkundig stellt Habel zudem das dichte Netzwerk der zumeist aus dem sehr wohlhabenden jüdischen Großbürgertum stammenden Auftraggeber Messels und deren Biographien sowie politische Hintergründe dar. Dabei verbindet er geschickt Architektur- und Sozialgeschichte. Bedingt durch die Zeitläufe wird das Werkverzeichnis zudem zu einer mitunter beschämenden Dokumentation des Umgangs mit jüdischem Eigentum während und auch nach dem „Dritten Reich“ bis hinein in die Gegenwart.

Die Spannweite von Messels Bauten und Entwürfen zeigt den bemerkenswerten Versuch, architektonisch anspruchsvolle Lösungen zu finden. Denn neben seinen Entwürfen für großbürgerliche Villen und Verwaltungsbauten für Handel und Industrie galt Messels Interesse seit den 1880er Jahren auch dem Arbeiterwohnungsbau. So suchte er nach Alternativen zu den berüchtigten dunklen, schlecht belüfteten und daher oft feuchten Berliner Mietskasernen. Messels hoher architektonischer Anspruch nimmt dabei auch in der Breite seines Schaffens nicht ab, er zeigt ein genauso ambitioniertes Herangehen an die Wertheimbauten wie an den sozialen Wohnungsbau. Als Architekt und Vorstandsmitglied des „Berliner Spar- und Bauvereins“ wie auch des von ihm gegründeten „Vereins zur Verbesserung der kleinen Wohnungen“ entwickelte er beispielhafte innovative Grundrisslösungen für „gesunde“ Wohnungen mit Querlüftung, guter Besonnung und Ausstattung aller Wohnungen mit Innentoiletten. Wegweisend ist sein Entwurf, das berüchtigte, schlecht beleuchtete „Berliner Zimmer“ zu vermeiden, indem er die Treppenhäuser in den Eckgelenken der Wohnblöcke anlegte.

Ob es tatsächlich eine Folge der öffentlichen Kritiken des Domneubaus und des Kaiser-Friedrich-Museums war, die Kaiser Wilhelm II. bewog, moderne Architekten für die neuen Bauaufgaben zu beauftragen, neben Messel für den Bau des Pergamonmuseums auf der Museumsinsel, auch Bruno Paul für das Dahlemer Völkerkundemuseum und Peter Behrens für die Petersburger Botschaft, wie Habel andeutet (19, 311), kann angesichts unsicherer marginaler Quellenlage allenfalls vermutet werden. Denkbar ist auch, dass hier der gewachsene politische Einfluss der Großindustrie zu einem neuen Verständnis für eine imperiale Selbstdarstellung des Deutschen Reichs unter Rückgriff auf Formen des preußischen Frühklassizismus führte, wie die engen Parallelen zwischen der Petersburger Botschaft und wichtigen Bauten der deutschen Schwerindustrie (AEG, Mannesmann, Contigummi) nahe legen.

Die Verbindung der beiden Teile von Habels Buch gelingt leider nicht immer. Etwas unvermittelt stehen die anderen Bauten Messels zwischen den ausführlichen Analysen der Wertheimbauten im ersten Teil des Buches. Die häufig textgleich aus dem Werkverzeichnis übernommenen Beschreibungen und Ausführungen führen mitunter zu unnötigen Wiederholungen und unglücklichen Anschlüssen wie etwa bei der Villa Cohn-Oppenheim (213). Den Lesefluß vereinfacht hätte es zudem, wenn Habel seine Darstellung aus der Argumentation heraus entwickelt hätte. So verweist er bei seiner Analyse des Warenhauses an der Oranienstraße mehrfach auf Sédilles Kaufhaus Printemps als Vorbild (113, 114, 118, 120). Dieses wird indes nicht wie erwartet im Rahmen der Geschichte des Bautypus Warenhaus erörtert, sondern erst als Exkurs am Ende des Kapitels, das mit der Beschreibung der Vernichtung des Wertheimbaus als Folge des Zweiten Weltkriegs bereits seinen logischen Abschluss gefunden hat (118). Irritierend sind die gehäuften Dopplungen wie etwa von Messels Plänen für die vierte Erweiterung des Warenhauses am Leipziger Platz (247, 349), Ludwig Hoffmanns Versuchen, Messel angesichts der Kritik des Kaisers am Wertheimbau 1905 zu beschwichtigen (296, 312) oder der Verweise auf die Loggia dei Lanzi als mögliches Vorbild für den Kopfbau (319, 323). Mitunter werden auch Schlussfolgerungen vorweggenommen, die erst in weiteren Abschnitten hergeleitet werden, wie etwa die behauptete Schlüsselstellung des Warenhauses an der Rosenthaler Straße als wichtiges Bindeglied in Messels Werk (222), anstatt damit thesenartig zu der folgenden Argumentation überzuleiten.

Dies alles mindert aber nicht die Leistung Habels; seine methodische, breit gefächerte Quellenarbeit und sein exzellentes und sachkundiges Werkverzeichnis mit Messels Bauten bilden einen herausragenden Beitrag zur Messelforschung. Da sich viele der originalen Bauten und Pläne Messels nicht erhalten haben, ist damit der Grundstein für die überfällige und umfassende Messelmonographie gelegt. Als Monographie zu den Wertheimbauten, dem neben dem Pergamonmuseum wichtigsten Werkkomplex Messels, ist das Buch jedem zu empfehlen.

N.B.
Der Messel-Nachlass im Architekturmuseum in der Universitätsbibliothek der TU-Berlin ist dank Habels Einsatz nun auch digitalisiert und für jeden Interessierten zugänglich unter http://architekturmuseum.ub.tu-berlin.de/index.php?set=1&p=51&sid=126143822564921&z=1
Im Frühjahr 2010 erscheint der von Artur Gärtner, Robert Habel und Hans-Dieter Nägelke herausgegebene Führer zu den erhaltenen Bauten Messels: "Alfred Messel – ein Führer zu seinen Bauten" im Verlag Ludwig Kiel, mit dem zugleich das DFG-geförderte Forschungsprojekt zu Alfred Messel abgeschlossen wird.

Habel, Robert: Alfred Messels Wertheimbauten in Berlin. der Beginn der modernen Architektur in Deutschland ; mit einem Verzeichnis zu Messels Werken (= Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin), Berlin: Gebr. Mann Verlag 2009
ISBN-13: 978-3-7861-2571-6, 824 S., ca. sfr 167.00

Empfohlene Zitation:
Elmenhorst Lucas: [Rezension zu:] Habel, Robert: Alfred Messels Wertheimbauten in Berlin. der Beginn der modernen Architektur in Deutschland ; mit einem Verzeichnis zu Messels Werken (= Die Bauwerke und Kunstdenkmäler von Berlin), Berlin 2009. In: ArtHist.net, 27.01.2010. Letzter Zugriff 25.04.2024. <https://arthist.net/reviews/278>.

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