REV Sep 12, 2005

Liturgische Gewänder im Dom zu Brandenburg

Reviewed by Dirk Schumann
Editor: Philipp Zitzlsperger

„Wozu nützt solch alter Plunder, sagen beinahe alle, und die wenigsten bedenken, daß uns durch den Verlust dieser Sachen ein ganzer Abschnitt in der Kenntnis und Kunstfertigkeit des Mittelalters verloren geht. Darum halte ich dafür, dass eine Anzahl dieser Meßgewande eifrig aufzubewahren sei.“ Mit dieser Forderung Johann Gustav Büschings aus dem Jahr 1817 setzte erstmals eine Diskussion um Erhaltung und Wahrnehmung liturgischer Textilien als Denkmalbestand ein. Der vorliegende gewichtige und reich bebilderte Katalog sowie sein kleiner Begleitband sind nun der fulminante Höhepunkt der Beschäftigung mit den Brandenburger Gewändern und die Rehabilitation einer Kunstgattung, die sich trotz ihrer hohen Kunstfertigkeit bisher selten im Zentrum der Aufmerksamkeit der Kunstgeschichte befand.

Mit den liturgischen Textilien hat sich im Brandenburger Dom eine der umfangreichsten und bedeutendsten Bestände an liturgischen Gewändern und anderen Paramenten erhalten. Im Zuge der Reformation blieb dieser Bestand unangetastet und wurde 1552 sogar noch vergrößert, als die liturgischen Kleider aus der bischöflichen Kapelle in Ziesar und die Ausstattung der Stiftskirche auf dem Harlunger Berg an das Brandenburger Domkapitel gingen. Die vorreformatorischen Gewänder wurden durch die lutherische Kirche weitergenutzt, dabei passte man die Textilien den neuen Gebrauchsbedingungen an. Zwar ging im 18. Jahrhundert die Nutzung der Gewänder schlagartig zurück, doch die meisten Textilien blieben erhalten. So handelt es sich bei den 76 beschrieben Katalognummern nicht selten um wertvolle mittelalterliche Gewänder, die oft mit aufwendigen Stickereien versehen waren.

Seit 1972 war die Textilrestauratorin Christa-Maria Jeitner mit den konservatorischen Belangen des Bestandes betraut und warb seit 1994 auch die Finanzierung für die von ihr begonnene wissenschaftlichen Aufarbeitung ein. Ein seit 1999 von der Robert Bosch Stiftung finanziertes interdisziplinäres Projekt ermöglichte in einer Kooperation von Restauratorinnen, Kunsthistorikern und Historikern eine detaillierte Materialaufnahme, die schließlich zur Grundlage für die vorliegende Publikation wurde. Die Finanzierung der Drucklegung des Katalogbandes übernahm die Abegg-Stiftung, die des Begleitbandes das Domstift Brandenburg.

Mit dem Gewinn der u.a. auf dem Gebiet mittelalterlicher Textilien ausgewiesenen Kunsthistorikerin Evelin Wetter für zahlreiche Beiträge und die Redaktion, die sie gemeinsam mit dem Historiker Manfred Jehle durchführte, der Textilrestauratorin Ilona May, verantwortlich für die textiltechnologischen Untersuchungen, sowie der Mitarbeit des Kunsthistorikers Karel Otavský, Konservator für mittelalterliche Textilien an der Riggisberger Abegg-Stiftung, der Kunsthistorikerin Marina Flügge vom Brandenburgischen Landesamt für Denkmalpflege sowie weiterer Wissenschaftler war schließlich unter der Projektkoordination von Christa-Maria Jeitner ein breites Tableau an Kompetenzen versammelt, das eine konzise Verknüpfung von textiler Befunduntersuchung, historischer Quellenauswertung und kunsthistorischer Analyse garantierte. So wurden die umfangreichen Archivalien aufgearbeitet und wichtige, die Textilen betreffenden Quellen in den Aufsätzen und Katalogtexten ediert, worunter sich auch Inventare, Verzeichnisse und Schrankzettel befinden. Schließlich flossen sogar jüngste archäologische Beobachtungen an Gewändern einer Bestattung in den Katalog mit ein. Auf Grundlage der Archivalien konnte schließlich erstmals der Zugang zahlreicher Gewänder aus der Bischofskapelle in Ziesar nachgewiesen werden.

Die detaillierten Textiluntersuchungen führten zu umfangreichen Ergebnissen der Herstellung und Verortung der Stoffe sowie des Zuschnittes der Gewänder. Zahlreiche Detail- und Übersichtsdarstellungen machen die vielen speziellen Befunde gut nachvollziehbar. Wie bei solchen Untersuchungen zu erwarten, traten auch Überraschungen zutage. So fanden sich bei vorangegangenen Restaurierungen unter den aufgesetzten Stickereien zahlreiche Makulaturreste, die neben Resten von seltenen Lochpausen und Stoffmusterzeichnungen auch Fragmente von Rechnungsbüchern aufwiesen und von dem ausführenden Sticker als Aussteifungsmaterial verwendet wurden. Sie ließen sich jetzt dem Umkreis der Nürnberger Werkstatt von Wolgemut und Pleydenwurff zuweisen. Zumindest zeigen die Entwürfe der Stickereien enge stilistische Bezüge zu den malerischen und druckgraphischen Erzeugnissen der Wolgemut/Pleydenwurff-Werkstatt. Es sind vor allem diese zahlreichen Detailinformationen einer teilweise zur Kultur- und Sozialgeschichte verdichteten Objektgeschichte, die das Lesen nicht nur für den Textilhistoriker wertvoll machen. Hilfreich ist auch der dem Textil- und Katalogteil vorangestellte Aufsatz des Historikers Dietrich Kurze zu Domstift und Landesherrschaft, der den Hintergrund der Entstehung vieler Textilien verständlich macht, wie etwa die Provenienz der von Christa-Maria Jeitner und Evelin Wetter bearbeiteten wertvollen Paramente aus der Schwanenordenskapelle auf dem Harlunger Berg, von denen die meisten direkte Stiftungen der hohenzollernschen Kurfürsten waren und oft durch die Umarbeitung repräsentativer höfischer und zeremonieller Gewänder entstanden.

Das umfangreiche Bildmaterial einschließlich Detailaufnahmen und erklärender Darstellungen führt den Wert dieses einmaligen Bestandes und seiner künstlerischen Qualität vor Augen. Hierzu tragen vor allem die qualitätvollen Fotografien des Brandenburger Fotografen Uwe Salge bei, wenn auch einige Inszenierungen der Gewänder zu Lasten der Details gehen.

Die übersichtliche Anordnung von Fußnoten und technischen Detailinformationen in einer seitlichen Leiste erleichtern die Benutzung des Kataloges, der sich auch mittels Register, Literaturverzeichnis und umfangreichem Glossar gut erschließen lässt. Die gediegene Gestaltung durch Matthias Wittig und Johannes Vogler macht schon das Blättern im Katalog zu einem Vergnügen.

Der kleine Begleitband, dessen Herstellung durch den Verlag Schnell & Steiner betreut wurde, ist dagegen sehr viel sparsamer gestaltet und ausgestattet, Inhaltlich jedoch nicht weniger wichtig, denn in gut verständlichen Aufsätzen wird die einstige Funktion der Textilien klar vor Augen geführt. So bildet der Beitrag der Liturgiewissenschaftlerin Eugenie Lecheler eine erhellende Grundlage für den Gebrauch der Gewänder innerhalb der Messliturgie, während Evelin Wetter programmatische Zusammenhänge zwischen einzelnen Objekten und ihren landesherrlichen Auftraggebern herstellt und schließlich in den Rahmen kunstlandschaftlicher Entwicklungen stellt, obwohl man sich stellenweise zusätzliche kunsthistorische Charakterisierungen wünschen würde. Überraschend sind auch die Ausführungen von Christa-Maria Jeitner zur Bewahrung der Gewänder des Brandenburger Doms und der Beitrag von Marina Flügge zur nachreformatorischen Nutzung. Demzufolge führte die Auseinandersetzung mit den Calvinisten bei den Lutheranern im späten 16. und frühen 17. Jahrhundert zu einer regelrechten Blüte in der Nutzung vorreformatorischer Gewänder.

Gelegentliche Dopplungen zwischen Katalog und Begleitband fallen nicht ins Gewicht, da die unterschiedlichen Konzeptionen der beiden Publikationen unterschiedliche Interessentenkreise ansprechen dürften.

Werden die sparsamen Bildbeschriftung des Kataloges durch die zahlreichen Detailinformationen ergänzt, könnte man im Begleitband trotz eines abschließenden Bildnachweises ausführlichere inhaltliche Angaben sowie Hinweise zur Zeitstellung der Abbildungen erwarten.

Die beiden vorliegenden Publikationen, die trotz kleinerer Mängel als sehr gelungen zu bezeichnen sind, lösen endlich die Diskrepanz zwischen der Existenz des für die Mark Brandenburg in seiner Bedeutung nicht hoch genug zu schätzenden Bestandes liturgischer Gewänder und anderer Paramente und der bisher doch relativ unzureichenden Beschäftigung mit diesem Thema und bieten auch dem Nicht-Textilhistoriker umfangreiche interessante und verständliche Informationen.

Reihlen, Helmut (Hrsg.): Liturgische Gewänder und andere Paramente im Dom zu Brandenburg, Riggisberg: Schnell & Steiner 2005
ISBN-13: 978-3-7954-1684-3, 496 S., EUR 148.00, CHF 245.00

Reihlen, Helmut (Hrsg.): Heilige Gewänder - textile Kunstwerke. Die Gewänder des Doms zu Brandenburg im mittelalterlichen und lutherischen Gottesdienst ; Begleitband zum Katalog "Liturgische Gewänder und andere Paramente im Dom zu Brandenburg" (= Schriften des Domstifts Brandenburg; 1), Regensburg: Schnell & Steiner 2005
ISBN-13: 978-3-7954-1726-0, 138 S., € 19,90

Recommended Citation:
Dirk Schumann: [Review of:] Reihlen, Helmut (Hrsg.): Liturgische Gewänder und andere Paramente im Dom zu Brandenburg, Riggisberg 2005; Reihlen, Helmut (Hrsg.): Heilige Gewänder - textile Kunstwerke. Die Gewänder des Doms zu Brandenburg im mittelalterlichen und lutherischen Gottesdienst ; Begleitband zum Katalog "Liturgische Gewänder und andere Paramente im Dom zu Brandenburg" (= Schriften des Domstifts Brandenburg; 1), Regensburg 2005. In: ArtHist.net, Sep 12, 2005 (accessed Oct 6, 2024), <https://arthist.net/reviews/27517>.

Creative Commons BY-NC-NDThis work is licensed under a Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 4.0 International License. For the conditions under which you may distribute, copy and transmit the work, please go to https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/

^