REV 07.09.2009

Joachim Jacoby: Bildform und Rechtsnorm. Raphael in der Stanza dell'Incendio

Rezensiert von Carolin Behrmann
Redaktion: Rainer Donandt
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Ein Königsmord steht am Auftakt dieser jüngsten Studie zu Raphaels Stanza dell’Incendio. Aber nicht der Tod des Souveräns, sondern ein Eid des Thronnachfolgers, für diesen nicht verantwortlich zu sein, skizziert den konzeptuellen Rahmen der Arbeit. Dieses so genannte Rechtsinstitut des „Reinigungseides“, der dem jenseits des Gesetzes stehenden Souverän (princeps legibus solutus) die Möglichkeit gewährt, etwaige Zweifel an seiner Person zu entkräften und seine Unschuld zu beweisen, ist auch das Kernthema von Raffaels Gemälde des „Reinigungseides Papst Leos III.“. [1]

So ungewöhnlich wie aussichtsreich ist Jacobys Ziel, in seiner Studie nicht allein eine historische Rechtswirklichkeit zu rekonstruieren, um die Bilder zu deuten, sondern vielmehr die Gebundenheit zwischen visueller Form und juridischer Norm aufzuzeigen. [2] Der strukturelle Aufbau des Buches verweist auf die Systematik von Rechtswerken: 77 Paragraphen gliedern den Band, deren Kapiteltitel nüchtern lauten: „Der Freskenschmuck“, „Die Bildthemen“, „Programm und Publikum“, „Farbe, Figur, Komposition“ und „Raphaels Bildform“. Jacobys kenntnisreiche Konsultation der zeitgenössischen Rechtsquellen präzisiert nicht nur die bisherigen Forschungen zur Stanza dell’Incendio, sondern stellt die Fresken in einen neuen Zusammenhang und legt ein umfassendes Deutungskonzept vor, um hierbei Dinge zu benennen, die bis dato nicht belegt werden konnten. [3]

Dem Fresko des Reinigungseides liegt ein besonderes Mysterium zugrunde, das sogar die zeitgenössische Geschichtsschreibung nicht hat lösen können. Wo die Anklagepunkte gegen Papst Leo III. (795-816) unklar geblieben sind (Meineid und Ehebruch), hat der Akt des eigenen Freispruchs von der Anklage als Repräsentation den Prozess überdauert. Bekräftigt wurde im Bild die Aussage, dass der Papst nicht gerichtet werden dürfe. Jacoby findet diesen Fall in der fünften Frage im zweiten Rechtsfall des sogenannten Decretum Gratiani (um 1140) wieder, der ersten Synthese des universal anwendbaren kanonischen Rechts, in welcher jene Eidesworte Leos III. aufgeführt werden, die er als Reinigungseid gesprochen haben soll. Das kanonische Recht formuliert die Regeln des kirchlichen Lebens und grenzt somit dessen Status gegenüber den weltlichen Mächten ab. Jacoby weist auf, dass Raffael den Reinigungseid Leos III. nicht den historischen Quellen gemäß rekonstruiert, sondern vielmehr den Angaben des Decretum Gratiani folgt, in welchem auch der zeremonielle Rahmen dieses Eides festgelegt wird. Den Aktualitätsbezug arbeitet Jacoby in der Darstellung der Stanza dell’Incendio anhand der dort gezeigten Porträts der Familie Medici, den nächsten Verwandten des Auftraggebers Papst Leos X. de' Medici (1513-1521), heraus wobei er sich bedauerlicherweise jedoch nicht näher mit der hier naheliegenden Frage des Nepotismus auseinandersetzt (17f).

Der Fall Papst Leos III. beschreibt der Autor als den Präzedenzfall einer rechtlichen Kontroverse, die auf politische Strukturprobleme der Monarchie verwies und zugleich auf kirchliche Verfassungsfragen nach dem Großen Schisma (1378-1415/17) (18). Die „Plenitudo potestatis“, die unbeschränkte Jurisdiktionsgewalt des Papstes wurde neu diskutiert, und auf den Konzilien von Konstanz und Basel entwickelte man Alternativen, nach welchen die päpstliche Macht legitimiert und kontrolliert werden sollte. Jacoby stellt die Aktualität der Darstellung des Raffaelschen Reinigungseides in den Blickpunkt, indem er den Streit um die Nicht-Judizierbarkeit des Papstes darlegt. In seiner Schrift „Summa de ecclesia“ (1489) hatte der Dominikanergeneral Juan de Torquemada die Freiwilligkeit der Entscheidung Leos III. hervorgehoben, diesen Eid abzulegen, und folglich die intendierte Aussage bekräftigt, dass es keinen dem Papst übergeordneten Richter gäbe. Der Jurist Filippo Decio hingegen vertrat vehement die Ansicht, dass ein Konzil nicht nur im Härtefall der Häresie über einen Papst Gericht sitzen dürfe. Das Konzil bezeichnete er als höhere Rechtsinstanz als den Papst. Jacoby bezieht den Disput über die Frage, ob ein Konzil rechtmäßig ohne päpstliche Anerkennung einberufen werden könne, in seine Deutung des Freskos mit ein. Die Versammlung der zahlreichen Bischöfe, die in Raffaels Darstellung um den eidablegenden Papst versammelt sind, wäre demnach als eine Konzilsversammlung zu interpretieren (23). Folglich stelle Raffaels „Reinigungseid“ eine Bekräftigung der Machtvollkommenheit des päpstlichen Amtes dar und dessen alleinige Einberufungsgewalt des bischöflichen Konzils.

Die zweite rechtshistorische Interpretation des Raffaelschen Freskenzyklus (§§ 10-14) widmet sich dem Bild der Kaiserkrönung Karls des Großen durch Papst Leo III. im Jahre 800 in Rom an der Westwand der Stanza dell’Incendio. Das Zeremoniell der Kaiserkrönung visualisierte jenes höchste Herrschafts- und Verfügungsrecht, das das Papsttum gegenüber den weltlichen Staaten für sich beanspruchte und nach dem erst die Prüfung des Papstes den weltlichen Souverän zur Macht legitimierte. Jacoby verweist für dieses Beispiel der so berühmt gewordenen „translatio imperii“ auf die Quelle der Dekretalen Gregors IX., welche in der Rechtsliteratur als fester Beleg für das päpstliche Primat behandelt wurde (29). Die Komposition des Freskos, des pyramidal-hierarchischen Prinzips der Figurenanordnung, der symbolischen Form der gemalten Architektur im Hintergrund, der Monumentalsäulen des Salomonischen Tempels, die als Nebeneinander von sacerdotium und regnum die Krönungsszene hinterfangen, deutet Jacoby als bildliche Antwort auf die Irritationen im Rangverhältnis von weltlicher und päpstlicher Macht (33). [4]

Im Fresko des Borgobrandes, in dem Raphael die Brandbekämpfung und das päpstliche Wunder Leos IV. (847-88) zeigt, erkennt Jacoby visualisiertes Papstzeremoniell und zentraler noch die Darstellung kanonistisch definierter Tugendwerke. Der Borgobrand ist demnach ein „monumentales Sinnbild päpstlich ausgeübter Schlüsselgewalt“ (54). Der Zeremonialliteratur gemäß war die Benediktionsloggia, auf der der Pontifex im Hintergrund der Szene erscheint, nur an drei Festtagen von dem mit Tiara und Pluviale bekleideten Papst zu betreten (40). Den Angaben des päpstlichen Zeremonienmeister Paris de Grassis zufolge, erschien der Papst dort als wahrhafter Richter über die Gläubigen. Zwei Aufgaben hatte er hier zu erfüllen: zum einen den Segen, zum anderen den Ablaß zu erteilen. Die Visualisierung der päpstlichen Autorität als Richter, der Schuld und Strafe spricht, forcierte die Idee des Papstes als einer vor Gott verbindlichen Rechtsgewalt (42). Jacoby arbeitet zudem weitere Verbindungen zu Rechtsgrundsätzen im Bild heraus, wie die Darstellung von Almosen, Pietas sowie Formen der körperlichen Entbehrung oder Fasten, die den Handlungen der Figuren im Borgobrand zugeordnet werden und im kanonistischen Sinn als „satisfactio“ zu deuten sind (51). Auch hier bindet Jacoby die rechtliche Norm zurück an die Form und bringt den im Bild gezeigten schmalen Durchlass, der auf den segnenden Papst zuführt, mit einer Glosse des Gratianischen Dekrets in Verbindung und deutet ihn als Visualisierung des „engen Tugendwegs“ (53). Zur Bildkonvention, die den Papst von einem erhöhten Ort herab segnend zeigt, müsste Michealangelos Ehrenstatue Julius’ II. della Rovere (1503-1513), dem Vorgänger Leos X., in Bologna nachgetragen werden. Die Zerstörung dieser mächtigen Bronze, die den segnenden Papst zeigte, im Jahre 1511 unter französischer Besatzung war als Fanal gegen die päpstliche Machtpolitik gerichtet und zur Zeit der Enstehung des Raffaelschen Zyklus durchaus präsent. [5]

Das letzte Kapitel zum Freskenschmuck widmet sich dem Bild der Schlacht von Ostia auf der Ostwand der Raffaelschen Stanza. Mit dem Thema verbindet sich der Meinung Jacobys zufolge die zweigeteilte Pflicht christlicher Miliz: die Selbstverteidigung und die Bekämpfung von Häretikern (58). Kleriker haben die Aufgabe, zum gerechten heiligen Krieg aufzurufen und wie Moses und Paulus selbst am Schlachtort präsent zu sein, folgt man der „Glossa Ordinatoria“ des Gratianschen Dekrets. Die Blickwendung des dargestellten Papstes in Richtung der Repräsentation Gottes in der Gewölbedekoration und die Beschreibung der Unterwerfung und Bloßstellung des Gegners durch den Fußkuss (63), als reale Anerkennung uneingeschränkter Herrschaft im Zeremoniell, spitzt die Darstellung auf eine Aussage zu. Jacoby sieht im Bild die Legitimation von Kreuzzug, Mission und weltumspannender Oberherrschaft symbolisiert, jene Aufgaben, die Leo X. für seine Herrschaft als päpstliche „plenitudo potestatis“ definiert also jener Aufgaben und Ziele, zu denen sich Leo X nicht nur kraft seiner "plenitudo potestatis" ermächtigt sah, sondern auch angesichts des kanonistisch verbürgten Doppelauftrags des Papstes zur Sorge um die Gläubigen und zur zur Eroberung und Missionierung neuer Gebiete.

Jacobys Annahme, dass das kanonische Recht und die juristische Gültigkeit der historischen Fallbeispiele Raffaels Bildprogramm der Stanza dell’Incendio beeinflusst haben könnte, ist überzeugend detailliert dargelegt. Die dem Papst nahesteheden Mitglieder der obersten päpstlichen Rechtsbehörde (Signatura gratiae et iustitiae) aber auch juristisch versierte Kurienkardinäle kommen als mögliche Berater des Programms in Betracht. Intensiv widmet sich der Autor in den folgenden Kapiteln diesem historischen Kontext und der Rezipientensituation innerhalb der Kurie und im Zentrum der päpstlichen Macht. Das Kapitel zu Farbe, Figuren und Komposition der Fresken steht hingegen fast isoliert von der eingangs gestellten Fragestellung da, obgleich die dort skizzierten Beobachtungen zum Stil und zur Komposition nach einer Anbindung an die Frage des Juridischen drängen. Verständlich wird diese vorsichtige Annäherung jedoch in dem abschließenden Kapitel der Studie. Das von Jacoby eindringlich beschriebene Agieren der Figur des im Hintergrund des „Borgobrandes“ segnenden Papstes, der mit dieser Handlung die in Panik versetzten Figuren im Vordergrund des Bildes geradezu „fernsteuert“, ohne sie jedoch als Zentralfigur eines homogenen Handlungskontinuums zu dominieren, kann als innerbildlicher Vollzug eines Rechtsaktes beschrieben werden. Raffaels Bildform, so die abschließende These Jacobys, belässt es jedoch nicht bei der innerbildlichen Handlung, sondern richtet sich nach außen und fordert von dem Rezipienten, ähnlich wie die Emblematik und die Theologie Martin Luthers, eine eigene Syntheseleistung, die aus dem Bild herzuleiten ist. Jacobys Studie zu „Bildform und Rechtsnorm“ regt an, diese Verknüpfung von Recht und Bild weiter zu vertiefen.

[1] Zum „princeps legibus solutus“ Ernst Kantorowicz: The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton: Princeton University Press 1997, S. 95-96, 104-07, 135-37 oder Dieter Wyduckel: Princeps legibus solutus. Eine Untersuchung zur frühmodernen Rechts- und Staatslehre, (Schriften zur Verfassungsgeschichte 30), Berlin 1979.
[2] Jacoby hat bereits 1987 eine Studie zur Stanza dell’Incendio vorgelegt, Joachim Jacoby: Den Päpsten zu Diensten. Raffaels Herrscherzyklus in der Stanza dell'Incendio im vatikanischen Palast, Hildesheim/New York: G. Olms, 1987.
[3] Zuletzt zum Ausstattungsprogramm der Stanzen ausführlich Michael Rohlmann: Gemalte Prophetie: Papstpolitik und Familienpropaganda im Bildsystem von Raffael's "Stanza dell'Incendio", in: Götz-Rüdiger Tewes [Hrsg.]: Der Medici-Papst Leo X. und Frankreich: Politik, Kultur und Familiengeschichte in der europäischen Renaissance. Tübingen: Mohr Siebeck, 2002. – (Spätmittelalter und Reformation : Neue Reihe ; 19), S. 241-371.
[4] Dieser Analogie von Architektur und Rechtsfrage könnte man den Verweis auf Leon Battista Albertis Theorie der Architektur hinzufügen, nach der sich die Formen des Bauwesens von staatsrechtlichen und juristischen Prinzipien ableiten lassen und diese spiegeln. Siehe hierzu Heiner Mühlmann: Ästhetische Theorie der Renaissance. Leon Battista Alberti, Bonn: Habelt Verlag 1981.
[5] Monika Butzek: Die kommunalen Repräsentationsstatuen der Päpste des 16. Jahrhunderts in Bologna, Perugia und Rom, Bad Honnef: Bock und Herchen 1978, S. 77-101.

Jacoby, Joachim: Bildform & Rechtsnorm. Raphael in der Stanza dell'Incendio im vatikanischen Palast (= [Kunstwissenschaftliche Studien]), München: Deutscher Kunstverlag 2007
ISBN-13: 978-3-422-06695-3, 208 S., EUR 29.90, sfr 48.50

Empfohlene Zitation:
Carolin Behrmann: [Rezension zu:] Jacoby, Joachim: Bildform & Rechtsnorm. Raphael in der Stanza dell'Incendio im vatikanischen Palast (= [Kunstwissenschaftliche Studien]), München 2007. In: ArtHist.net, 07.09.2009. Letzter Zugriff 25.04.2024. <https://arthist.net/reviews/265>.

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