REV 12.09.2009

Kristin Marek: Die Körper des Königs

Rezensiert von Steffen Krämer
Redaktion: Philipp Zitzlsperger
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Seit Michel Foucaults grundlegenden Arbeiten haben Körpergeschichten Konjunktur. In den letzten Jahren beschäftigen sich nun auch die Bildwissenschaften intensiv mit dem Verhältnis von Bild und Körper und deren vielschichtigen Interferenzen. Dass hierbei mediävistische Untersuchungen eine immer größere Bedeutung erlangen, ist nicht weiter erstaunlich. Schließlich bieten mittelalterliche Heiligenkulte oder Repräsentationspraktiken mittelalterlicher Herrscher einen perfekten Rahmen, um das Bezugsverhältnis von Bild und Körper zu analysieren. Ein Aspekt bildhafter Körperinszenierung im Mittelalter ist allerdings schon lange Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion. Spätestens seit Ernst Kantorowicz’ 1957 erstmals publizierten Schrift ‚The King’s Two Bodies’ spielt die so genannte ‚Effigies’, jenes puppenhafte Double im Trauerzeremoniell der englischen und später auch französischen Könige, eine wichtige Rolle, die bei der Bestattung des englischen Königs Eduard II. im Dezember 1327 nachweislich zum ersten Mal eingesetzt wurde [1]. Mit der historischen Bildfunktion der Effigies hat Kantorowicz seine berühmte These vom doppelten Körper des Königs – vom natürlichen (body natural) und politischen (body politic) – untermauert. Und dieser Leitgedanke ist in den verschiedenen Forschungsdisziplinen bis heute allgemein anerkannt.

Dass man Kantorowicz’ Diktum aber auch kritisch begegnen kann, belegt die 2009 publizierte und aus einer Promotionsschrift hervorgegangene Studie ‚Die Körper des Königs’ von Kristin Marek. Schon der Titel verdeutlicht, dass die von Kantorowicz konstatierte Dualität im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung steht. Anstelle der Zwei-Körper-Lehre entwirft Marek das Konzept von drei repräsentativen Körpern des Königs, das neben dem natürlichen und politischen noch den heiligen Körper beinhaltete. Ausgangspunkt ihrer Argumentation bilden die außergewöhnlichen Umstände, die den vermutlich gewaltsamen Tod und die nachträglichen Trauerfeierlichkeiten Eduards II. begleiteten. Ins Blickfeld der Untersuchung rückt damit jene Funeralzeremonie, bei der ein königliches Double erstmals eingesetzt wurde. In der Forschung hat man die Effigies Eduards II. lediglich mit staatsrechtlichen Erwägungen in Verbindung gebracht und sie dementsprechend als einen politischen Körper im Sinne Kantorowicz’ interpretiert. Marek zufolge steht dieser etablierte Deutungsansatz aber weder mit den konkreten historischen Ereignissen in Übereinstimmung, noch kann er die Tiefendimensionen der königlichen Herrschaftsrepräsentation im englischen Spätmittelalter hinreichend erfassen. Zunächst einmal ist die Zwei-Körper-Lehre erst in der englischen Staatstheorie des 16. Jahrhunderts historisch nachweisbar. In der englischen Monarchie des 14. Jahrhunderts existierte ein entsprechend elaboriertes Konzept von den zwei Körpern des Königs überhaupt noch nicht. Zum anderen setzt Kantorowicz’ staatsrechtliche Interpretation der Effigies das machtpolitische Vakuum eines Interregnums voraus, währendessen das königliche Double die Dauerhaftigkeit des politischen Königskörpers veranschaulichen sollte. Im Falle Eduards II. entstand aber kein Interregnum, da bereits knapp einen Monat nach dessen offizieller Absetzung sein Sohn Eduard III. als legitimer Thronfolger am 1. Februar 1327 gekrönt wurde und damit über 10 Monate vor der Bestattung des Vaters schon im Amt war. Zudem kann Marek überzeugend nachweisen, dass die nicht mehr erhaltene Effigies Eduards II. höchstwahrscheinlich ein ungewöhnlich veristisches Körperbild darstellte, das mit dem überindividuellen, auf Unsterblichkeit angelegten Abstraktum eines politischen Körpers kaum in Einklang zu bringen ist. In der Tat gibt es mehr Fragen als Antworten, wenn man Kantorowicz’ Zwei-Körper-Lehre auf die Effigies Eduards II. projiziert. Unter diesem Blickwinkel betrachtet, ist Mareks neuer Interpretationsversuch ebenso sinnvoll wie notwendig.

Kerngedanke ihres Ansatzes ist die Funktion der Effigies als Verkörperung des Heiligen im königlichen Bestattungszeremoniell des englischen Spätmittelalters. Schon Giorgio Agamben hat in seiner 1995 erstmals publizierten Schrift über den ‚Homo Sacer’ das königliche Double mit dem Begriff der Heiligkeit in Verbindung gebracht [2]. Allerdings liegt seiner Argumentation eine Figur des römisch-antiken Rechts zugrunde und entspricht damit nicht unbedingt mittelalterlich-christlichen Heiligkeitsvorstellungen. Auch ist es Marek zufolge durchaus problematisch, die englische Effigies des 14. Jahrhunderts als ‚Ausdruck einer im Königskörper versammelten souveränen Macht im Sinne Agambens’ zu bewerten (217). Folglich ist ihre Idee des heiligen Körpers weniger auf Agambens Theorie des ‚Homo Sacer’ ausgerichtet, sondern bezieht sich auf die schon lange etablierte Vorstellung vom König als mittelalterlichem Wunderheiler. Bereits 1924 veröffentlichte Marc Bloch seine umfassende Studie über die ‚Rois thaumaturges’ [3]. Darin untersuchte er jene seit der Mitte des 13. Jahrhunderts nachweisbaren thaumaturgischen Fähigkeiten der Könige als öffentlich wahrnehmbaren Ausdruck eines geheiligten Königtums im französischen und englischen Mittelalter. Für Marek bieten Blochs Erörterungen nun die ideale Voraussetzung, die Effigies Eduards II. als heiligen Körper zu interpretieren. Dessen wundertätige Fähigkeiten sind allerdings nur ein Gesichtspunkt im außerordentlich breit angelegten Spektrum ihrer wissenschaftlichen Argumentation.

Gerade in England lässt sich eine Tradition der heiligen Könige seit der angelsächsischen Zeit nachweisen, wobei die Gruppe der königlichen Märtyrer nicht nur zahlenmäßig eine bedeutende Rolle spielte. In der Absetzung und angeblich brutalen Ermordung Eduards II. ist dieses ‚heiligende Martyrium’ (154) wieder greifbar. Höhepunkt der königlichen Heiligenverehrung im mittelalterlichen England ist indes der Kult um Eduard den Bekenner in der Abteikirche von Westminster. Nach der Bestattung Eduards II. in der ehemaligen Abteikirche von Gloucester entwickelte sich ein vergleichbarer Heiligenkult an dessen Grab. Überdies unterschied die Krönungszeremonie bei Eduard II. erstmals eine sakrale und eine profane Thronsetzung, wodurch die Heiligkeit des mittelalterlichen Königs in neuer Form regularisiert wurde. Diese und noch andere historische Hinweise sind Indizien für Mareks These, dass in der Effigies Eduards II. nicht ein politischer Körper im Sinne Kantorowicz’, sondern ein heiliger Körper präsent war.

Anfang des 14. Jahrhunderts verdichten sich in der Person Eduards II. die unterschiedlichen Traditionsstränge königlicher Heiligkeit. Seine Absetzung und sein vermutlich gewaltsamer Tod versinnbildlichen dagegen einen Tiefpunkt in der Regierung der englischen Plantagenet-Dynastie, auf den man mit einer besonderen Bestattungszeremonie reagieren musste, um den königlichen Machtanspruch wirkungsvoll zu demonstrieren. Das englische Königshaus insistierte deshalb auf die Heiligkeit des Herrschers und damit auf den kultischen Aspekt der Monarchie. Sichtbarer Ausdruck hierfür war die Effigies, die den verstorbenen König trotz seines offenkundigen Makels in seiner Heiligkeit bestätigte und ihn vor den Augen der Öffentlichkeit rehabilitierte. Mit Mareks Interpretation wird die früheste nachweisbare Königseffigies erstmals in den konkreten politischen Kontext eingebettet. Ihre These, dass sich im Double Eduards II. der heilige Körper präsentiere, erhält dadurch das notwendige Fundament einer historisch exakt geführten Argumentation.

Erstaunlich viele Theorien aus unterschiedlichen Disziplinen werden in dieser Studie miteinander vernetzt. Der wissenschaftliche Standard einer interdisziplinären Forschung kann kaum höher gesetzt werden, auch wenn mitunter der Eindruck entsteht, dass Marek bei aller Verweisfreude auf neue Forschungsansätze ihre eigentliche Zielsetzung etwas aus den Augen verliert. Auch wäre es sinnvoll gewesen, die königlichen Doubles in der unmittelbaren Nachfolge Eduards II. sorgfältiger zu analysieren. Mit der Effigies Eduards III. setzt sich Marek nur im Bezug auf dessen Vorgänger auseinander, und der merkwürdige Tatbestand, dass Richard II. keine Effigies erhielt, wird lediglich erwähnt. Vor allem letzterer ist in seinem gewaltsamen Ende mit der tragischen Person Eduards II. durchaus vergleichbar. Der knappe Hinweis, dass in diesem Fall wohl politische Gründe für das Fehlen eines königlichen Doubles verantwortlich waren (45), reicht hierbei nicht aus. Gegenüber Kantorowicz’ staatsrechtlicher Theorie bietet Mareks These vom heiligen Körper allerdings ein weitaus überzeugenderes, weil historisch präzise nachvollziehbares Erklärungsmuster für den ersten Einsatz der Effigies im englischen Königtum. Für den wissenschaftlichen Diskurs über mittelalterliche Bildfunktionen schafft diese Studie neue Grundlagen.

Anmerkungen:
[1] Ernst H. Kantorowicz: The King’s Two Bodies. A Study in Mediaeval Political Theology, Princeton 1957 (Deutsche Ausgabe: Die zwei Körper des Königs. Eine Studie zur politischen Theologie des Mittelalters, München 1994, Kap. ‚Effigies’, S. 415-432)
[2] Giorgio Agamben: Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita, Turin 1995 (Deutsche Ausgabe: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben, Frankfurt/M. 2002, II. Teil, Kap. 5 ‚Souveräner Körper und heiliger Körper’, S. 101-113)
[3] Marc Bloch: Les rois thaumaturges. Ètudes sur le caractère surnaturel attribué à la puissance royale particulièrement en France et en Angleterre, Paris 1924 (Deutsche Ausgabe: Die wundertätigen Könige, München 1998)

Marek, Kristin: Die Körper des Königs. Effigies, Bildpolitik und Heiligkeit, Paderborn: Wilhelm Fink Verlag 2009
ISBN-13: 978-3-7705-4532-2, 310 S., EUR 22,90

Empfohlene Zitation:
Steffen Krämer: [Rezension zu:] Marek, Kristin: Die Körper des Königs. Effigies, Bildpolitik und Heiligkeit, Paderborn 2009. In: ArtHist.net, 12.09.2009. Letzter Zugriff 25.04.2024. <https://arthist.net/reviews/261>.

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