Dem Horror Vacui konnte man in Berlin - außer in den Jahren der Teilung der Stadt - offenbar noch nie mit Gelassenheit begegnen oder ihn gar als eine architektonische Chance begreifen. Und eine obrigkeitliche architektonische Gestaltungsdiktatur hat 260 Jahre Tradition: Bereits Friedrich Wilhelm I. wies 1734 im Zuge der barocken Stadterweiterung lapidar mit den Worten „Der Kerl hat Geld, soll bauen“ die Baustellen am Pariser Platz zu und legte auch gleich die Gestaltungsvorgaben fest: Vom König genehmigt wurden nur symmetrisch angelegte, schlichte zweigeschossige Barockpalais mit einem hierarchischen Gliederungsschema, das von einem Mittelrisalit mit Portikus, Giebel und Freitreppe als Zentrum des Fassadenaufbaus entwickelt wurde. Nur vier Jahre später, 1738, war der Platz vollständig bebaut. So gesehen hat die „Kritische Rekonstruktion“ - entgegen der Meinung ihrer Kritiker - einen tatsächlich historischen Zustand rekonstruiert: Auch in den Neunziger Jahren wurden durch eine übereilte Bebauung des Pariser Platzes und rigide Gestaltungsrichtlinien die Möglichkeiten für eine dynamische Stadtentwicklung buchstäblich verbaut.
Zentrale These von Matthias Pabschs neuem Buch ist, dass die technischen Revolutionen, wie die industrielle im 19. Jahrhundert und die digitale im 20. Jahrhundert den Entwurf der Architektur bestimmen, das Entwurfsdenken und das architektonische Vokabular ändern, und digitale Entwurfs- und Fertigungstechniken schließlich grundlegende, neue formale Möglichkeiten erschließen. Warum aber, so die zentrale Frage, wurden diese dann nicht für die Gestaltung des Pariser Platzes genutzt Warum gab es so ein großes Misstrauen gegenüber den neuen Möglichkeiten der zeitgenössischen Architektur (S. 7/8)
Pabsch gliedert daher seine Untersuchung nach drei Epochen, die er manuelles, industrielles und digitales Zeitalter nennt. Er beginnt mit einem historischen Überblick, um „mögliche Kontinuitäten und Gestaltungsprinzipien“ des Pariser Platzes als „Fokus architektonischer Prozesse“ herauszufinden und „die Faktoren die die Entwicklung von Architektur beeinflussen“, zu analysieren (S. 7/8).
Das Problem, die wichtigen Eckpunkte des Pariser Platzes überzeugend zu definieren, taucht bereits bei den 1734-38 von Johann Friedrich Grael errichteten Eckbauten auf. Das Palais Kamecke, das auf dem Grund des heutigen Hotel Adlon gelegen war, betonte ebenso wie sein nördliches Pendant allein die Fassade zu den Linden hin und vernachlässigte dabei jene zum Pariser Platz hin. Der Zeitdruck, unter dem damals große Baulücken zu füllen waren, führte zu einer Vereinheitlichung der Fassaden und Ausprägung von Typenbauten, die die Normierung des industrialisierten Bauens bereits andeuteten. Das Formenvokabular des Bauschmucks wurde, obwohl in Handarbeit als Unikat gefertigt, zunehmend schematisiert, so dass die Bauten des Pariser Platzes weit hinter dem Gestaltungspotential anderer barocker Bauten wie des Stadtschlosses oder des Zeughauses zurückblieben. Den Gegenentwurf zu dieser von Friedrich Wilhelm I. geförderten, monotonen architektonischen Massenproduktion zeigt das Forum Fridericianum. Mit gezielten Asymmetrien, wie der schräg in der Platzecke stehenden Hedwigskathedrale oder der Königlichen Bibliothek, deren Symmetrieachsen ins Leere hinein zu laufen scheinen, wurde gegen die Gestaltungskonventionen der barocken Idealstadt verstoßen. Dieses ironische Spiel mit Widersprüchlichkeiten, das die Unvollständigkeit zum Prinzip erhebt, findet sich erst in der Architektur der Postmoderne wieder.
Einen „Störfaktor“ und Bruch mit den barocken Gestaltungskonventionen brachte Schinkels Umbau des Palais Kamecke zum Palais Redern, dessen weitgehend schmucklose, asymmetrischen Fassaden und kubische Gesamtform den Übergang zu den Linden neu definierten. Überzeugend arbeitet Pabsch die Charakteristika der Stülerschen Bauten heraus, die den Pariser Patz im 19. Jahrhundert entscheidend prägten und für das heutige Missverständnis von Stülers Architektur, das den Vorstellungen der „Kritischen Rekonstruktion“ zugrundeliegt, entscheidende Hinweise liefern. Zwar in der Fassadengestaltung weniger radikal als Schinkel übernahm Stüler aber die Organisation der Gebäudevolumina als in sich geschlossene Kuben, die auf eine einheitliche Traufhöhe verzichteten und mit einer differenzierten Dachlandschaft den Pariser Platz belebten.
So spannend der Ansatz Pabschs ist, die Baugeschichte des Pariser Platzes in die genannten drei Zeitalter zu unterteilen, so wenig ist das industrielle Zeitalter - mit Ausnahme des Palais Redern - an der nächsten Generation der Bauten abzulesen. Während auf dem Pariser Platz nunmehr historistisch unter Einsatz von traditioneller, qualifizierter Handarbeit gebaut wurde, lassen sich die Auswirkungen der technischen Fortschritte nur in den Wettbewerben während der Weimarer Republik ablesen. Alle Entwürfe blieben ungebaut, da diese dritte Umgestaltungsphase von den Umbauplänen der Nationalsozialisten unterbrochen wurde. Erhellend ist Pabschs Vergleich vom „Linden-Wettbewerb“ von 1925 mit dem der „Ideenwerkstatt“ von 1990/1991. Beide wurden ohne einen bauwilligen Auslober und ohne konkrete Realisierungsabsichten begonnen. Vielleicht gab gerade dieser Umstand den Teilnehmern die Möglichkeit zu manchmal visionären, utopischen Entwürfen wie Ludwig Scheurers Pläne von 1925 für eine „Autostraße (früher ›Unter den Linden‹)“, der die Dynamik des Autoverkehrs in den Mittelpunkt seiner Planungen stellte, das Brandenburger Tor radikal durch einen sechzig Meter hohen Riegelbau mit Durchfahrt ersetzte und die Baumreihen durch rasende Autos. Ähnlich kompromisslos formulierte Daniel Libeskind sein Projekt „Über den Linden“ (1990/91), mit dem er zu einer Suche nach einem „geeigneten baulichen Ausdruck für das Wesen der Gegenwart“ und möglichen zeitgenössischen Bauformen auffordern wollte. Eher eine komplexe Skulptur, die an die zersplitterten Formen fraktaler Geometrie erinnert, als ein baubarer Architekturentwurf wirkt das Modell wie ein Negativabdruck der Straßenachse, da die angrenzenden Flächen unbebaut bleiben sollen. Aber auch gemäßigte Entwürfe wie jene von Josef Paul Kleihues oder Giorgio Grassi, die Rekonstruktion als Reduktion begriffen und den Pariser Platz mit geschlossenen Riegel- oder Blockrandbauten einfassten, hatten keine Chance: Das Gestaltungsgutachten zur „Kritischen Rekonstruktion“ der Berliner Innenstadt hielt - ohne weitere Begründung - einen Wettbewerb „angesichts der komplexen Aufgabe für wenig hilfreich“. Das hinderte jedoch die Autoren Bernhard Strecker und Dieter Hoffmann-Axthelm nicht, ihre Entwürfe für den Pariser Platz trotzdem an denen von Grassi und Kleihues zu orientieren.
Feinsinnig arbeitet Pabsch das Dilemma der „Kritischen Rekonstruktion“ heraus, die einen fiktiven historischen Zustand als Bezugspunkt für die Entwürfe nimmt und sich in einem eklektischen Sinne aus der Baugeschichte des Pariser Platzes bedient und dessen vielfältige Widersprüche, die die Baugeschichte und damit auch den Platz charakterisieren, einebnet: Für die Traufhöhe zum Brandenburger Tor hin werden die Bauten des 18. Jahrhunderts zugrunde gelegt, deren Maßstabsgefüge aber schon Ende des 19. Jahrhunderts bereits zerstört war, etwa durch den Neubau Ernst von Ihnes an der Nordseite, das Hotel Adlon oder den gegenüberliegenden Eckbau von Paul Mebes und Paul Emmerich. Zudem sollen die umgebenden Neubauten durch die Material- und Höhenvorgaben sich an das Brandenburger Tor anlehnen, so dass dieses aber seine architektonische Dominanz nicht wahren kann, sondern sie dadurch zu verlieren droht, besonders nach der jüngsten Entscheidung der Restauratoren, es nicht wieder wie ursprünglich weiß zu fassen. Die Gestaltungssatzung legte den Architekten ein enges Korsett auf, das kaum Experimente zuzulassen schien. Zu Recht hebt Pabsch hervor, dass das Urteil darüber, wann ein neuer architektonischer Entwurf einen baulichen Fehler bedeutet, sich über die Generationen wandelt, und die größten Abweichungen vom Normalen, Durchschnittlichen und die Brüche mit dem Gestaltungskonventionen oft zu Meilensteinen in der Architekturgeschichte wurden. Unklar bleibt aber auch hier, warum das schlagende Beispiel von Michelangelos Porta Pia wiederum nur in den Endnoten erwähnt wurde.
Am überzeugendsten ist das Kapitel über die von Frank Gehry erbaute DZ-Bank, den Pabsch als den Pionierbau der digitalen Architektur in Berlin ansieht, der auf eine Legitimation durch historische Zitate verzichtet. Ähnlich den Bahnhofsbauten des 19. Jahrhunderts verbirgt er einen revolutionären Innenbau hinter einer konventionellen Hülle. Mit einfühlsamer präziser Beschreibung arbeitet er die Details heraus, wie die Wechselwirkung zwischen der Dynamik der geneigten Glasflächen zu der in eine Pfeilerreihe aufgelösten Steinfassade. Unverständlich bleibt allerdings, warum eine so treffende Beobachtung wie die, dass eine Verkleidung mit 18 Zentimeter dicken Steinplatten angesichts sonst üblicher hauchdünner Steinverkleidungen eine sehr bewusste architektonische Aussage darstellt, in die Endnoten verbannt wird. Dorthin hätte man besser die Information, dass die von Gehry verwandte Software ursprünglich für Kampfflugzeuge entwickelt wurde und - etwas kryptisch - wegen ihrer Arbeit mit polynomen Gleichungen statt mit Polygonen für den Entwurfsprozess besser geeignet sei, verweisen sollen. Interessant sind hingegen die Ausführungen zu Gehrys Arbeitsweise: Für die amorphe Raumskulptur im Inneren fertigte er per Hand Modelle aus mit Bienenwachs gehärtetem Samt, die dann digital gescannt und mit Computern gefräst werden, so dass der Bau den formalen Reichtum von Handarbeit mit der Arbeits- und Zeitersparnis von Maschinen verbindet. Hier kommt der große Vorteil der digitalen Technik zum Tragen, mit der Unikate zu vertretbaren Kosten maschinell praktisch in Serie gefertigt werden können.
Zumindest zweifelhaft dürfte aber sein, ob auch Günter Behnischs Akademie der Künste ein solcher Pionierbau ist. Denn anders als bei seinem Entwurf für das Münchner Olympiastadium war er für die Realisierung des Akademieneubaus nicht unabdingbar auf digitale Entwurfswerkzeuge angewiesen, so dass Pabschs These hier nur schwer passt, was er auch einräumt. Hingegen sind die Zitate des Vorgängerbaus an der Fassade so abstrakt und ohne Kenntnis des alten Akademiebaus nur schwer zu verstehen, dass ein wertender Vergleich mit Josef Paul Kleihues' Haus Liebermann und Haus Sommer als Gegenentwurf interessant wäre, dessen moderne Zitate leicht zu übersehen sind.
Beeindruckend ist Pabschs Rehabilitierung des Hotel Adlon von Patzschke & Klotz. Präzise arbeitet er heraus, wie wenig der Neubau trotz vermeintlicher Ähnlichkeit mit dem Vorgängerbau gemein hat, sondern dass ähnlich wie bei Kleihues eine Strategie der gestalterischen Glättung zu beobachten ist: Kein Element des Originalbaus, das auf eine manuelle Herstellung verwies, wurde übernommen. Stattdessen sieht er seinen „unentschiedenen Charakter eines vergröberten Klassizismus“ als Zeitdokument an, das die „von der digitalen Revolution ausgelöste Suche nach identitätsstiftenden Zeichen“ verkörpert (S. 182/83). Entgegen den Stimmen vieler Architekturkritiker ist es damit nicht unzeitgemäß, weil es vielmehr exakt die Bedingungen seiner Gegenwart widerspiegelt, die zu seiner Entstehung führten. Als solcher Versuch, die moderne Architektur abzulösen, könnte es doch vielleicht eines Tages unter Denkmalschutz gestellt werden.
Differenzierter und ironischer ging Michael Wilford mit den Vorgaben der Gestaltungssatzung um. Die Britische Botschaft prägt der Gegensatz zwischen Fassade und Gebäudeinnerem, der allerdings kein neues Phänomen der digitalen Revolution ist, wie Pabsch anzudeuten scheint, sondern seit der Architektur der Postmoderne Ende der siebziger Jahre verwandt wird. Auch erwähnt Pabsch leider nicht, dass die Sandsteinfassade der oberen Stockwerke geschickt eine dahinterliegende zweite, durchgehende Stahl-Glasfassade verbirgt. Schließlich hätte problematisiert werden können, ob Einzelformen wie der violette, zylindrische Konferenzsaal oder der sich schräg in den Straßenraum schiebende hellblaue Körper tatsächlich „miteinander komplexe Zusammenhänge [bilden], die der Universalität des Binärcodes im digitalen Zeitalter entsprechen [und] die künstlich-bunte Farbgebung den Bonbontönen der Computerpalette entnommen“ ist (S. 189). Naheliegender wäre, dass sie als Elemente der Pop Art auf eine zumindest auch in Großbritannien entstandene Kunstrichtung verweisen und damit bewusst als Mittel einer nationalen Repräsentation eingesetzt werden. Gerade die Innengestaltung verweist mit den Materialien Glas, Stahl und Sichtbeton und durchgehend streng geometrischen Formen eher auf eine Industrieästhetik als auf die digital entworfenen, amorphen Formen Gehrys.
Innerhalb der Architektur des Pariser Platzes markieren die Bauten von Josef Paul Kleihues (Haus Liebermann und Haus Sommer) sowie das Hotel Adlon (Patzschke & Klotz) den einen Extrempol als eine Rückversicherung an möglicherweise unzeitgemäße Gestaltungen im Sinne eines Historismus gegenüber eigenständigen Lösungen wie jenen von Frank Gehry (DZ-Bank), Günter Behnisch (Akademie der Künste) oder der französischen Botschaft (Christian de Portzamparc), die eine weitere architektonische Entwicklung andeuten.
Offen bleibt, an welche Zielgruppe sich das Buch wenden will. Während für Architekten und Architekturhistoriker zu viele bekannte Fakten zur Berliner Stadtplanung wiederholt werden, bei denen ein Verweis auf die Sekundärliteratur ausreichend gewesen wäre, so dass der Text stellenweise langatmig zu werden oder beispielsweise bei allgemeinen Ausführungen zur Geschichte der Computer (S. 117 ff.)zu verflachen droht, sind diese zugleich für Laien ohne einschlägige Vorkenntnisse zu knapp abgehandelt. Hier wäre es wünschenswert gewesen, das Werk zu verknappen oder zumindest für die Veröffentlichung zu kürzen.
Mattias Pabsch gelingt jedoch - und das ist eines der großen Verdienste des Buches - die Ehrenrettung des Gestaltungssatzungsdiktats der „Kritischen Rekonstruktion“. Während diese die Architekten provozierte, ihre Grenzen auszuloten oder sogar zu überschreiten, und gerade aus dieser „Fessel“ möglicherweise erst Entwürfe wie jener Gehrys überhaupt entstanden und so zu einer extremen Positionierung führten, wären bei einem Wettbewerbsverfahren wie beim Potsdamer Platz die Gegensätze bei der Suche nach einem mehrheitsfähigen Kompromiss eher abgeschliffen worden. So wurde der Pariser Platz zu einer Schnittstelle zwischen den Ästhetiken des industriellen und des digitalen Zeitalters und dokumentiert die Formenprobleme, die mit dem Aufbruch ins digitale Zeitalter verbunden sind.
Pabsch, Matthias: Pariser Platz - Architektur und Technik. Vom manuellen zum digitalen Zeitalter, Berlin: Reimer-Verlag 2002
ISBN-10: 3-496-01259-5, 248 S., 124 schwarzweiße Abbildungen, 29,90/34,90 Euro, 53,00 SFR
Empfohlene Zitation:
Lucas Elmenhorst: [Rezension zu:] Pabsch, Matthias: Pariser Platz - Architektur und Technik. Vom manuellen zum digitalen Zeitalter, Berlin 2002. In: ArtHist.net, 11.09.2003. Letzter Zugriff 27.12.2024. <https://arthist.net/reviews/25902>.
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