REV 31.07.2003

Bering, Kunibert: Kunst des frühen Mittelalters

Rezensiert von Thomas Labusiak, Portal zur Geschichte
Redaktion: Philipp Zitzlsperger

Mit seiner Reihe „Kunst-Epochen“ verfolgt der Stuttgarter Reclam-Verlag ein ambitioniertes Projekt, das, wie der Klappentext verheißt, „Grundlagen zum Verständnis der Kunst vom Frühchristentum bis zur Gegenwart“ liefern möchte. Chronologisch auf zwölf Bände verteilt, bietet das Reihenwerk kunsthistorische Einführungen, objektbezogene Einzelbetrachtungen und ausgesuchte Quellen, die dem Leser den kunsthistorisch-geistesgeschichtlichen Horizont der jeweiligen Epoche näher bringen sollen.

Der letzte Versuch einer umfassenden, chronologisch-thematischen Darstellung liegt mit dem Kernbestand der vielbändigen Kunstgeschichte des Propyläen-Verlags geraume Zeit zurück. In ähnlicher Weise ist die im englischen Sprachraum unübertroffene Pelican-History konzipiert, deren einzelne Bände allerdings, zusätzlich noch nach Ländern und Gattungen unterteilt, in einem Zeitraum von mehreren Jahrzehnten publiziert wurden. In gleichermaßen lockerer Publikationsdisziplin erschienen bislang die nach chronologischen und meist auch topographischen Gesichtspunkten aufgeteilten Bände der von André Malraux begründeten Reihe, die in Deutschland unter dem anspruchsvollen Titel „Universum der Kunst“ ediert wurde. Die Epochendarstellungen weiterer Verlage aus jüngerer Zeit wuchsen trotz meist seriöser Autoren über das Niveau nützlicher Bilderbücher selten hinaus. Zusammenfassende Überblicke auf dem Stand aktueller Forschung bieten dagegen in der Regel die Kataloge epochenbezogener Ausstellungen, in denen meist eine Unzahl von Aspekten von ebenso vielen Autoren beleuchtet wird. Das entspricht dem Bild einer Wissenschaft, deren Forscher ihr Interessengebiet in immer feinere Fasern sezieren. Der Blick auf größere Zusammenhänge schien manchem bereits verpönt. Um so mehr verwundert es, dass für die einzelnen Bände der Stuttgarter Epochenreihe trotzdem einzelne Autoren gefunden werden konnten.

Seit Herbst 2002 liegt nun der in der Reihenzählung zweite Band zur „Kunst des frühen Mittelalters“ vor. Geschrieben hat ihn Kunibert Bering, der 1978 bei Manfred Wundram über Fra Angelico promovierte und heute an der Akademie der Künste zu Düsseldorf Didaktik der Kunst lehrt. Der Betrachtungszeitraum des Buches umfaßt etwa 250 Jahre, von der Herrschaft Karls des Großen bis zum Tode Heinrichs II. im Jahr 1024, also die gesamte karolingische und ottonische Kunst. In salische Zeit führen gelegentliche Ausflüge, die im Rahmen stilistischer Zusammenhänge und Entwicklungsreihen sinnvoll sind, wie etwa zur Kölner Buchmalerei, die stilistisch der ottonischen Zeit verpflichtet ist, historisch aber größtenteils erst unter salischer Herrschaft stattfindet.

Auf eine historische Einführung folgen zunächst drei große Kapitel, die sich den Gattungen Architektur, Skulptur mit Toreutik und Malerei mit Mosaik widmen. In einem zweiten Durchlauf werden katalogartig etwa 50 Vertreter der genannten Gattungen als „Werkbeispiele“ geliefert. Als eine Art Anhang verstehen sich ausgewählte, ins Deutsche übertragene Quellen. Neben Texten als „Grundlagen des frühmittelalterlichen Kunstverständnisses“ und zu „Auftraggeber und Stifter“ wurden sie hauptsächlich nach obiger Gattungsordnung ausgesucht und gruppiert. Am Ende folgen noch einige Worte des Autors zum Themenkomplex „Künstler und Auftraggeber“. Literaturverzeichnis und Register beschließen das Werk. Den insgesamt etwa 300 Textseiten sind 38 Schwarzweiß-Reproduktionen und Strichzeichnungen beigegeben.

Kunibert Bering liefert im Fließtext keine reine Objektgeschichte, sondern ist stets bemüht, seine Leser auch über den geistesgeschichtlichen Hintergrund zu informieren, vor dem die Kunstwerke entstanden sind. So geht er zu Recht ausführlich auf den byzantinischen Bilderstreit ein, der bekanntlich auch auf die Kunst des Abendlandes Auswirkungen zeigte. Gleiches gilt für die Werkbeispiele, die auf durchschnittlich zwei Textseiten morphologische Analysen und funktionsgeschichtliche Entwicklungsreihen mit Informationen zum kulturhistorischen Hintergrund verknüpfen. Dabei werden die behandelten Objekte oftmals zu sehr auf ihre „Zeichenhaftigkeit“ reduziert, ihre möglichen Vorlagen gerieren dementsprechend polit-puristisch zum „Zeichen-Reservoir“ (S. 109, 112). So ist es unter dieser Prämisse auch konsequent, dem Elfenbeindeckel des Lorscher Evangeliars aus der Hofschule Karls des Großen „Bildpropaganda“ zu unterstellen (S. 220). Bedenkt man jedoch, wer als Zeitgenosse überhaupt die Möglichkeit hatte, ein Kunstwerk dieser Kategorie eingehender zu betrachten, erweist sich nicht nur der Begriff als unglücklich, sondern die gesamte Überlegung als zu modern gedacht.

Die Auswahl der angeführten Objekte beschränkt sich weitgehend auf die karolingischen und ottonischen Reichsgebiete, vereinzelte Ausflüge werden nach Rom und Spanien unternommen. Fast unbeachtet bleiben dagegen Werke des insularen und anglo-sächsischen Kulturkreises. Das ist nicht nur aufgrund der weitreichenden Bedeutung insularer Handschriften in der Entwicklung der kontinentalen Buchmalerei, vor allem auf dem Gebiet der Ornamentik, zu bedauern: Dem Leser werden einige der eindrucksvollsten Schöpfungen des frühen Mittelalters vorenthalten. Die byzantinische Kunst wird ebenfalls größtenteils ausgeklammert, allerdings sieht die editorische Konzeption der Reihe hier einen eigenen Band vor. Innerhalb der genannten topographischen Grenzen liefert der Autor jedoch einen weitgehend repräsentativen Querschnitt, auch wenn im Fließtext der kontroversen Forschungsdiskussion um das „Westwerk“ frühmittelalterlicher Kirchenbauten fast ebenso viel Platz eingeräumt wird wie der gesamten karolingischen Elfenbeinskulptur. Auf die Elfenbeinkunst in Reims, Metz und der Hofschule Karls des Kahlen entfallen dabei nur knappe zwei Seiten. Ausführlicher widmet sich der Autor hingegen den karolingischen und ottonischen Skriptorien, nachdem er auch auf die teilweise nur aus schriftlicher Überlieferung bekannten, monumentalen Werke der Malerei und Mosaikkunst eingeht. Die verschiedenen Skriptorien werden ihrer Bedeutung bzw. Überlieferung gemäß mehr oder weniger breit mit Eckdaten und Hauptwerken vorgestellt, wobei der Einsteiger besonders dankbar für die in Tabellenform zusammengetragenen, wichtigsten Handschriften der einzelnen Schulen sein wird (nicht ohne Schönheitsfehler: Aufbewahrungsort des Mainzer Gebetbuchs Ottos III. ist schon längst nicht mehr Pommersfelden (S. 145), sondern die Bayerische Staatsbibliothek, die die Handschrift 1994 als Clm. 30111 ankaufte und 1995 in einem Patrimonia-Heft der Kulturstifter der Länder (Nr. 84) publizierte. In der Echternacher Tabelle (S. 159) fehlt mit dem Codex Aureus Epternacensis zu Nürnberg, ehemals Gotha, eine der wichtigsten und reichsten Handschriften des Skriptoriums). Leider werden Salzburg und das hervorragend überlieferte St. Gallen mit einer randständigen Bemerkung abgehandelt (S. 137), ließe sich doch hier ein kontinuierlicher Übergang der karolingischen zur ottonischen Epoche zeigen, der die im sonstigen Reichsgebiet reichlich unsteten Zustände zumindest etwas relativiert.

Im seriellen System von Fließtext und Werkbeispielen lassen sich Redundanzen kaum vermeiden. Ob dies in der Mehrfachverwendung ganzer Sätze gipfeln muß, wie bei der Beschreibung bzw. Analyse des Evangelistenbildes im Aachener Schatzkammer-Evangeliar (S. 130 und 253), sei dahin gestellt. Vielleicht wäre aber besser den Bemerkungen zu Künstler und Auftraggeber, die den Leser im Anschluss an den Quellenteil überraschen, mehr Platz eingeräumt worden. Die Beurteilung von Kunstschaffendem und Stifter im frühen Mittelalter zählt sicher zu den schwierigsten Problemen der mediävistischen Kunstgeschichte und ist auf weniger als zehn Seiten nur schwer zu leisten.

Ein klarer Nachteil des vorliegenden Buches gegenüber den eingangs zitierten Epochendarstellungen ist seine magere und gelegentlich auch inkonsequente Illustrierung. So läßt sich etwa das Phänomen der zeitgleichen, stilistisch aber diametral auseinander liegenden Miniaturengruppen aus dem Umkreis Karls des Großen anhand der Analyse der Evangelistenbilder des Aachener Schatzkammer-Evangeliars und der Trierer Ada-Handschrift trotz ausführlicher Beschreibung ohne Abbildung beider Beispiele nicht nachvollziehen (S. 251ff.). Leider wurde es versäumt, diesen Mangel durch gezielte Abbildungshinweise in Sekundärliteratur auszugleichen, die dem Einsteiger in die frühmittelalterliche Kunst sehr hilfreich gewesen wären.

Noch einige kritische Bemerkungen zu Text und Inhalt. Die Brüsseler Elfenbeintafeln aus Genoels-Elderen werden schon lange nicht mehr unter Hinweis auf das Godescalc-Evangelistar (das gelegentlich auch als „Godescalc-Evangeliar“ bezeichnet wird (S. 114)) an den Beginn der Hofschule Karls des Großen gesetzt (S. 91), wie dies Adolph Goldschmidt 1914 unternahm. Vielmehr machten bereits Wilhelm Köhler und später Bernhard Bischoff eine insulare Entstehung wahrscheinlich – eine heute in der Forschung allgemein akzeptierte These.

Dass die sogenannte Cathedra Petri, ein Elfenbeinthron, der höchstwahrscheinlich von Karl dem Kahlen nach Rom gegeben und von Gianlorenzo Bernini in die Apsisgestaltung von St. Peter integriert wurde, erst 1970 „wiedergefunden“ wurde (S. 96), ist nicht zutreffend. Der Aufbewahrungsort dieser wichtigen Reliquie war immer bekannt, mehrfach wurde sie auch beschrieben, nur eine wissenschaftliche Untersuchung wurde durch ihren Reliquiencharakter erschwert (vgl. etwa Adolph Goldschmidt, Lebenserinnerungen, Berlin 1989, S. 337-340, der dies 1932 erfolglos versuchte).

Das Reichenauer Evangeliar Clm. 4453 in München als Evangeliar Heinrichs II. zu bezeichnen (S. 143 und 155f.), gibt sicher nicht die – etwas zu salopp als „ältere Forschung“ abgetane - opinio communis wieder, die die Prachthandschrift mit guten Gründen immer noch Evangeliar Ottos III. nennt. Und schließlich stammt das den frühen Reichenauer Handschriften zugeordnete Sakramentarfragment in Leipzig eben nicht von der Reichenau (S. 152), wie Bering schreibt, sondern aus Corvey, ist aber einem Reichenauer Evangelistar vorgebunden. Es ließen sich weitere Unschärfen und Flüchtigkeitsfehler dieser Art anfügen.

Dem Literaturverzeichnis fehlen zudem essentielle Titel. Zwar wird selbst jüngste Literatur wie der Katalog der umstrittenen Bamberger Ausstellung zu Heinrich II. (2002) aufgeführt [1]. Verdiente ältere Arbeiten, wie etwa das monumentale Werk von Peter Bloch und Hermann Schnitzler zur ottonischen Kölner Buchmalerei [2] finden jedoch ebenso wenig Erwähnung wie jüngere monographische Arbeiten zu Bauwerken [3], Elfenbeinskulpturen [4], Skriptorien [5] oder Handschriften [6]. Das Register beschränkt sich auf Personen und Orte, Objekte sucht man vergebens. Wer etwa Informationen zu den Bronzetüren der Aachener Pfalzkapelle sucht, muß sich durch 44 (!) Seitenangaben zu „Aachen“ wühlen. Der heutige Aufbewahrungsort des Baseler Antependiums (Paris, Musée de Cluny) erschließt sich dagegen weder aus dem Text noch aus dem Register, wo es eben mit der Ortsangabe „Basel“ verknüpft ist. Ein wenig aufgefangen wird das mangelhafte Register durch das sehr ausführliche Inhaltsverzeichnis, das auch ein punktuelles Lesen, vor allem der Werkbeispiele, ermöglicht.

Insgesamt liefert Kunibert Bering eine brauchbare Einführung in die Thematik, mit den wichtigsten Beispielen in einem gut lesbaren Text, der die reine Kunstgeschichte in ihren politischen und geistigen Kontext rückt. Bei guten 300 Seiten müssen bei solch einer Aufgabenstellung notgedrungen bestimmte Dinge zu kurz kommen, dem Autor ist aber die Gratwanderung zwischen Überblick und Tiefgang durchaus gelungen. Dass all das für einen Preis unter 8 Euro zu bekommen ist, macht die Anschaffung besonders für Einsteiger in die frühmittelalterliche Zeit zu einem echten Gewinn. Darüber hinaus paßt das Buch in bekannter Reclam-Manier in jede Tasche und wird so zum idealen Begleiter für denjenigen, der auch am Badesee nicht auf anspruchsvolle, kunsthistorische Lektüre verzichten möchte. In dieser Hinsicht ist der Band allen Prachtausgaben überlegen.

[1] Josef Kirmeier / Bernd Schneidmueller / Stefan Weinfurtner u.a. (Hrsg.): Kaiser Heinrich II. 1002-1024. Begleitband zur Bayerischen Landesausstellung 2002 (Bamberg, 9.7. - 20.10.2002). Stuttgart, Theiss 2002, rezensiert von Klaus Gereon Beuckers, in: sehepunkte 3 (2003), Nr. 2.
[2] Peter Bloch / Hermann Schnitzler: Die ottonische Kölner Malerschule, 2 Bände, Düsseldorf 1967 und 1970.
[3] Zum Beispiel Helge Wittmann (Hrsg.): Memleben. Königspfalz-Reichskloster-Propstei, Petersberg 2001. Der Hinweis auf ein Desiderat (S. 74) ist damit obsolet. [4] Zum Beispiel Margaret Ribbert: Untersuchungen zu den Elfenbeinarbeiten der Älteren Metzer Gruppe, Bonn 1992.
[5] Zum Beispiel Claudia Höhl, Ottonische Buchmalerei in Prüm, Frankfurt a. Main 1996.
[6] Zum Beispiel Adam S. Cohen: The Uta-Codex. Art, Philosophy and Reform in Eleventh-Century Germany, Pennsylvania 2000.

Bering, Kunibert: Kunst des frühen Mittelalters, Stuttgart: Reclam 2013
ISBN-10: 3-15-018169-0, 342 S., Euro 7,60

Empfohlene Zitation:
Thomas Labusiak: [Rezension zu:] Bering, Kunibert: Kunst des frühen Mittelalters, Stuttgart 2013. In: ArtHist.net, 31.07.2003. Letzter Zugriff 19.04.2024. <https://arthist.net/reviews/25795>.

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