REV 21.07.2003

Jessica Ullrich: Wächserne Körper

Rezensiert von Käthe Wenzel
Redaktion: Philipp Zitzlsperger

Als Material ist Wachs in seinen Verwendungen und Konnotationen verhältnismäßig gut erforscht. Technische, medizingeschichtliche, kunst- und kulturhistorische Untersuchungen belegen seine vielfältigen Verwendungen in Hausgebrauch und Kunst, in Religion und Medizin, ebenso wie seine komplexen symbolischen Bezüge. Julius v. Schlosser [1] und Aby Warburg [2] haben die Bedeutung porträthafter Wachsgaben für die Kunst der italienischen Renaissance beschrieben, Heike Kleindienst [3] und andere haben sich mit den faszinierenden anatomischen Wachsmodellen in Florenz, Wien, Bologna und andernorts beschäftigt, und Thomas Schnalkes [4] Werk über naturgetreue Nachbildungen von Krankheitsbildern in Wachs gehört zur Pflichtlektüre für jeden, der sich mit diesem komplexen Stoff auseinandersetzen will, sei es medizinisch, historisch oder in der praktischen Anwendung. Einen bis heute gültigen Rundumschlag wagte Reinhard Büll [5], der in seinem Buch so gut wie jeden Aspekt historischer Wachsbildnerei versammelt zu haben scheint, von der antiken Totenmaske bis zur kunstvoll modellierten und bossierten Prunkkerze. Ob sie nun eher kompilierenden oder auswertenden Charakter haben, gemeinsam ist diesen Beiträgen die historische Perspektive und häufig das Bemühen um zeitliche Einordnungen und die Untersuchung chronologischer Zusammenhänge.

Jessica Ullrich ist die erste, die das Augenmerk explizit auf den Gebrauch von Wachs in der zeitgenössischen Kunst richtet – und die sich gegen den Versuch einer chronologischen Untersuchung zugunsten einer themenorientierten Herangehensweise entschlossen hat. Das Wachs mit seinen körperhaften Qualitäten stellte für die Kunst der neunziger Jahre mit ihrem Bedürfnis nach organischen Materialien und drastischen Darstellungen einen nahezu idealen Werkstoff dar. Dies belegt seine Verwendung durch international renommierte Künstlerinnen und Künstler wie Bruce Naumann, Robert Gober, Kiki Smith oder Robert Wilson, aber auch durch viele jüngere Künstlerinnen und Künstler. Es ist Ullrichs Verdienst und eine weitere Stärke ihrer Arbeit, dass sie sich nicht darauf beschränkt hat, bereits publizierte Kunstwerke zu zitieren, sondern dass sie eine Vielzahl von Beispielen jenseits der Bibliotheken, auf Ausstellungen und an Kunsthochschulen gefunden hat. Selten bis gar nicht ist es unternommen worden, sich diesen Arbeiten über das Material zu nähern, obwohl der Gedanke nahezuliegen scheint, und die Fülle der von Ullrich zusammengetragenen Werke und die Ergebnisse ihrer scharfsinnigen Untersuchungen zeigen, als wie überaus lohnend sich ihre Herangehensweise erwiesen hat.

Seine historischen Verwendungen als Doppelgänger oder Fleisch-Substitut in Kunst und Kult und seine grenzgängerischen Einsätze bei der Herstellung anatomischer Modelle haben das Wachs im Zusammenhang mit der Körper-Diskussion unter neuen Aspekten ins Licht der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit gerückt, und es sind eben diese Bedeutungen des Materials, auf die die zeitgenössische Kunst rekurriert. „Das Aufzeigen bildlicher Kontinuitäten als integrale Bestandteile des Vokabulars der zeitgenössischen Kunst“ (S. 13f.) ist dementsprechend eines von Ullrichs ersten Anliegen. Die schiere Masse des Materials, die eine solche Darstellung eines Werkstoffs anhand zeitgenössischer Kunstwerke vor einem historischen Tiefenhintergrund bis in die Antike mit sich bringt, hat Ullrich ebenso elegant wie methodisch sinnvoll in den Griff bekommen. Indem sie sich entscheidet, „kein Inventar, noch eine Typologie von Wachswerken (...), noch eine gleichmäßige, chronologische Geschichte der Wachsbildnerei“ (S. 13) anzulegen, entgeht sie der Falle des enzyklopädischen Anhäufens. Stattdessen erschließt sie das umfangreiche Gebiet über die Themen- und Motivkomplexe des Fragments, der Anatomie, der Vergänglichkeit, der magisch-religiösen Verwendungen und Bezüge von Wachs sowie der „Simulakra“ und Doppelgänger. In enger Verbindung untersucht Ullrich in jedem Abschnitt zeitgenössische Kunstwerke und historische Wachsobjekte und –verwendungen. Erläuterungen zu Wachs und Totenkult beispielsweise verbindet sie dabei unmittelbar mit der Betrachtung ausgewählter Arbeiten von Bärbel Rothaar, Laura Leigh Bruce und Anne Schneider. Auf diese Weise gelingt es ihr, die enge Verzahnung zeitgenössischer und historischer Bedeutungsebenen aus immer neuen Blickwinkeln zu beleuchten. Es entsteht ein dichter Text, in dem sich die Diskussion aktueller Problematiken und historische Tiefenschärfe gegenseitig bedingen und erzeugen. Das überwältigend reiche Gebiet der Wachskunst in Geschichte und Gegenwart wird hier in einer philosophischen und kunsthistorischen Aktualität und in einer ikonografischen Ordnung und Präzision neu aufgefächert, welche die bisher vorhandene Literatur nicht leisten konnte.

Laura Leigh Bruces Arbeit „Self-Portrait: Age 35 (in my beginning is my end)“ von 1995 beispielsweise besteht aus dem Gipsabdruck vom Körper der Künstlerin und dem daraus angefertigten Wachsporträt. Die Gipsform, in geschlossenem Zustand ausgestellt, umfasst wie ein ägyptischer Sarkophag die in ihm enthaltene Abwesenheit des abgeformten Körpers. Das dazugehörige Wachpositiv ist als mittelbarer Abdruck mit dem ursprünglichen Körper noch näher verbunden als ein frei nachgebildetes Porträt. Es thematisiert auf widersprüchliche Weise ebenso wie die Schalen der Gipsform die Abwesenheit und die Vergänglichkeit des nachgeformten Körpers, der schon jetzt, wenige Jahre nach Entstehung der Arbeit, seine Gestalt verändert hat. Hohlform und Abdruck fungieren in Bruces Arbeit als Stellvertreter, die eben durch ihre Stellvertretung das Fehlen des Originals schmerzhaft betonen (S. 152). Sie erscheinen wie ein fernes Echo auf die Wachsmasken, die die Römer ihren Verstorbenen abnahmen, um sie in den Hausschreinen aufzubewahren, und die als Masken Hohlform und Abdruck in sich vereinigten.

Andere Werke, wie die zerknautschten, mißhandelten und bis zur Unkenntlichkeit mit Wachs überzogenen Puppenfragmente, mit denen Anne Schneider arbeitet (S. 153f), oder wie die wächsernen Körperfragmente Paul Theks oder Robert Gobers, thematisieren auf direktere und brutalere Weise Gewalt, Verletzung und Tod. Ullrich bemerkt zurecht, dass die Fügbarkeit des Materials ebenso zu erotischer wie aggressiver Bearbeitung einlädt: „Eine beinahe sadistische Lust am Zergliedern und eine Freude am zerstörerischen Vorgehen scheint dem Material Wachs (...) gleichsam eingeschrieben zu sein“ (S. 153).

Der Nachteil von Ullrichs Methode zeigt sich dort, wo die sorgfältige Verknüpfung von Geschichte und Werkbetrachtung aus dem Ruder läuft und der Text einen schwindelerregenden Rundumschlag von Paul Thek über Gaetano Zumbo, Michael Newman und Georges Bataille zu Kiki Smith und Robert Gober in nur zweieinhalb Seiten vollführt (S. 82-84). Vielfach wäre es wünschenswert gewesen, das Werk zu verknappen oder zumindest für die Veröffentlichung zu kürzen. So droht die Aufarbeitung der vorhandenen Grundlagen und die gewissenhafte Darlegung der eigenen Methodik den Text an mehreren Stellen zu verflachen, was bedauerlich ist. Feststellungen wie die, „... dass die Kirche der Reformation das Rationale und Verbale höher bewertet, also eher eine Kultur des Wortes vertritt, während die katholische für eine Kultur des Bildes steht“ (S. 238) sind für den persönlichen Arbeitsprozess beim Schreiben notwendig, in einer kunstwissenschaftlichen Publikation im deutschen Sprachraum aber überflüssig. Dies betrifft vor allem einleitende Passagen, die immer dort an Dichte verlieren, wo Ullrich wiederholt, was in der Sekundärliteratur bereits geleistet worden ist, und wo die aufgezählten historischen Fakten eben noch nicht „dem Argument untergeordnet“ (S. 16) und mit der Betrachtung der zeitgenössischen Ausprägungen von Wachskunst verbunden sind, wie sie es im Vorwort als Ziel formuliert hatte. Die klarsichtige Erkenntnis, dass ein so weiter Bereich wie der der Wachskunst nur über die präzise Definition von Themenkomplexen und die streng exemplarische Betrachtung in seiner Gänze dargestellt werden kann, macht die Stärke von Jessica Ullrichs Arbeit aus. Es ist schade, dass sie nicht – im Vertrauen auf die reale Funktionalität der Diskurstheorie, der sie in ihrem Text auch sonst Rechnung trägt – sich ab und an auf den Verweis auf die Sekundärliteratur beschränkt hat. Dies hätte dem Text zu größerer Schlankheit und Klarheit verholfen, und vielleicht auch den Reimer-Verlag dazu bewegen können, dem quälend beengten Druckbild etwas mehr Raum zuzugestehen.

Die Zweckmäßigkeit von Ullrichs themenorientierter Herangehensweise über die schriftliche Erarbeitung des Themas hinaus, hat der Erfolg der von ihr kuratierten Ausstellung „Wächserne Identitäten. Figürliche Wachsplastik am Ende des 20. Jahrhunderts“ im Georg-Kolbe-Museum in Berlin im Sommer 2002 bewiesen. Diese überzeugende praktische Umsetzung bestätigt unabhängig von aller Wissenschaftskritik die Stabilität von Ullrichs Überlegungen und die Integrität ihrer Auseinandersetzung.

[1] Julius v. Schlosser: Geschichte der Porträtbildnerei in Wachs. Ein Versuch. In: Jahrbuch der Kunsthistorischen Sammlungen des allerhöchsten Kaiserhauses, Bd. 29. Wien/Leipzig 1910/1911. S.171-258.
[2] Aby Warburg: Italienische Kunst und internationale Astrologie im Palazzo Schifanoia zu Ferrara. In: D. Wuttke (Hg.): Ausgewählte Schriften und Würdigungen. Baden-Baden 1992. S.
[3] Heike Kleindienst: Ästhetisierte Anatomie aus Wachs. Ursprung - Genese- Integration. Marburg 1989.
[4] Thomas Schnalke: Diseases in Wax. the History of the Medical Moulage. Chicago u.a.1995.
[5] Reinhard Büll: Das große Buch vom Wachs. Geschichte, Kultur, Technik. München 1977.

Ullrich, Jessica: Wächserne Körper. Zeitgenössische Wachsplastik im kulturhistorischen Kontext, Berlin: Reimer-Verlag 2003
ISBN-10: 3-496-01270-6, 351 S., 4 Farbtafeln und 82 s/w Abb., 49,90 €

Empfohlene Zitation:
Käthe Wenzel: [Rezension zu:] Ullrich, Jessica: Wächserne Körper. Zeitgenössische Wachsplastik im kulturhistorischen Kontext, Berlin 2003. In: ArtHist.net, 21.07.2003. Letzter Zugriff 19.04.2024. <https://arthist.net/reviews/25776>.

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