REV-EX 23.02.2002

Jacob van Ruisdael. Die Revolution der Landschaft

Hamburg, Kunsthalle, 18.01.–01.04.2002
Haarlem, Frans Hals Museum, 27. April - 29. Juli 2002

Rezensiert von Elke Werner
Redaktion: Rainer Donandt
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Die Hamburger Kunsthalle widmet erstmals in Deutschland dem hollaendischen Landschaftsmaler Jacob van Ruisdael eine Ausstellung. Von den ueber 700 heute bekannten Werken Ruisdaels [1] - allesamt Landschaften - werden in Hamburg etwas mehr als 30 gezeigt, ergaenzt durch Arbeiten von Vorlaeufern, Weggefaehrten und Nachfolgern, wie Salomon van Ruysdael, Jan van Goyen oder Meindert Hobbema. Die mit 50 Gemaelden und einem Kabinett fuer Zeichnungen uebersichtliche Aus- stellung konzentriert sich auf die Fruehzeit Ruisdaels, auf die bisher weniger beachteten Haarlemer Jahre von 1646 bis 1555, im Unterschied zur ersten Ruisdael-Ausstellung 1981/82 in Den Haag und Cambridge/Mass., die alle Schaffensphasen umfasste. Mit dieser Eingrenzung ist die zentrale These der Ausstellung verknuepft, dass in den fruehen Arbeiten bereits alle fuer das Spaetwerk signifikanten Gestaltungsmittel ent- halten seien, dass sich hier schon sorgfaeltige Naturbeobachtung und dramatisierende Kompositionsprinzipien auf ganz eigenstaendige Weise mit- einander verbinden. Diese thesenorientierte Konzeption ist ein Gluecksgriff fuer eine monographische und auf eine Gattung beschraenkte Ausstellung, da sie einen argumentativen Bogen spannt, der sich am anschaulichen Bestand ueberpruefen laesst und so den Ausstellungsbesuch zu einem intensiven Seherlebnis werden laesst.

Ueber den fruehen Ruisdael sind wir durch biographische Quellen besser informiert als ueber seine spaeteren Jahre. Er wurde 1628 oder 1629 im prosperierenden Haarlem als Sohn Isaack van Ruisdaels geboren, einem Rahmenmacher, der ebenso wie Isaacks juengerer Bruder, Salomon, auch Landschaften malte. Es wird vermutet, dass Jacob die erste Ausbildung in der Werkstatt seines Vaters erhielt. 1646 praesentierte der Siebzehnjaehrige seine ersten signierten und datierten Werke in der Kunsthandlung seines Onkels Salomon, von denen bisher dreizehn bekannt sind. Fuer die Ausstellung konnten immerhin acht dieser fruehen Werke aus internationalem Museums- und Privatbesitz zusammengetragen werden. 1648 wurde er in die St. Lukasgilde seiner Heimatstadt aufgenommen. Um 1650 reiste er mit Nicolaes Berchem in das westfaelische Bentheim im deutsch-niederlaendischen Grenzgebiet; eine ganze Reihe von Gemaelden und Zeichnungen dokumentieren den Ertrag dieser Reise. Um 1655 siedelte er nach Amsterdam ueber, das nach dem wirtschaftlichen Niedergang Haarlems bessere Absatzmoeglichkeiten fuer seine Kunst versprach. Kurz vor seinem Tod 1682 muss er nach Haarlem zurueckgekehrt sein, wo er in der St. Bavokerk beerdigt wurde.

Obwohl die Ausstellung sich auf das Fruehwerk konzentriert, sind auch einige bemerkenswerte Werke der reifen Phase vertreten, darunter die „Ikonen der Ruisdael-Rezeption“, der Dresdener „Judenfriedhof“ (um 1655) und der „Muehle von Wijk“ (um 1670) aus dem Amsterdamer Rijksmuseum. In benachbarten Kabinetten wird zudem mit Werken aus eigenem Besitz ein Ueberblick ueber die Themen und Motive der hollaendischen Landschafts- malerei vom ausgehenden 16. Jahrhundert bis in die 80er Jahre des 17. Jahrhunderts geboten.

Ein zweites Anliegen der Ausstellung ist die Abkehr von einer ikono- graphischen Deutung der Werke, nach der eine Windmuehle als Symbol fuer den kreuztragenden Christus, ein abgestorbener Baum als Vanitassymbol oder ein stuermisches Gewitter als Gottesstrafe zu verstehen sind. Statt dessen will Martina Sitt, die Hamburger Kustodin, die in Zusammenarbeit mit dem Haarlemer Frans Hals Museum die Schau konzipierte, die malerischen Qualitaeten und vor allem die Maltechnik Ruisdaels einer Neubewertung unterziehen. Mithilfe von Roentgenuntersuchungen untersuchte sie an zehn Werken die mit Bleiweiss ausgefuehrte Untermalung. Die Auswertung der technischen Untersuchungen bestaetigt die auch mit blossem Auge ersicht- lichen Unterschiede zwischen Ruisdael und seinen Vorlaeufern. Im Gegensatz zu deren atmosphaerisch vereinheitlichten, gleichmaessig in die Tiefe fluchtenden Landschaftsraeumen zeichnen sich Ruisdaels Kompositionen durch eine Lichtfuehrung aus, die einzelne, charakteristische Motive aus sich selbst heraus leuchten laesst und so aus ihrer natuerlichen Umgebung hervorhebt: eigenwillig geformte Baumstruenke, verfallene Huetten oder bizarr geformte Duenen werden zu magisch leuchtenden „Bildhelden“ (Imdahl) stilisiert. Die Gegenstaende korrespondieren auf der Flaeche miteinander, die raeumliche Tiefenwirkung bleibt unbestimmt. Diese Wirkung wird durch ein mit Bleiweiss auf die Untermalung aufgetragenes „Lichtgeruest“ hervorgerufen, das Hell und Dunkel auf der Oberflaeche vorstruk- turiert, ohne eine natuerliche Lichtquelle anzugeben.

Die Individualisierung der Dinge steigert Ruisdael durch naturgetreue Wiedergabe: Einzelne Pflanzenarten koennen genau bestimmt werden, Wolkenformationen entsprechen realen Wettersituationen und Duenenland- schaften sind auch heute noch lokalisierbar. Weitere Akzente setzt er mit kratzendem Pinsel und pastosem Farbauftrag, so dass einzelne Gegenstaende geradezu koerperlich hervorzutreten scheinen, waehrend flaechige Bildelemente wie Wiesen, Suempfe oder Huegel in ihrer raeum- lichen Dimension diffus bleiben. Nach der Reise nach Bentheim ist eine gesteigerte Dramatik in Ruisdaels Bildern zu beobachten, die er durch starke Unter- bzw. Aufsichten der vor Ort studierten Naturformen im Atelier konstruiert. Seine Bilder fuehren weder einen idealen locus amoenus noch das freundliche Abbild einer hollaendischen Landschaft vor Augen, die ihre Bewohner ernaehrt oder ihnen Raum fuer Freizeit- vergnuegungen bietet. Seine Landschaften vermitteln vielmehr Unruhe und Spannung, Erhabenheit und Bedrohung.

Dem Ausstellungsbesucher soll sich diese unter der Bildoberflaeche ansetzende malerische „Revolution“ durch eigene Anschauung vermitteln. Zur Vorbereitung auf ein visuelles Erlebnis werden ihm zu Beginn der Ausstellung ein Original Ruisdaels und eine moderne Kopie in wechselnden Beleuchtungen praesentiert, um ihn fuer die unterschiedliche Leuchtkraft der Farbpigmente und ihre Abhaengigkeit vom Licht zu sensibilisieren. Beim Gang durch die chronologisch gehaengte Praesentation schaerfen sich dann in der Tat die Sinne fuer Ruisdaels piktorale Qualitaeten, so dass man spaetestens bei den reifen Werken doch nicht umhin kann, auch nach der Bedeutung von Stimmungen und Sujets zu fragen, die, gemaess der These der Ausstellung, auch aus dem Fruehwerk abzuleiten waere. Um darueber mehr zu erfahren, ist man auf den Katalog angewiesen, der so handlich ist, dass er auch in der Ausstellung verwendet werden kann.

In traditioneller Abfolge sind dem Katalog der Exponate, die jeweils mit einer ganzseitigen Abbildung in z.T. hervorragender Qualitaet und einem ausfuehrlichen Text bedacht sind, vier Aufsaetze vorgeschaltet. Peter Biesboer, der Haarlemer Mitorganisator, gibt eine Einfuehrung in die Haarlemer Lebenswelt, deren florierende Wirtschaft in der ersten Haelfte des 17. Jahrhunderts guenstige Rahmenbedingungen fuer die Kuenstler bot[2]. Huigen Leeflang stellt eine 1685 erschienene Erbauungsschrift des Mennoniten Jan van Westerhoven vor, die einen naturwissenschaftlichen Blick auf die heimatliche Duenenlandschaft im Dienste der Verherrlichung des goettlichen Schoepfers propagiert. Dabei laesst er aber die Frage, inwieweit Ruisdaels Darstellungsformen aus seiner mennonitischen Glaubenszugehoerigkeit zu erklaeren sind, bewusst offen. Jeroen Giltaij widmet sich der Datierung des Fruehwerks und unternimmt dabei den Versuch, die kuenstlerische Entwicklung auf den Monat genau zu bestimmen. Martina Sitt stellt ihre methodischen Ueberlegungen und Ergebnisse der technologischen Untersuchungen vor, die „Gestaltungsaspekte wie Farbe, Licht und Raumkonzeption“ fuer die Deutung der Bilder fruchtbar machen sollen. Ein abschliessender Beitrag von Jochen Becker eroeffnet am Beispiel der „Muehle von Wijk“ noch einmal das ganze Feld unterschiedlicher Betrachtungsformen der hollaendischen Landschaftsmalerei und fuegt den schon bekannten noch eine politisch-symbo- lische Lesart hinzu, indem er die Muehle als Sinnbild fuer positive Herrschereigenschaften deutet. Er plaediert ausdruecklich fuer die Polyvalenz von Bildern, deren Verstaendnis von der Perspektive des jeweiligen Betrachters abhaenge. Dieser Maxime scheinen die Verfasser der Objekttexte gefolgt zu sein, die das ganze Spektrum kunsthistorischer Methoden von Stil- und Formanalyse bis zu politischer Kontextualisierung und symbolischer Interpretation vertreten.

Auch wenn alle Beitraege fuer sich genommen jeweils wichtige Aspekte des Phaenomens Ruisdael behandeln, so bleibt das Bild eines Wunderknaben, der sich schon frueh mit einer eigenen Bild- und Landschaftskonzeption am Kunstmarkt durchsetzte, letztlich unscharf.[3] Die Beruecksichtigung einiger neuerer, aber auch manche noch interessante aeltere Forschungs- beitraege haetten zu einer Konkretisierung des kuenstlerischen und sozialen Kontextes beitragen koennen, in dem Ruisdael seine Innovationen vollzog. Jonathan Israel hat gezeigt, dass sich in den spaeten 40er und 50er Jahren des 17. Jahrhunderts eine staedtische Fuehrungselite herausbildete, die die republikanische Staatsform der seit 1648 unabhaengigen noerdlichen Niederlande wesentlich befoerderte und stuetzte.[4] Diese soziale Gruppe verfuegte nicht nur ueber die finanziellen Ressourcen und den kompetitiven Drang zum Erwerb von Kunst, sie zeichnete sich auch durch eine aesthetische Geschmacksbildung aus, die ihre Vorliebe fuer Werke mit hohem kuenstlerischem Anspruch und raffinierten Inhalten bestimmte.

Von Ruisdael wissen wir, dass er zahlreiche Werke im Auftrag vermoegender Kaufleute schuf und es waere sicher lohnend, seine Klientel eingehender auf ihre Zugehoerigkeit zu der beschriebenen politischen Fuehrungsgruppe zu untersuchen. Somit liessen sich Ruisdaels Innovationen als Reaktion auf ein veraendertes Kaeuferinteresse erklaeren. Indem er das Artifizielle seiner Kunst betonte, Pinselduktus und Leuchtkraft der Farben herausstellte, oft grosse Formate waehlte und statt der Bauern vielfach Personen aus hoeheren sozialen Schichten in seine Landschaften integrierte, duerfte er genau den Geschmack der neuen Elite getroffen haben. Die von Winfried Schmidt eingehend untersuchte Naehe Ruisdaels zu den wenige Jahre zuvor ge- schaffenen heroischen Landschaften von Rembrandt und Rubens koennte demnach auch als Bestreben verstanden werden, die Landschaftsmalerei in Anlehnung an die Historie aufzuwerten.[5] Dass Ruisdaels Landschaften aber weniger ein goldenes Zeitalter als vielmehr Bedrohung, Unsicherheit und Spannungen vermitteln, passt zu der Eigenwahrnehmung der Hollaender in der als „Wahre Freiheit“ bezeichneten Phase der 50er und 60 er Jahre, als die neu gegruen- dete Republik, der die soziale Elite Reichtum und Ansehen verdankte, alles andere als stabil war und gegen die monarchischen Bestrebungen der Oranier verteidigt musste.[6]

Es ist ein grosses Verdienst der Ausstellung, den Blick fuer die malerischen Qualitaeten Ruisdaels und vor allem fuer die Bedeutung seines Fruehwerks geschaerft zu haben. An der Spitze der hollaendischen Landschaftsmalerei stehend, die in Hamburg in ihrer ganzen Breite studiert werden kann, eroeffnen seine spannungsgeladenen Kompositionen einen ganz spezifischen Zugang zur visuellen Kultur der Niederlande, in deren wechselvolle Geschichte die heimatliche Landschaft immer wieder neu ihre identitaets- stiftende Wirkung unter Beweis stellte. Fuer den sehr zu empfehlenden Ausstellungsbesuch sei noch auf die Web-Site hingewiesen (http://www.hamburger-kunsthalle.de/), die die wichtigsten Informationen zur Person, dem historischen Kontext und den einzelnen Raeumen bereithaelt und ausgedruckt sich hervorragend als Kurzfuehrer eignet.

[1] Siehe hierzu das neue Werkverzeichnis von Seymor Slive, Jacob van Ruisdaels. A Complete Catalogue of his Paintings, Drawings and Etchings, New Haven 2001.
[2] Auszug aus einer umfangreichen Studie des Autors, in der er mehr als 3200 Haarlemer Inventare auswertete; die Ergebnisse sind vom Getty Provenance Index auf einer CD veroeffentlicht; eine Auswahl der wichtigsten Inventare auch in Peter Biesboer, Collections of Paintings in Haarlem 1572-1747, Getty Research Institute Documents for the History of Collecting series, Los Angeles 2001.
[3] Vgl. die Ausstellungsbesprechung von Wilfried Wiegand in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, 13.02.2002, S. 51.
[4] Jonathan Israel, Adjusting to hard times: Dutch art during its period of crisis and restructuring (c.1621-c.1645), Art History 20 (1997), S. 449-476.
[5] Winfried Schmidt, Studien zur Landschaftskunst Jacob vanRuisdaels. Fruehwerke und Wanderjahre, Hildesheim, New York 1981; vgl. auch die Ausstellungsbesprechung von Martin Warnke in der „Zeit“, 05/24.1.2002, S.37, http://www.zeit.de/2002/05/Kultur/print_200205_ruisdael.html
[6] Richard Helgerson, Genremalerei, Landkarten und nationale Unsicherheit im Holland des 17. Jahrhunderts, in: U. Bielefeld/G. Engel (Hg.), Bilder der Nation, Hamburg 1998, S. 123-153.

Sitt, Martina; Becker, Jochen (Hrsg.): Jacob van Ruisdael. Die Revolution der Landschaft, Zwolle: Waanders 2002
ISBN-13: 978-90-400-9607-5, 168 S

Empfohlene Zitation:
Elke Werner: [Rezension zu:] Jacob van Ruisdael. Die Revolution der Landschaft (Hamburg, Kunsthalle, 18.01.–01.04.2002). In: ArtHist.net, 23.02.2002. Letzter Zugriff 28.03.2024. <https://arthist.net/reviews/24859>.

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