REV 30.10.2001

Helmut Faerber - Arbeit an der Geschichte des Sehens

Rezensiert von Bettina Klix

[Unseren Rezensionen aktueller Neuerscheinungen stellen wir nachfolgend
einen Essay zur Re-Lektuere wichtiger Arbeiten des deutschen Filmkritikers
Helmut Faerber an die Seite, d. Red.]

ARBEIT AN DER GESCHICHTE DES SEHENS - von Bettina Klix

Helmut Faerber: Baukunst und Film. 1977, 63 S., DM 50,-

ders.: A Corner In Wheat/ D.W.Griffith. 1992, 136 S., DM 42,-

ders.: Mizoguchi: Saikaku Ichidai Onna (Oharu). 1986. Textband, 136 S. und Bildband, 112 S., zusammen DM 98,-

Die Buecher sind im Selbstverlag erschienen (Helmut Faerber, Fendstr.4, 80802 Muenchen), koennen aber auch ueber den Buchhandel bestellt werden.

Helmut Faerber ist einer der Autoren der legendaeren Zeitschrift Filmkritik. In den 60er Jahren kam er 25jaehrig zu dieser Zeitschrift, bis dahin war er Film-Club-Bewohner gewesen, mit einer Liebe zur Kinematographie, die er spaeter durch seine Arbeit „beweisen“ wuerde.

Er ist den eigenen Forderungen, die er 1967 aufstellte, als es in der Zeitschrift Diskussionen ueber das Selbstverstaendnis der Autoren gab, treu geblieben: „1. Anders schreiben - und lesen - als nur Besprechungen neuester Filme. 2. Anders schreiben - und lesen - als nur innerhalb der Form urteilender, moeglichst abschliessender Abhandlungen.“ - „Selbst wenn es soweit ist, dass man sich Filme ueberall wie jetzt Buecher ausleihen kann, „seien Filmbeschreibungen nicht ueberfluessig, schrieb er in der Filmkritik 1969. Heute ist es soweit.

„Filmtexte, -beschreibungen, -notierungen, ich weiss noch kein bestes Wort dafuer, (...) sind Hilfsmittel, kein Ersatz.“ So sah Faerber selbst die Arbeit , die er sich vorgenommen hatte. „Landkarten“ wollte er anfertigen. Die Auswahl, die Faerber getroffen hat, schon in der Filmkritik, aber mit seinen Buechern erst recht, indem er sich fuer „einsame“ Filme entschied, verraet viel ueber das, was fuer ihn das Kino bedeutet.

In einem Dokumentarfilm von Manfred Blank ueber Straub/Huillet, „Die Beharrlichkeit des Blicks“, sagt Faerber, wenn es so etwas wie die Seele des Kinos gaebe, dann waere das nicht die Filmkunst, sondern die Kinematographie. Straub/Huillet seien auf diese Kinematographie (im Sinne Lumieres), die etwas bewahren, nicht nur zeigen will, zurueckgegangen. Dies, so Faerber weiter im Film, sei so wichtig in einer Gesellschaft, in der sich alles Wahrnehmbare in Zeichen oder Signale verwandle. Dass Straub/Huillet sich damit in einer Minderheit befinden, wird deutlich.

1986 erschien Helmut Faerbers Buch zu „Das Leben der Frau Oharu“ von Kenji Mizoguchi (1952). Die literarische Vorlage fuer den Film war eine 1686 erschienene Erzaehlung von Ihara Saikaku .Es ist die Geschichte einer Frau und ihres Abstiegs, ihrer Vertreibung, ihrer Ortlosigkeit: Die Tochter eines Samurais, die in Diensten am kaiserlichen Hof steht und schliesslich am Filmende als Bettelnonne von Tuer zu Tuer geht. Frieda Grafe, (ebenfalls Ex-Filmkritik): „Von Mizoguchis Frauenfilmen erscheint immer gerade der, den man sieht, der bitterste, bis dann der naechste kommt.“ Von den grossen drei japanischen Regisseuren ist Mizoguchi, nach Kurosawa und Ozu, vielleicht der Unbekannteste. Jean-Marie Straub bezeichnet Mizoguchi als „den groessten marxistischen Filmkuenstler“, - was zwar keine Selbstdeklaration von diesem ist , aber sich den Zuschauern in der Unversoehntheit, dem Zorn zeigt, der ansteckt, angesichts des gesellschaftlichen Unrechts, des Gewaltzusammenhangs. Gilles Deleuze bezeichnet in seinem Film-Werk „Das Bewegungs-Bild“ Mizoguchi als den Regisseur eines weiblichen Universums. Die soziologische Vorstellung Mizoguchis sei die, dass alles durch die Frauen vermittelt wuerde, alles von ihnen ausgeht ,und dennoch zwingt das gesellschaftliche System die Frauen in einen Unterdrueckungszustand, der die Form sichtbarer oder verborgener Prostitution hat. Deleuze fragt: „Wie koennten sie unter solch prekaeren Bedingungen ueberleben, sich selbst treu bleiben oder sich gar aus diesem Zustand befreien?“ Diese Frage beantwortet „Das Leben der Frau Oharu“ sozusagen mit einem vielfachen „Ueberhaupt nicht!“

Faerber naehert sich Mizoguchis Handschrift, in der dieser das Schicksal der ungluecklichen Oharu filmisch aufgezeichnet hat durch die getreue Nachschrift, und durch einen eigenen Fotoband, der ausserhalb des Filmablaufs die Art der Raumbehandlung des Regisseurs sichtbar macht und die Komposition der Bilder studieren laesst. Der Textband enthaelt den vollstaendigen Dialog und die Bildbeschreibung. Im Vorwort erklaert Faerber, dass es seine Absicht war, in der Uebersetzung (seines Mitarbeiters Sonam Kim) etwas von der fremden Sprache zu behalten, es ging nicht um ein fluessig zu lesendes Deutsch, es sollte das Aequivalent einer Untertitelung entstehen. Nun ist es anstrengend, Filme mit Untertiteln zu sehen, doch lohnend, wir verstehen vielleicht weniger, doch haben wir nie die Taeuschung, wir seien in unserer Welt. Uns wird dadurch Arbeit zugemutet, um des Filmes willen, und jede Illusion von Verstaendlichkeit ist ausgeschlossen.

Im Anhang von „Oharu“ gibt es die Rubrik: „Wovon die Beschreibung nichts mitteilt“. Faerber weiss genau, welche Arbeit es bedeutet, sich einem Film ausserhalb des Sehens zu naehern. Davon zeugen in allen seinen Buechern die Fussnoten, die bei ihm aber gleichzeitig auch einen eigenstaendigen, manchmal widerstaendigen, Text bilden. 1969 schrieb Faerber in dem oben erwaehnten Artikel auch: „Der Gegenstand beim Schreiben ueber Filme – fuer Filme, durch sie - ist nicht der Film selbst, sondern die Filmerinnerung. Ihre Beschaffenheit bestimmt die Intensitaet des Schreibens, Lesens, insgesamt der Verbindung mit einem Film.“ So laesst sich vielleicht seine so grosse Beschreibungsnaehe verstehen als ein Sich-Verbinden mit dem Werk - ohne auf Einfuehlung zu setzen, auf Offenbarung zu warten. Eine Warnung an sich selbst und auch an die, die nicht ueber Filme schreiben, sondern sie nur sehen und vielleicht nacherzaehlen: „Die Erinnerung ist ein Veraendern.“ Deshalb trifft er seine Vorkehrungen. Er laesst den Film einfach nicht los, laesst ihn keine Sekunde aus den Augen. Denn: „Es ist nicht nur eine Frage der Erinnerung, sondern schon eine des Wahrnehmens.“ Deshalb muessen Luecken und Fehler beim Sehen ausgeschlossen werden, sonst wuerden diese zu Halluzinationen fuehren, jenen ganz normalen Faelschungen, Ergaenzungen aus eigenem Bestand, Wunschbildern, die zwar auch einen interessanten Film ergeben koennen, aber nicht den dargebotenen. Und wenn dieser ein Meisterwerk ist, - und nicht ein schlechter Film, aus dem die eigenen Gedanken und Bildabirrungen noch etwas Besseres machen koennen -, lohnt sich die Disziplinierung. Eine Besprechung von „Rote Wueste“ von Antonioni schloss Faerber 1965 in der „Filmkritik“ mit den Worten: „Der Kritik erwaechst die Aufgabe, sich mehr mit den Filmen zu befassen, die es noch nicht gibt.“ Das heisst auch, dass die Kritik sich mit dem Film zu befassen hat, der aus den Absichten des Regisseurs haette entstehen koennen, mit den Moeglichkeiten, aber auch mit Forderungen.

Siegfried Kracauers „Theorie des Films“ hatte den Untertitel: „Die Errettung der aeusseren Wirklichkeit“. Die Arbeit von Helmut Faerber sehe ich als Teil einer Arbeit, die wiederum bemueht um Bewahrung ist. Faerber schrieb 1994 in einem Beitrag fuer die franzoesische Filmzeitschrift „Trafic“ mit der Ueberschrift „Architecture, decoration, destruction“, dass der Titel von Kracauers Buch fuer uns heute noch einen ganz anderen Sinn ergibt, - durch die Zerstoerung von Landschaften, Ausrottung von Arten, aber auch Entwertung von Lebensweisen. Dies gibt nun wiederum dem Film eine ganz andere Verantwortung. Der Aufsatz setzt Ueberlegungen fort, die zum ersten Mal in Helmut Faerbers erstem Buch von 1977: „Baukunst und Film“ angestellt wurden. Es hat sozusagen nicht nur einen Autor, es ist zum grossen Teil eine Montage aus vor allem kunsthistorischen Zitaten, wobei sich diese nicht immer gleich auf den ersten Blick als fuer das Thema erbeutet zu erkennen geben. Beispiel: Das Buch schliesst mit einem Auszug aus Jean-Luc Godards „Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiss“ (1967), einem der herausforderndsten Filme ueber Architektur und Stadt. Irritierenderweise ist es der erste und einzige Filmausschnitt des Buches. „ [...] Niemand, heute, kann wissen, welches die Stadt von morgen sein wird. Ein Teil des Reichtums an Bedeutungen, den sie in der Vergangenheit hatte...sie wird ihn sicherlich verlieren...Sicherlich. [...] Vielleicht ... Die schoepferische und gestaltende Rolle der Stadt, wird durch andere Kommunikationssysteme ausgefuellt werden...vielleicht Fernsehen, Rundfunk, Wortschatz und Grammatik, bewusst und entschlossen ...“ Dies ist fast schon eine Kurzfassung des Buches.

Faerber stellt Zusammenhaenge zwischen Architektur und Film her, er geht dabei hinter das zurueck, was wir heute darunter verstehen und identifiziert Vorformen des Films. Der eine Teil der Vorgeschichte des Films ist der offensichtlichste und bekannteste, da lassen sich mehrere Wege verfolgen ueber das Tableau bis zu Panorama und Diorama. Mit diesem Strang beschaeftigt sich Faerber nur kurz. Eine weniger offensichtliche Vorform filmischen Vergnuegens entdeckt er in der Architektur, die durch die Gartenbaukunst erweitert wird. Bevor Natur „genossen“ werden kann, natuerlich zunaechst von Wenigen, muessen Veraenderungen in der Wahrnehmung vorausgehen. Der Gartenkuenstler arbeitet quasi als Regisseur. Die Quellenstimmen belegen das, indem in ihrer Sprache vom Film die Rede zu sein scheint, noch bevor der Film erfunden wurde. Das Beduerfnis nach visueller Unterhaltung und emotionalem Bewegtwerden ist schon da und wird vom Kuenstler bedient, der „Szenen aufstellt“. Eine andere Vorlaeuferkunst ist die Literatur. Der Film bildet in dieser Linie gewissermassen einen Ersatz fuer den Gefuehls-Service, den der Roman den Buergern bot, in verbesserter, umfassender Form, die inneren Bilder, die jeder anhand der anleitenden Saetze selbst verfertigte, werden nun nach aussen gestellt.

Das visuelle Leben hat sich immer mehr zugespitzt auf Reize, in der Werbung am konsequentesten. Diese Entwicklung ist eine „Umwandlung von Wirklichkeit in Bilder, die Wirklichkeit suggerieren, von Bildern in Begriffe, von Begriffen in Signale“. So dass die Realitaet schliesslich hinter den Bildern zurueckbleibt, „indem sie nur da ist, nichts verspricht.“ Das, was wir als ein Problem der Gegenwart, der (Post-)Moderne wahrnehmen, ist im Gegenteil die lange Leidensgeschichte der Wirklichkeit. Der „Hymnus auf die Druckkunst“ von Victor Hugo, den Faerber zitiert, zeigt, wie weit wir zurueckgehen muessten. Bis ins fuenfzehnte Jahrhundert christlicher Zeitrechnung sei die Baukunst das grosse Buch der Menschheit gewesen, bis Gutenberg. Die Baukunst sei sozusagen die fuehrende, die universale Schrift gewesen. Jetzt (also 1831) sei die Baukunst tot. Sie sei durch das gedruckte Buch ersetzt worden, weil es billiger und dauerhafter sei. Der Abbildungsteil von „Baukunst und Film“ zeigt Gebaeude hauptsaechlich aus der Zeit nach diesem Einschnitt, nur am Anfang steht da ein Stich der Kirche Santa Croce (Baubeginn 1295) als Beispiel fuer einen Gedanken in Stein, vor der Abloesung. Die uebrigen Bilder von Architektur koennten als Trugbilder gelesen werden, sie werden theaterhafter oder filmmaessiger, die Neo-Stile wirken wie Einspielungen aus einem Traum oder sie machen Werbung.

Das juengste Buch Helmut Faerbers von 1992, stellt uns Griffith sozusagen als einen bisher unbekannten linken Regisseur vor, der politisch wenig mit dem Rassisten von „Birth Of A Nation“ gemein hat. Griffith hat mit „A Corner in Wheat“ (Eine Spekulation mit Weizen) einen anklagenden Film ueber die Weizenboerse gemacht, - nicht ueber einen einzelnen Spekulanten, den sogenannten „Weizenkoenig“, auch wenn diese Figur aus der Vorlage, einer Erzaehlung von Frank Norris, „The Pit“ uebernommen wurde. Das Thema des Films hat sich immer noch nicht erledigt und wurde 1980 in „Septemberweizen“ von Peter Krieg dokumentarisch behandelt: „Der Mensch stirbt nicht am Brot allein“. Griffith ist zur Zeit der Entstehung des Films, 1909, noch nicht der Regisseur von „Intolerance“, er hat fuer seine Firma Biograph zwei, drei Streifen pro Woche zu drehen. Faerber zeigt, dass dieses Werk sich von der Herstellung nicht so sehr von den andern dieser Zeit unterscheidet und doch einen einsamen Versuch darstellt, der so kuehn erscheint, weil keiner an diesem Punkt weiterarbeitete, nicht einmal Griffith selbst, der einen anderen Weg einschlug. Er beschreibt, bevor er sich dieses Urteil erlaubt, Bild fuer Bild. Dann folgt eine Analyse der Produktionsbedingungen, der Einstellungen und Bildformen, eine Beschreibung der Gesten, ein Lesen und Auslegen von Bewegungen, sehr behutsam im Erfassen, doch dann entschieden in der Benennung und Deutung. Nur so laesst sich der politische Gehalt erfassen, denn der Film erzaehlt nicht im ueblichen Sinne, da die Zusammenhaenge sich nicht dafuer eignen. Diese Eigenart von Griffith arbeitet Faerber genau heraus. Erzaehlen sei das Zeigen von Lebensverhaeltnissen zwischen Menschen, doch bestehen hier keine Verbindungen dieser Art zwischen den Bauern, den Spekulanten und den Hungernden. Also zeigt Griffith das Unverstaendliche, Unmenschliche als Zusammenhang der Ausbeutung, wie in einer Abhandlung. Faerber weist nach, wie sich melodramatische Elemente doch zu einer Erkenntnis verdichten lassen, wenn keine emotionale Aufloesung gewaehrt wird. Der Eindruck der Kuehnheit, den dieser Film heute noch hat, spricht vor allem gegen die Filmgeschichte

Die Arbeit von Helmut Faerber handelt immer von den unterschlagenen Moeglichkeiten des Films.

Bettina Klix, freie Autorin, lebt und arbeitet in Berlin. Eine frühere Fassung
ihres Textes erschien in „Jungle World“.

Empfohlene Zitation:
Bettina Klix: [Rezension zu:] . In: ArtHist.net, 30.10.2001. Letzter Zugriff 16.04.2024. <https://arthist.net/reviews/24663>.

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