REV-CONF Jul 31, 2001

Documenta Platform 1, Vienna March/April 01

Wien, Mar 15–Apr 20, 2002

Report by renate woehrer

Documenta 11
"As a fundamental and central feature of the dynamic process of
creating Documenta11, Okwui Enwezor will develop, together with his
co-curators, a series of so-called Platforms. The Platforms will
introduce a variety of complex topics, at selected locales and in
cooperation with chosen partners. These highly involved issues will
inform the exhibition Documenta11 in Kassel, June 8-September 15,
2002, the final Platform. Therefore the discourse of the Documenta11
begins way ahead of the actual opening of the exhibition."
ArtHist will report about the first platform at Vienna in two parts
today and tomorrow. As well ArtHist is looking for reviewers who will
be able to participate in and monitor one of the other platforms.

Im Sommer 2002 beginnt in Kassel die Documenta 11. Zum ersten Mal
seit Gruendung der immer noch als wichtigsten Kunstausstellung der
Welt geltenden Documenta begann das Programm bereits mehr als ein
Jahr vor dem Eroeffnungstermin in Kassel mit so genannten
Plattformen, Diskussionsforen, die auf unterschiedlichen Kontinenten
stattfinden. Die erste Plattform wurde vom 15. 3. bis 20.4. in Wien
unter dem Titel "Democracy Unrealized" abgehalten und wird in Berlin
vom 9.-30.19. fortgesetzt.
Wir werden heute und morgen einen Bericht ueber die erste Konferenz
in Wien senden und suchen noch Interessierte, die an den naechsten
Plattformen in Berlin, St. Lucia, Johannesburg und natuerlich Kassel
teilnehmen und ueber sie berichten koennen. (I.M.)

Infos: http://www.documenta.de/

Weitere Termine/further dates:

Plattform 1
Democracy Unrealized
Wien, 15. Maerz-20. April 2001
Berlin, 09.-30. Oktober 2001

Plattform 2
Experiments with Truth:
Transitional Justice and The Processes of Truth and Reconciliation
(Experimente mit der Wahrheit: Rechtssysteme im Wandel und die
Prozesse der Wahrheitsfindung und Versoehnung)
Neu-Delhi, 07.-21. Mai 2001

Platform 3
Créolité and Creolization
(Créolité und Kreolisierung)
St. Lucia, November 2001

Plattform 4
Under Siege: Four African Cities,
Freetown, Johannesburg, Lagos, Kinshasa
(Unter Belagerung: Vier afrikanische Staedte, Freetown,
Johannesburg, Kinshasa, Lagos)
Lagos, Maerz 2002

Plattform 5
Ausstellung Documenta11
Kassel, 08. Juni-15. September 2002

1. Teil des Konferenzberichts:

"Demokratie als unvollendeter Prozess"
Documenta Plattform 1, Wien, 15. Maerz-20. April 2001
Akademie der schoenen Kuenste
rezensiert fuer ArtHist von Renate Woehrer, Hamburg

"Democracy unrealized"

Demokratie gilt gemeinhin als die gerechteste und anzustrebendste
denkbare Herrschaftsform, auch wenn die Unzulaenglichkeiten nicht zu
uebersehen sind. Selten bieten sich oeffentliche Foren, wo die
Hegemonie der Demokratie hinterfragt werden kann. Diese Moeglichkeit
will die erste Plattform der Dokumenta11 eroeffnen. Der Kunstbereich,
der sich auch als Feld des Experimentierens und Entwerfens
alternativer Konzepte versteht1, soll hier den Rahmen bilden, um
Begriffe und Handlungsspielraeume auszuloten.

Die Dokumenta11 wurde von ihrem Leiter Okwui Enwezor in fuenf
Plattformen aufgeteilt, erst die letzte dieser Einheiten wird von der
eigentlichen Ausstellung gebildet. Die ersten vier Plattformen sind
als Symposien angelegt, als Beispiele "jenes Prozesses, der als
Produktion von Wissen bezeichnet werden kann"2. Im Vorfeld soll damit
erarbeitet werden, unter welchen Bedingungen Ereignisse wie die
Ausstellung der Dokumenta wahrgenommen werden, bzw. in welchem Rahmen
kritische Auseinandersetzung mit einem solchen Projekt ueberhaupt
moeglich ist.

Eroeffnet wurde dieser Prozess mit der ersten Plattform in Wien am
15. 3. 2001. In Zusammenarbeit mit der Akademie der bildenden Kuenste
wurde in fuenf Tagungseinheiten das Thema "Demokratie als
unvollendeter Prozess" verhandelt. Die Wahl des Austragungsortes hat
dabei eine doppelt selbstreflexive Wirkung: Wien ist seit der
Regierungsumbildung im letzten Jahr ein fruchtbarer Boden, wenn es
darum gehen soll, das alltaegliche, quasi selbstverstaendliche
Funktionieren politischen Handelns zu diskutieren. Die Akademie der
bildenden Kuenste ist Produktionsstaette jener Objekte, die aufgrund
ihrer Eigendefinition als Kunst potentielle Ausstellungsstuecke einer
Veranstaltung wie der Dokumenta selbst bilden, und gleichzeitig
soziales Gefuege, das durch seine institutionelle Kraft ueber die
Rechtmaessigkeit von Kunstwerken entscheidet. Als solches gibt das
Thema "Demokratie als unvollendeter Prozess" der Akademie
Gelegenheit, ueber die Bedingungen ihrer Institutionalisierung und
der Arbeitsprozesse, die sie beherbergt, nachzudenken.

Der realpolitische Rahmen ist einer der wesentlichen Faktoren, wenn
es darum gehen soll, die Bedingungen kuenstlerischer Praxis zu
hinterfragen. Er bestimmt nicht nur die Zugangsmoeglichkeiten zur
Kunstproduktion und -rezeption, er bildet auch das Bezugsfeld fuer
jede kuenstlerische Aeusserung. In der globalisierten Welt des
beginnenden 21. Jahrhunderts ist Demokratie das zentrale
Herrschaftssystem, dessen Prinzipien auch den Kunstbereich bestimmen.
Wie Stuart Hall in seiner Eroeffnungsrede erlaeuterte, wird Kunst
heute dort immer demokratischer, wo sie an Alltaeglichkeit gewinnt:
immer mehr Leute aus einem sich erweiternden Bereich von
Lebenszusammenhaengen haben Zugang zur Kunstproduktion, trotzdem
bleibt die Kunstwelt ein sehr exklusiver Bereich. Aber auch im
Kunstbetrieb zeigen sich die Mechanismen und Tendenzen des
Neoliberalismus, wenn Markt und Geldwerte immer mehr an Bedeutung
gewinnen.

Die Dokumenta11 - als Teil dieses Kunstbetriebs - hat sich also
vorgenommen zu ihrem Auftakt Demokratie als theoretische Konzeption,
ihre Voraussetzungen und Konsequenzen im gesellschaftlichen
Zusammenhang und konkrete Interventionsmoeglichkeiten zu eroertern.
In der ersten und groessten (dreitaegigen) Einheit ging es um die
Moeglichkeiten der Demokratie, ihre Grenzen und die Alternativen zu
dieser Form der Herrschaftsbildung. Bereits im Titel der
Veranstaltung wird mit dem Wort "unvollendet" angedeutet, dass hier
von einem Demokratiebegriff ausgegangen wird, der sich als
"fortwaehrend erneuernder Entwurf"3 versteht. Dies steht im Gegensatz
dazu, wie sich liberale Demokratien nach dem kalten Krieg
praesentieren: als ein im wesentlichen abgeschlossenes System, in dem
keine strukturellen Veraenderungen, sondern lediglich kleinere
Korrekturen und Anpassungen notwendig sind. Hierbei werden aber die
Grenzen und Probleme ausgeklammert, die in den Voraussetzungen
demokratischen Handelns selbst begruendet sind.

Stuart Hall arbeitete in seinem Eroeffnungsvortrag heraus, dass
Demokratie als ein uneinholbares Ideal funktioniert. Alle
unterschiedlichen Ausformungen real existierender Demokratien seien
als ein Schritt in Richtung Realisierung zu sehen. Dabei ist diese
Unerreichbarkeit konstituierend fuer die demokratische Idee, die
gleich einem Horizont die Grenzen und das Terrain des Bereichs
absteckt, aber kein jenseits dessen erlaubt. Jede existierende
Demokratie beruft sich beispielsweise auf das Ideal der Partizipation
aller, waehrend immer bestimmte Bevoelkerungsgruppen von dieser
Teilhabe ausgeschlossen werden.

Eine gruendlichere Auseinandersetzung mit dem Wesen und Stellenwert
kultureller Identitaeten fordert Akeel Bilgrami, der feststellte,
dass die Annahme einer bestimmten Form von Vernunft und Moral fuer
die Politik, die ganze Konzeption von Demokratie beschraenke. Bhikhu
Parekh und Slavoj Zizek gehen davon aus, dass Demokratie grundlegend
neu gedacht werden muss, wobei sich Bhikhu Parekh auf eine Kritik der
bisherigen Grundlage territorial begrenzter politischer Einheiten mit
kulturell homogener Bevoelkerung fuer effektive demokratische Systeme
konzentrierte. Slavoj Zizek hingegen, auch bereit sich von
Demokratien abzuwenden, versuchte den vorherrschenden
‚postideologischen' Konsens aufzubrechen und ortete eine "Art
ungeschriebenes Denkverbot"4, das die heutige liberal -demokratische
Hegemonie stuetzt. Bestimmte Grundprinzipien, wie Mehrheitsbildung,
Individualisierung, etc. werden nicht in Frage gestellt, bzw.
scheinen ueber jeden Zweifel erhaben zu sein und bilden die
Grundlagen jeder Analyse.
Die einzelnen Lectures wurden mit Podiumsdiskussionen ergaenzt und
die erste Einheit mit einem Workshop in kleinerem Rahmen
abgeschlossen.

(wird fortgesetzt)

Besonderen Dank an Veronika Woehrer und Monika Wulz fuer wichtige
Beitraege und Unterstuetzung

1 Vgl. dazu Boris Groys: Kunst im Zeitalter der Demokratie.
Informationsbroschuere zur Plattform 1
Dokumenta11. Wien, Maerz 2001, S. 22
2 Ebenda, S. 3
3 Okwui Enwezor: Demokratie als unvollendeter Prozess. Ebenda S. 4
4 Slavoj Zizek: Ein Plaedoyer fuer die leninistische Intoleranz.
Ebenda. S. 30

Recommended Citation:
renate woehrer: [Conference Report of:] Documenta Platform 1, Vienna March/April 01 (Wien, Mar 15–Apr 20, 2002). In: ArtHist.net, Jul 31, 2001 (accessed Apr 19, 2024), <https://arthist.net/reviews/24543>.

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