Das große Verdienst vorliegenden Katalogs besteht in der Bestrebung, die sehr unterschiedlich gearteten materiellen Objekte, die in drei voneinander unabhängigen Institutionen auf Schloss Friedenstein zu Gotha überliefert sind, als eine sinnliche und sinntragende Einheit, ein Universum, wie es im Titel heißt, zu begreifen und zu präsentieren. Jahrzehntelang haben das Thüringische Staatsarchiv Gotha, die an die (nicht annähernd so bedeutende) Universitätsbibliothek Erfurt angegliederte Forschungsbibliothek Gotha und die durch die Stiftung Schloss Friedenstein verwalteten Kunst- und Naturaliensammlungen trotz punktueller gemeinsamer Initiativen buchstäblich unter demselben Dach bzw. in unmittelbarer Nachbarschaft mehr oder weniger nebeneinanderher gelebt, verwalten sie doch Gegenstände grundverschiedener Natur, erfüllen sie doch unterschiedliche Funktionen und öffnen sie sich doch jeweils anderen Besuchern. Allerdings besitzen auch das in seiner ursprünglichen Möblierung aus dem 17. Jahrhundert erhaltene Archiv und die seit Jahrhunderten in denselben Räumen, zu denen mehrere Schau- und Prunksäle gehören, befindliche Bibliothek musealen Charakter. Museum und Archiv halten ebenfalls Forschungsgegenstände bereit. Die Bibliothek und das Museum konservieren ihrerseits Archivalien. Oft muss man, um ein Objekt zu finden, in mehreren dieser Institutionen suchen; manche Gegenstände haben ihren Platz im Laufe der Geschichte gewechselt. Das vorliegende Buch signalisiert nicht nur die Bewusstwerdung dessen, dass mit der Trennung der Gothaer Schätze ein Sinnzusammenhang zerrissen worden ist, sondern auch den gemeinsamen Willen, die verlorene Einheit im wissenschaftlichen Bewusstsein und im Bewusstsein der Öffentlichkeit wiederherzustellen.
Der Sinnzusammenhang, den die Autoren wiederherstellen wollen, wird im Titel des Katalogs mit dem Ausdruck ‚Barockes Universum’ bezeichnet. Der auf die Barockzeit gesetzte Schwerpunkt lässt sich damit begründen, dass das Ensemble des Schlosses Friedenstein erst mit der Gründung des Fürstentums Sachsen-Gotha im Jahre 1640 entstanden und seit dem Aussterben der Dynastie im Jahre 1825, da Gotha zur zweiten Residenz des Herzogtums Sachsen-Gotha-Coburg wurde, relativ schnell musealisiert worden ist. Dabei wurden in der Zeit, in der Gotha erste Residenz war, zahlreiche weitaus ältere Schätze in das Barocke Universum integriert. Zudem bietet das Konzept der barocken Curiositas einen sehr geeigneten Ausgangspunkt dafür, die auseinandergefallenen Interessen der beiden hier relevanten Interessentengruppen, Wissenschaft und Öffentlichkeit, wieder zusammenzuführen. Denn sinnlicher Genuss und Forschung wurden im Laufe der Jahrhunderte nach dem Barock voneinander geschieden, so dass sich in unseren Tagen, wenn der Amüsier- auf den Wissenschaftsbetrieb übergreift, oft beides verflüchtigt und Forschung und Genuss nur simuliert werden.
Der Balanceakt zwischen der Erfüllung von Wissenschaftsansprüchen und der Befriedigung von Publikumsbedürfnissen wird im vorliegenden Band durch die Abbildungen, die mehr als die Hälfte des Raumes einnehmen, am besten erfüllt. Das Buch ist in dreißig Kapitel unterteilt, in denen jedes Mal nach einer einseitigen Einführung, der jeweils ein Bild zur Seite steht, drei Abbildungen von einzelnen Objekten folgen, welche ein Text auf der gegenüberliegenden Seite erläutert. Die Kapitel widmen sich erst der Entwicklungsgeschichte des Barocken Universums (der Vorgeschichte des Schlosses, der Gründung der Dynastie usw.), dann bestimmten Institutionen dieses Universums (der Bibliothek, der Kunstkammer, dem Archiv usw.), schließlich einzelnen Themen (Jagd, Musik, Theater, Mode usw.). Bei den abgebildeten Objekten kann es sich um eine Handschrift, einen Druck, eine Karte, ein Gemälde, ein Relief, ein Jagdgewehr, ein Möbelstück, ein Tierpräparat, eine Münze und vieles andere mehr handeln.
Die großformatigen Fotografien sind von ausgezeichneter Qualität und ermöglichen es dem Benutzer, die Details der bildlichen Darstellungen genau zu erkennen, einen adäquaten Eindruck von der Farbgebung der Objekte zu gewinnen und die reproduzierten Druck- oder Handschriften zu lesen. Dabei sind die Drucke und Manuskripte gleichfalls so wiedergegeben, dass ihr materieller Charakter zur Erscheinung kommt. Auch sie werden als potentielle Objekte der Bildwissenschaft präsentiert. Sämtliche abgebildete Objekte werden philologisch bzw. bildphilologisch genau beschrieben. Der Benutzer erhält Informationen zur Autorschaft, zu den Maßen, zum Material, zur Technik und zur Datierung. Ihm wird die Signatur der Objekte mitgeteilt, so dass er sie im Bedarfsfall leicht auffinden kann. Der Katalog stellt also ein brauchbares wissenschaftliches Hilfsmittel dar.
Die Einführungen sowie die den jeweiligen Objekten gewidmeten Texte lassen sich am treffendsten mit dem Adjektiv ‚ungleich’ charakterisieren. Da heißt es etwa über den Regierungsstil Ernsts des Frommen, des ersten Herzogs von Sachsen-Gotha, der das Fürstentum 1640 begründete: „Mitunter sahen sich sowohl die Beamten als auch die Untertanen einer Regelwut unterworfen, welche die Staatsgrundsätze auch für das private Leben anzuwenden suchte.“ (S. 25) Werden hier moderne Vorstellungen von Staatlichkeit und Privatheit in die frühe Neuzeit rückprojiziert, so erweckt das den Eindruck, dass so ein Schloss ein angenehmer Ort wäre, um die Forschung zu verschlafen. Aber bei weitem nicht alle Texte sind in dieser Art. Mehrere der Autoren, so der Historiker Daniel Gehrt aus der Forschungsbibliothek, die Kunsthistorikerin Ute Däberitz aus dem Schlossmuseum und die Archivarin Rosemarie Barthel aus dem Staatsarchiv, waren und sind an verschiedenen zum Teil sehr umfassenden Erschließungsprojekten beteiligt, so dass ihr Kürzel unter den Beiträgen gewissermaßen ein Qualitätssiegel ist, das den letzten Kenntnisstand zu dem dargestellten Gegenstand verbürgt.
Mit den Kurzbibliographien, die man zu sämtlichen Objekten vorfindet, verhält es sich ebenso. Einige, etwa die zum „Teutschen Fürsten-Stat“ des Veit Ludwig von Seckendorff, sind unvollständig bzw. inaktuell. Die zu der Korrespondenz zwischen Louise Dorothée von Sachsen-Gotha-Altenburg und Friedrich II. von Preußen enthält neben einer alten Scharteke aus dem 19. Jahrhundert, in der die Quellen nicht nachgewiesen werden, andere nach dem Zufallsprinzip ausgewählte Bücher. Nicht hingewiesen wird auf neuere, durch die Edition dieser Korrespondenz im Jahre 1999 angeregte Forschung sowie auf die im Erscheinen begriffene von Günter Berger und Julia Wassermann herausgegebene deutsche Übersetzung unter dem Titel „Vetternwirtschaft. Der Briefwechsel von Friedrich II. und Luise Dorothea von Sachsen-Gotha. Aus dem Französischen übersetzt“, deren Einleitung bereits einsehbar ist (http://www.duncker-humblot.de/images/cover/9783428535859_Leseprobe.pdf). Davon unterscheiden sich andere Literaturverzeichnisse, die auf jüngst erschienene Kataloge und Inventare hinweisen.
Doch selbst die besten positivistischen Texte zu Einzelobjekten können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die im Buchtitel versprochene Synthese des Barocken Universums nicht erreicht worden ist. Das liegt weniger daran, dass sich einige Objekte, etwa Caspar David Friedrichs „Kreuz im Gebirge“ oder Houdons Voltaire, der auch nur klein am Textrand abgebildet ist, ein wenig sträuben, wenn sie sich ‚barock’ nennen lassen sollen, als daran, dass etwas, was die Welt (d. h. das Barocke Universum) im Innersten zusammenhält oder wenigstens zusammenhalten könnte, nicht gefunden wurde. Der Rückfall hinter die Forschung, wie er sich an einigen Stellen abzeichnet, sichert noch keine Popularität. Neckische Überschriften wie „Ein elefantastisches Geburtstagsgeschenk“ oder „Ein Herzog sieht Sterne“ machen Versprechungen, welche die eher sachlich-trocknen als launigen Texte nicht einlösen. Auch das bei der Themenfindung eingesetzte Recycling von Katalogen gelungener Ausstellungen, welche die Gothaer Schätze auf geistvolle Art zu aktuellen Phänomenen wie Erotik, Mode, Gartengestaltung oder Reisen in Beziehung zu setzen wussten, konnte bei der Erzeugung eines Zusammenhangs nicht hilfreich sein. Das Sammelsurium des Pittoresken und Amüsanten ist barock, aber noch kein Barock, denn der die Einheit von Staunen und Erkennen garantierende Glaube ist dahin.
Vielleicht aber kann es tatsächlich mithilfe des Barockbegriffs gelingen, die disparaten Erbstücke aus der Barockzeit, die nun unterschiedlichen Institutionen und Wissenschaften zugefallen sind, wieder in eine Ganzheit zu überführen. Der kunstgeschichtliche Terminus ‚Barock’ hat als Periodisierungsbegriff in einer Reihe von Wissenschaften Fortüne gemacht, in denen er unterschiedlichen Kriterien genügt und unterschiedliche Zeiträume umfasst. Eine kulturwissenschaftliche Neureflexion dieses Begriffs steht auf der Tagesordnung. Hier sind alle Kulturwissenschaften – nicht nur das Forschungszentrum, das im Pagenhaus des Gothaer Schlosses logiert, – gefordert.
Die Objektauswahl konnte angesichts ihrer Begrenztheit – 90 Objekte wurden ins Licht geholt – und der Fülle der Überlieferung – 9.000 Regalmeter Akten, 9.000 Urkunden, 60.000 Karten und Pläne im Archiv, 580.000 Bände und 11.000 Handschriften in der Bibliothek, allein 130.000 Conchyleenarten in der Naturaliensammlung, eine riesige Kunstsammlung mit zahlreichen Highlights – unmöglich repräsentativ sein. Sie spiegelt lediglich die Vielgestaltigkeit und Vielgesichtigkeit der Gothaer Sammlungen wieder und kann aufgrund ihrer Beschränkung auch diese kaum erfassen. So kann dieses übrigens sehr schön gestaltete Buch für den Kunsthistoriker und Bildwissenschaftler letztendlich nur ein Hinweis auf die immensen Gothaer Sammlungen sein und eine Einladung, sich mit ihnen zu beschäftigen und an ihrer Erforschung sowie der Rekonstruktion ihres Sinnzusammenhanges mitzuwirken. Das Buch verspricht ihm kompetente Gesprächspartner auf Schloss Friedenstein und nennt ihre Namen.
Stiftung Schloss Friedenstein (Hrsg.): Das Barocke Universum Gotha. Schätze von Schloss Friedenstein aus Archiv, Bibliothek und Museen, Gotha: Freistaat Thüringen 2011
ISBN-13: 978-3-940998-10-1, 256 S., EUR 24,90
Empfohlene Zitation:
René Sternke: [Rezension zu:] Stiftung Schloss Friedenstein (Hrsg.): Das Barocke Universum Gotha. Schätze von Schloss Friedenstein aus Archiv, Bibliothek und Museen, Gotha 2011. In: ArtHist.net, 22.12.2011. Letzter Zugriff 21.12.2024. <https://arthist.net/reviews/2451>.
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