REV 07.02.2021

Lampugnani, Anna Magnago: Furor

Rezensiert von Jennifer Krieger, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Redaktion: Livia Cárdenas
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Wer sich innerhalb der kunstgeschichtlichen Forschung auf das Gebiet der Kunsttheorie wagt, sieht sich oftmals mit komplexen Phänomenen konfrontiert, die sich nur schwer greifen lassen. Themenfelder, die sich mit kunsttheoretischen Schlüsselbegriffen auseinandersetzen, bringen die Schwierigkeit mit sich, dass Bedeutung und Wirkung innerhalb der Sprache keine konstante Größe bilden, sondern sie oftmals einem vielschichtigen Bedeutungswandel unterworfen sind. Mit dieser Herausforderung war auch Anna Magnago Lampugnani konfrontiert, die sich mit ihrer Arbeit zum ‚furor‘ (Enthusiasmus, Begeisterung) und den Inspirationsvorstellungen in der Renaissance ein breit angelegtes und facettenreiches Forschungsfeld abgesteckt hat.

Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zu den Quellen künstlerischer Eingebung bildet die Figur des gelehrten Künstlers (‚pictor doctus‘) in der Frühen Neuzeit, dessen Idealbild, vor allem in dem von Alberti tradierten Sinne, auf dem akademisch strukturierten Studium von Theorie und Praxis beruhte. Doch wie die Verfasserin gleich zu Beginn überzeugend formuliert, wird in den kunsttheoretischen Texten und Traktaten der Frühen Neuzeit deutlich, dass neben den erlernbaren Regeln weitere Gesichtspunkte, wie etwa die angeborene Begabung (‚ingenium‘), von nicht geringerer Bedeutung für das Hervorbringen exzeptioneller Kunstwerke stehen. Doch worin liegt nun die Quelle der inspirierenden Kraft, der es gelingt diese außergewöhnliche Begabung zu entfachen und noch weiter zu befördern? Welche (nicht erlernbaren) Charaktereigenschaften geben dem Künstler die Möglichkeit außergewöhnliche Werke zu schaffen?

Schnell stellt sich für die Autorin heraus, dass sich der Begriff der ‚Inspiration‘ als wenig ergiebig erweist: „Tatsächlich hat sich nicht der inspirierte, sondern der begeisterte Künstler als besonderes Phänomen der Renaissance herauskristallisiert.“ (12) Aus diesem Grund richtet sie ihre Aufmerksamkeit auf den der Inspiration eng verbundenen Begriff des ‚furor‘, um sich den vor allem im Cinquecento virulenten Konzepten künstlerischer Eingebung anzunähern. Dass sie sich dabei der Herausforderung stellt, mit der Geschichte des ‚furor‘ einer „Geschichte komplexer Transformationen“ (13) nachzuspüren, zeichnet den hohen Anspruch dieser Arbeit aus, in welcher der ‚furor‘ nicht als unveränderliche Größe, sondern als dynamischer Teil eines poetologischen und ästhetischen Diskurses betrachtet wird. Fortlaufend stützt sich die Verfasserin in ihrer Arbeit gleichermaßen auf die Analyse kunsttheoretischer Texte wie auch von Bildzeugnissen, um einen vielschichtigen Blick auf das Phänomen ‚furor‘ zu geben. Damit leistet sie einen wichtigen Beitrag zur kunstwissenschaftlichen Forschung, da sie in ihrer Studie den Blick keineswegs nur auf die theoretische Vorstellung der Begeisterung richtet, sondern gleichzeitig mit der Frage verbindet, wie Künstler in ihren Bildwerken ihren Schaffensprozess dargestellt haben. Hierin verdeutlicht sie anhand vielfältiger Beispiele die Ambiguität der Denkfigur, die sich in einem Spannungsverhältnis von Ausnahmezustand und einer regulierenden ‚ratio‘ bewegt. Um der angesprochenen Komplexität der Transformationsgeschichte nachzugehen wird – der Einleitung folgend, in der das Spannungsverhältnis von ‚furor‘ und christlicher Inspiration eingehender erläutert wird – innerhalb des ersten Teils zunächst die Figur des begeisterten Dichters untersucht, um sich anschließend im zweiten Teil der des begeisterten Künstlers anzunähern.[1]

Hier zeigt sich, dass Konzepte der Eingebung in ihrem Ursprung seit der Antike eng mit der Dichtung (und nicht wie man vermuten könnte mit der bildenden Kunst) verwoben sind. So wird anhand der untersuchten Texte deutlich, dass vor allem Platon wesentlich zur Gestaltung des „begeisterten Dichters“ beigetragen hat und durch den Ausschluss von Weisheit und Kunstfertigkeit die Eingebung auf nahezu radikale Weise zu einem von Wahnsinn und Raserei dominierten Prozess transformierte (42). Demgegenüber werden dichterische Prozesse in der römischen Literatur, wie anhand Ciceros Vorstellung des ‚furor‘ verdeutlicht wird, mit einem „göttlichen Hauch“ (43) umschrieben und zeichnen in diesem Sinne eine, fern von Platons manischem Enthusiasmus, deutlich zurückhaltendere Form der Poetik. Im 13. Jahrhundert beziehen sich Dichter des ‚Dolce Stil Nuovo‘ wieder auf den christlich aufgeladenen Inspirationsbegriff, schreiben die anregende Wirkung jedoch nicht Gott, sondern Amor zu. Letzterer nimmt vorübergehend den Geist des Dichters in Besitz und versetzt ihn in einen produktiv-schöpferischen Zustand (58). Letztendlich zeigt sich durch die Betrachtung von Dantes ‚Divina Commedia‘, welche Transformationen das Verständnis dichterischer Inspiration durchlief. So beansprucht Dante für die Legitimation seiner Vision einer Reise durch Hölle, Fegefeuer und Paradies eine religiöse Art der Eingebung für sich. Dabei kann gezeigt werden, dass die empfangene Inspiration von ihm vielmehr als eine Art göttlicher Beistand ausgelegt wird, der ihn mit der Kraft der Imagination ausstattet, als dass es um das Einhauchen konkreter Aussagen geht (vgl. 69).

Im Kontext der humanistischen Verteidigung der Poesie rücken Inspiration und ‚furor‘ wiederum ins Zentrum der Diskussionen, da sie, vor allem gegenüber den vorgebrachten Anschuldigungen der Unwahrheit, der göttlichen Quelle antiker Dichtung Rückhalt gaben. In besonderer Weise sind die Ausführungen zu Boccaccios enzyklopädischen ‚Genealogie deorum gentilium‘ (1360) hervorzuheben, in denen Magnago Lampugnani im ‚fervor‘ (lat. Glut, Hitze) einen bedeutenden Vorläufer für das Konzept des ‚furor‘ identifiziert (84-88). Der ‚fervor‘ bei Boccaccio ist als eine durch Leidenschaft angetriebene Kraft zu verstehen, die für einen begeisterten Impuls des Dichters sorgt. Als göttliche Gabe verliehen zeichnet er die Persönlichkeit ausgewählter Poeten dauerhaft aus, ist also nicht als vorübergehender Ausnahmezustand zu definieren.

Mit Blick auf die Rolle der Inspiration im Renaissanceplatonismus bei Leonardo Bruni und Marsilio Ficino zeigt sie, dass eine intensive Auseinandersetzung mit dem ‚furor‘ als Ursprung der Dichtung stattfand. Im Falle Brunis wird Platons Theorie sogar hierarchisch umgedeutet, wenn er konstatiert, dass eine durch ‚furor‘ angeregte (und somit göttlich eingehauchte) Dichtung höher zu bewerten sei als diejenige, die nur dem menschlichen Verstand entspringe (vgl. 90). Im Gegensatz zu Platon, der die Dichtung als Effekt des Wahnsinns begreift, verbindet Bruni jedoch das Ergebnis begeisterter Dichtung mit dem gesunden Menschen, indem er dem ‚furor‘ eine positiv stimulierende Kraft zugesteht.

Im zweiten Teil ihrer Studie widmet sich die Verfasserin den begeisterten bildenden Künstlern, wobei sie in zwei Hauptkapiteln zunächst die frühen Vorstellungen untersucht (114-170) und sich schließlich der künstlerischen Begeisterung im Cinquecento zuwendet (171-314). In der Antike erscheint der bildende Künstler aufgrund der noch etablierten Vorstellung, nur handwerkliche Tätigkeiten auszuführen, von Inspiration und Begeisterung zunächst ausgeschlossen. Zwar zeigen vereinzelte spätantike Quellen, dass die Begeisterung durchaus schon im Kontext der bildenden Künste Erwähnung fand (120ff.), doch wurde trotz intensiver Beschäftigung mit dem dichterischen ‚furor‘, u.a. bei Cicero, dieser von den bekannten Autoren nicht auf das Schaffen der Künstler bezogen.

In der Renaissance, so zeigt Magnago Lampugnani im umfangreichen letzten Teil ihrer Studie, kommt es diesbezüglich zu einer bedeutenden Veränderung, denn hier tritt der ‚furor‘ nun vermehrt auch in Form einer künstlerischen Begeisterung in Erscheinung. Dem Maler Sodoma dient er beispielsweise als Rechtfertigung für einen nicht fristgerecht erledigten Auftrag, den er aufgrund seines produktiven Ausnahmezustands nicht ausführen könne (171). In der kunsttheoretischen Reflexion des Cinquecento diskutieren u.a. Francisco de Hollanda, Giorgio Vasari und Giovanni Paolo Lomazzo die Denkfigur des ‚furor‘, fragen nach den Quellen des flüchtigen Phänomens und kommen zu unterschiedlichen Antworten: Erwähnt Hollanda noch eine göttlich legitimierte Erregung (‚divino furor‘) (173ff.), wird in Vasaris Vita Battista Francos der Wein als Stimulus des begeisterten Zustands genannt (190ff.) und auch bei Lomazzo findet sich dies als auslösender Faktor, wenn er sich selbst als bacchisch berauschten Maler inszeniert und den für die Poeten reservierten ‚furor‘ nun auch für die bildenden Künstler in Anspruch nimmt (192ff.). Für den gelehrten Arzt und Botaniker Bartolomeo Maranta, so kann die Verfasserin anhand der fokussierten Lektüre seines 1561 verfassten ‚Discorso‘ zeigen, verkörpert Tizian den vom ‚furor‘ ergriffenen Künstler, der dank göttlicher Inspiration eine bewundernswerte Verkündigungsszene malte (183-185). Letztlich wird auch die Liebe als anregende Quelle für den künstlerischen Prozess in Betracht gezogen, wenngleich die zügellose Liebe kritisch bewertet wurde. Sind die auslösenden Faktoren für den ‚furor‘ nicht zu erkennen, kann er mitunter im Künstler selbst angelegt und somit psychologischer Gestalt sein. Die im Künstler selbst entfachte Begeisterung, so kann Magnago Lampugnani anhand ihrer präzisen Untersuchung des kunsttheoretischen Konzepts des ‚furor‘ bei Vasari verdeutlichen, bleibt jedoch im 16. Jahrhundert ein kompliziert zu greifendes Konzept, dessen Verhältnis zu ‚ingenium‘ und Talent sowie dessen Gratwanderung zwischen Idee und Ausführung eines Werkes immer wieder neu diskutiert wird.[2]

Eindrücklich zeigt die Verfasserin anhand des gründlich ausgearbeiteten Quellen- und Bildmaterials die Multidimensionalität von künstlerischer Begeisterung, deren Entwicklung keineswegs als lineares Modell erfasst werden kann. Ganz im Gegenteil: Die Stärke der von Anna Magnago Lampugnani vorgelegten Arbeit ist die breit angelegte Perspektive, in der sie die Denkfigur des ‚furor‘ verortet, ohne dabei den Blick zu starr auf nur eine eindeutige Erklärung lenken zu wollen. Vielmehr regt sie mit ihrer vielschichtigen Studie dazu an, das Phänomen in Relation und Abgrenzung zu anderen Konzepten wie ‚ratio‘, ‚studium‘, ‚ingenium‘, ‚licentia‘ oder ‚fantasia‘ – um nur einige zu nennen – zu reflektieren und verdeutlicht hierin, das der ‚furor‘ ein dynamisches Konzept beschreibt, das zwischen Enthusiasmus und Disziplinierung oszilliert. Eine Arbeit, die nicht nur die Vorstellung künstlerischer Begeisterung facettenreich untersucht, sondern darüber hinaus auch ‚furor‘ bei der Lektüre entfacht.

[1] Auf ein Personenverzeichnis sowie einen Index wurde verzichtet, was in Hinblick auf das reichhaltige Quellenmaterial eine gezielte Lektüre nicht ermöglicht. Jedoch bietet das Inhaltsverzeichnis eine erste Orientierung. Doch sei angemerkt, dass die Stärke der Studie sich vor allem aus der Kohärenz der vorgestellten Einzelbeispiele entwickelt und eine Gesamtlektüre, insbesondere in Hinblick auf die Transformationsgeschichte des ‚furor‘ in Poetik und den Bildkünsten, für einen Überblick in die Vielschichtigkeit des Phänomens unumgänglich ist.
[2] Interessanterweise wird Michelangelo in Vasaris Vitenmodell kein ‚furor‘ zugesprochen (Vgl. 252). Eine tiefergehende Auseinandersetzung mit dem eng an ihn gebundenen, unübersetzbaren Ausdruck der ‚terribilità‘ (von ital. ‚terribile‘, schrecklich) als eng verwandtes Phänomen hätte an dieser Stelle eine zusätzliche Perspektive eröffnen können, zumal Anna Magnago Lampugnani selbst auf die Gewaltsamkeit des begeisterten künstlerischen Aktes verweist (Vgl. 262). Die Autorin stellt die ‚terribilità‘ Michelangelos für die Verbreitung des ‚furor‘ in einen engen Zusammenhang (270), führt diesen Gedanken jedoch nicht weiter aus.

Lampugnani, Anna Magnago: Furor. Vorstellungen künstlerischer Eingebung in der Frühen Neuzeit (= Römische Studien der Bibliotheca Hertziana; 47), München: Hirmer Verlag 2020
ISBN-13: 978-3-7774-3712-5, 353 S., EUR 49.90

Empfohlene Zitation:
Jennifer Krieger: [Rezension zu:] Lampugnani, Anna Magnago: Furor. Vorstellungen künstlerischer Eingebung in der Frühen Neuzeit (= Römische Studien der Bibliotheca Hertziana; 47), München 2020. In: ArtHist.net, 07.02.2021. Letzter Zugriff 19.04.2024. <https://arthist.net/reviews/24240>.

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