Den vielfältigen Aspekten von Margarete Schütte-Lihotzkys Leben und Werk geht der Tagungsband mit dem Untertitel „Architektur. Politik. Geschlecht“ nach. Schütte-Lihotzky hat nicht nur die Frankfurter Küche entwickelt, sondern auch Konzepte für wachsende Siedlungshäuser sowie innovative Schulen und Kindergärten. Damit hat sie die Entwicklung der modernen Architektur entscheidend mit vorangetrieben. Im kommunistischen Widerstand gegen den Nationalsozialismus und als Aktivistin der Frauenbewegung war sie zudem politisch einflussreich.
Das erste Kapitel differenziert die Sonderrolle, die Schütte-Lihotzky als Frau in der modernen Architekturszene gespielt hat. Zu Beginn widmet sich Karin Zogmayer, die Herausgeberin der Autobiographien Schütte-Lihotzkys, der „Vitalität“ der Architektin, die in ihrem beinahe 103jährigen Leben trotz vielfacher Hindernisse nie das, was sie als Bestimmung empfunden hat, aus den Augen verlor. Ihr „demokratisches Engagement“ für Frauen behandelt anschließend Christine Zwingl. Die interessante Frage, wer nun die erste Architektin Österreichs ist, stellt Sabine Plakolm-Forsthuber. Nicht Schütte-Lihotzky, sondern Elisabeth Nießen schloss als erste Frau 1917 ihr Studium an der Kunstgewerbeschule ab. Zudem geht Plakolm-Forsthuber auf die Ausbildungssituation für Frauen an den Wiener Hochschulen ein. Bei genauerem Hinsehen findet sich eine ganze Reihe von Architektinnen. Das schmälert Schütte-Lihotzkys Leistung aber nur wenig, denn keine der Kolleginnen konnte sich in den elitären Zirkeln der modernen Bewegung etablieren. Das Kapitel wird von einem Beitrag der Mitherausgeberin Bernadette Reinhold beschlossen, die sich mit den Deutungen des eigenen Lebens in den Autobiographien Schütte-Lihotzkys beschäftigt.
Wesentliche Impulse liefert das Kapitel „Stationen eines transnationalen Architektinnenlebens“. Sophie Hochhäusl recherchierte den gewichtigen Beitrag, den Schütte-Lihotzky zur Siedlerbewegung in Wien leistete. Hier wird die ungeheure Konsequenz, die Schütte als entwerfende Architektin hatte, deutlich. In vielem war sie fortschrittlicher als ihre männlichen Kollegen. Das Konzept des Kernhauses zeigt die junge Frau als „master mind“ einer architektonischen Zukunft, deren nachhaltiges Denken noch heute beeindruckt. Was sie wesentlich von dort mitnahm, war die Konzeption von typischen Lösungen, die für eine Massenanwendung gedacht waren. Dass Schütte-Lihotzky durch ihr eminent lösungsorientiertes Denken wenig Probleme hatte, sich in den männlich dominierten Kreisen des Neuen Frankfurt durchzusetzen, zeigt Claudia Quiring. Auch wenn sie – vor allem durch ihre Heirat mit Wilhelm Schütte – schlechtere Arbeitsverträge erhielt. Wichtig ist hier auch die Einschätzung der so omnipräsenten Frankfurter Küche als ein Produkt derselben Entwurfsstrategien, die Schütte-Lihotzky allen anderen Bauaufgaben ebenso zukommen ließ. Einen neuen Aspekt bietet Thomas Flierls Beitrag über die sowjetischen Jahre des Ehepaars Schütte-Lihotzky. Was für die beiden dort so verführerisch war, war die Möglichkeit der beinahe unendlichen Realisierung ihrer Entwürfe: Wilhelm Schütte war für den Schulbau, Margarete Schütte-Lihotzky für die Kindergärten, mit denen sie sich schon in Frankfurt beschäftigt hatte, zuständig. Nicht für einen, sondern für alle neu zu bauenden in der Sowjetunion! Dem kurzen aber folgenreichen Intermezzo in Istanbul geht Burcu Dogramaci in ihrem Beitrag nach. Schütte-Lihotzky, die dort ländliche Schulbauten entwickelte, entdeckte ihr Interesse an traditioneller türkischer Architektur. Monika Platzer untersucht die „vergessenen Architekturdiskurse“ der Wiener Nachkriegszeit, deren antisowjetische Grundhaltung vielfach die Beauftragung der kommunistischen Architektin verhinderte. Die Chinareisebücher von Schütte-Lihotzky stellt Helen Young Chang vor. Sie bemerkt einerseits die Gesinnungstreue der Architektin, die ihre Mitreisenden bespitzelt, aber auch ihr genuines Interesse an der historischen Hofarchitektur Chinas, die sie in ihren Kindergartenbauten referenziert. Carla Aßman geht der Tätigkeit Schütte-Lihotzkys als Beraterin der Bauakademie in der DDR nach, wo sie sich wiederum mit dem Schulbauprogramm beschäftigte.
Das dritte Kapitel ist mit „Begegnungen“ übertitelt und stellt die wichtigsten Beziehungen Schütte-Lihotzkys dar: mit Otto Neurath, dem wichtigen Impulsgeber und Sprachrohr der Siedlerbewegung, von dem sie sich zuletzt aus politischen Gründen entfremdete, wie Günther Sandner feststellt, und mit Herbert Eichholzer, dem Genossen, für den sie zurück nach Wien reiste und dort wie er verhaftet wurde. Die architektonisch wie politisch nahen Beziehungen zwischen den beiden analysiert Antje Senarclens de Grancy. Dem Verhältnis zu ihrem Lebenspartner Wilhelm Schütte geht David Baum nach, vor allem der Frage, ob Wilhelm Schütte im Schatten seiner vitalen und produktiven Frau stand. Ihrer zweiten diskreten Liebe zu Hans Wetzler widmet Mitherausgeber Marcel Bois einen Beitrag. Wetzler und Schütte-Lihotzky stammten beide aus einem Wiener bürgerlich-intellektuellen Milieu, schlossen sich beide dem Kommunismus an und waren Teil eines bürgerlich-kommunistischen Netzwerkes nach dem Weltkrieg.
Das anschließende Kapitel untersucht das zentrale Thema der „Politischen Margarete Schütte-Lihotzky“ und konzentriert sich auf ihre Arbeit im Widerstand und in der Nachkriegszeit. Elisabeth Boeckl-Klamper deckt minutiös das Netzwerk der Spioninnen und Spione auf, die den Widerstand infiltriert und verraten haben. Diese genaue Rekonstruktion der involvierten Personen ist so wichtig, weil sie das gutorganisierte Spitzelwesen der Nationalsozialisten offenlegt. Wie es geschehen konnte, dass das kommunistische Engagement und ihr Widerstand gegen den Nationalsozialismus ihr im Nachkriegsösterreich nicht genützt, sondern geschadet haben, erklärt Manfred Mugrauer in seiner Analyse der „Ausgrenzung der KPÖ“ im beginnenden Kalten Krieg, deren Mitglied Schütte-Lihotzky seit 1939 war. Der dogmatische staatstragende Antikommunismus verhinderte die Beauftragung einer der wichtigsten Protagonistinnen der modernen Bewegung in Wien. In der Nachkriegszeit eröffnete sich für Schütte-Lihotzky ein neues Betätigungsfeld im parteinahen Bund Demokratischer Frauen, das Karin Schneider „einer Probebohrung“ unterzieht.
Abschließend widmet sich ein Kapitel über „Kindergärten und Küchen“ den zwei Bauaufgaben, die für das Werk der Architektin bestimmend waren. Die Kindergärten, weil sie sich Zeit ihres Lebens theoretisch und praktisch mit ihnen auseinandergesetzt hat, wie Sebastian Engelmann und Christoph Freyer in ihren Essays analysieren. Die Frankfurter Küche, weil sie den weltweiten Ruf der Architektin begründete, aber alle ihre anderen Bemühungen stets überschattet hat. Jenseits ihrer so sorgfältig untersuchten ursprünglichen Bestimmung hat diese Küche ein Eigenleben in Museen und in der bildenden Kunst entwickelt. Diesem gehen Änne Söll und Marie-Theres Deutsch nach.
Das „bashing“ der Leitsätze moderner Architektur hat sich in den letzten Jahren vor allem um das Bauhausjubiläum etwas verselbständigt. Da tut es gut, sich mit Werk und Leben von Margarete Schütte-Lihotzky zu beschäftigen. Sie verkörperte bis zuletzt die optimistische und humanistische Seite der modernen Architektur. Sie wollte das Leben von so vielen Menschen wie möglich mit ihrer Architektur besser, leichter, erträglicher machen. Sie wollte nicht für Individuen bauen, sondern für die Gemeinschaft, die Erziehung dahin war das Ziel ihrer Architekturen. „Gemeinschaft“ war der Begriff, der auch ihr politisches Engagement antrieb. Ihre Neugier ließ sie viele Gemeinschaften finden; im Siedlerverband in Wien, in der Sozialdemokratischen Partei, im Neuen Frankfurt, in Russland, in der Türkei, in der KPÖ, im Widerstand gegen den Nationalsozialismus und nicht zuletzt mit ihren Mitgefangenen in der nationalsozialistischen Haft und später in der Frauen- und Friedensbewegung. Die Vergesellschaftung war ihr großes Anliegen, das sie in der Kommunistischen Partei Österreichs verwirklicht sah. Sie hat dafür vieles geopfert, und sie hat für die Aufrechterhaltung ihres Ideals auch einiges ignorieren können, vor allem was die Entwicklung in der Sowjetunion betraf. Wie viele linke Intellektuelle konnte oder wollte sie den stalinistischen Terror nicht als solchen wahrhaben.
Die Architekturgeschichtsschreibung bemüht sich seit Jahrzehnten, den Mythos der männlichen Einzelkämpfer der Moderne zu brechen, sich mehr mit den Netzwerken, den Büros, den Institutionen zu beschäftigen. Das kommt der Erforschung von Architektinnenbiographien entgegen, so auch im Fall von Schütte-Lihotzky. Den Anspruch, ein solitärer Genius zu sein, hat Schütte-Lihotzky nie gehabt, sie sah sich immer als Teil einer Bewegung und ist so auch am besten dargestellt. Aus der Vielfalt der Themen und Positionen tritt einem immer wieder der unbedingte Wille einer Frau entgegen, die laut eigener Aussage „immer nur bauen wollte.“ Der Band ist eine gelungene Ergänzung zur Erforschung dieser Ausnahmeerscheinung.
Bois, Marcel; Reinhold, Bernadette (Hrsg.): Margarete Schütte-Lihotzky: Architektur - Politik - Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk (= Edition Angewandte), Basel: Birkhäuser 2019
ISBN-13: 978-3-0356-1959-1, 360 S., 39.95 EURO, Inhaltsverzeichnis
Empfohlene Zitation:
Ruth Hanisch: [Rezension zu:] Bois, Marcel; Reinhold, Bernadette (Hrsg.): Margarete Schütte-Lihotzky: Architektur - Politik - Geschlecht. Neue Perspektiven auf Leben und Werk (= Edition Angewandte), Basel 2019. In: ArtHist.net, 14.12.2020. Letzter Zugriff 28.12.2024. <https://arthist.net/reviews/24111>.
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