REV 03.12.2008

Michael Brix u.a. (Hg): Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler, Dehio: Bayern ; 2

Rezensiert von Hecht Christian, Weimar
Redaktion: Livia Cárdenas
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Nach 20 Jahren liegt der „Dehio Niederbayern“ in einer stark überarbeiteten Form vor. Gehörte schon der ältere Band zu den besonders gelungenen seiner Art, so darf man dem jetzt erschienenen ein uneingeschränktes Lob aussprechen. Es war sicher richtig, nicht einfach die vergriffene Auflage unverändert nachzudrucken, sondern sie wirklich zu überarbeiten und die nicht wenigen neuen Forschungsergebnisse zur Kunst in Niederbayern zu berücksichtigen.

Die bewährte Gliederung und der übliche Aufbau der Artikel wurden beibehalten. Gekürzt wurden allerdings die recht ausführlichen und von vielen kaum gelesenen topographischen Angaben, die vor allem den Städteartikeln vorangestellt sind. Der gewonnene Raum konnte u. a. für die sehr praktischen Inhaltsverzeichnisse (Landshut, Passau) genutzt werden. Größere Veränderungen bei der Auswahl der Objekte gibt es nicht. Immer noch steht die Architektur im Zentrum, jedoch wurde vor allem die Skulptur noch stärker behandelt als früher.

Die Vorgabe, den Band nicht anschwellen zu lassen, führte vielleicht an manchen Stellen zu einer im Vergleich zur älteren Auflage etwas weniger übersichtlichen Gestaltung der Seiten; viele Leerzeilen sind weggefallen, was sich etwa bei den Angaben zum Wohnhausbau nicht positiv auswirkt (z.B. S. 354/5 alt zu S. 340/1 neu). Aber wirklich problematisch kann man diese Änderung nicht nennen, zumal sie insgesamt das Buch handlicher machen als seinen Vorgänger.

Als im frühen 19. Jahrhundert die weitgehend bis heute bestehenden bayerischen Verwaltungseinheiten geschaffen wurden, legte man Wert darauf, neue Grenzen zu ziehen und diese neu zu benennen. So geschah es auch mit dem „Unter-Donau-Kreis“, der nach einigen territorialen Veränderungen erst durch König Ludwig I. den historischen Namen Niederbayern erhielt. Das alte, 1255 geschaffene bayerische Teilherzogtum war jedoch wesentlich größer als der heutige Bezirk bzw. Regierungsbezirk. Hinzu kommen jedoch noch einige ehemals nichtbayerische Territorien, vor allem das Hochstift Passau oder auch die Grafschaft Ortenburg. Niederbayern ist also alles andere als eine einheitliche gewachsene „Kunstlandschaft“. Die wichtigsten künstlerischen Zentren, die sich auf dem heutigen Gebiet Niederbayerns befinden, sind das fürstbischöfliche Passau und das herzogliche Landshut.

Wie nicht anders zu erwarten dokumentiert der Band die überragende Bedeutung dieser beiden Städte, denen man noch das ebenfalls herzogliche Straubing an die Seite stellen darf. Trotz ihrer unterschiedlichen Vergangenheit haben diese Städte eine wichtige Gemeinsamkeit: Sie wurden im letzten Weltkrieg nicht oder doch kaum zerstört. Der „Dehio“ trägt dieser Tatsache Rechnung, nicht nur durch die Würdigung bedeutender und typischer Wohnhausbauten, sondern z.T. auch durch Kritik an unnötigen Zerstörungen, denen leider bis heute immer wieder Denkmale aller Art zum Opfer fallen. Schon die ältere Ausgabe pflegte einen sehr deutlichen Stil, wenn es galt, falsche städtebauliche Entscheidungen zu benennen. Mit dieser guten Tradition wurde nicht gebrochen. Die kritischen Sätze blieben stehen, etwa zu den Bausünden der Stadt Passau: „Ohne Rücksicht auf Traditionswerte hat man die neue Schanzlbrücke in das enge Stadtgefüge gestemmt.“ (S. 477). Fast noch schärfer wirkt es aber, wenn einfach nur beschrieben wird. Wiederum sei ein Passauer Beispiel genannt: Johann Baptist Schotts Kirche St. Anton. Zu ihrer letzten Restaurierung heißt es: „Umorientierung des längsgerichteten Baus zum Zentralraum“ (S. 495). Wie das möglich gewesen ist, fragt man sich.

Während die Autoren derartige Probleme offen ansprechen, argumentieren sie in wissenschaftlicher Hinsicht sehr zurückhaltend. Angesichts des geringen zur Verfügung stehenden Platzes, ist es keine banale Aufgabe, wirklich nur das zu sagen, was man nach dem Stand der Forschung verantworten kann. Gerade bei der Behandlung von Landshut und Passau zeigt sich diese abwägende Genauigkeit sehr deutlich. Natürlich fragt man sich etwa, wie die lang diskutierte Zuschreibungsfrage der Landshuter Stadtresidenz berücksichtigt wird. Die nur als salomonisch zu bezeichnende Lösung lautet: „Der Entwurf zur Außenfassade wird mit gutem Grund Giulio Romano zugeschrieben“ (S. 328) Treffender und kürzer kann man den Stand der Forschung nicht zusammenfassen. (Vgl. Iris Lauterbach u.a. [Hg.]: Die Landshuter Stadtresidenz. Architektur und Ausstattung [Veröffentlichungen des Zentralinstituts für Kunstgeschichte 14]. München 1998).

Wird man schon den Stellenwert Landshuts kaum überschätzen können, so gilt das ebenfalls, wenn nicht noch mehr, für Passau, das während mehrerer Jahrhunderte im Zentrum weitgespannter künstlerischer Bezüge stand. Mit über 70 Textseiten wird der Behandlung der Stadt großer Raum gegeben. In der älteren Ausgabe waren es zwar sogar noch einige mehr, allerdings ist diese Kürzung vor allem drucktechnisch bedingt. Wegen ihrer Bedeutung sollen diese Abschnitte ein wenig genauer betrachtet werden.

Im Zentrum Passaus – und seiner Kunstgeschichte – steht der Dom, den auch die neue Ausgabe ausführlich würdigt. Dabei gibt es nicht wenige Änderungen zum alten Text. So sind die Angaben zum spätgotischen Dom völlig neu geschrieben und spiegeln die neueste Forschung wider. Eine große Untersuchung zum vorbarocken Passauer Dom konnte und sollte an dieser Stelle dennoch nicht geleistet werden. Sie bleibt weiterhin ein Desiderat. Wenn man bei einem Besuch des Domes den Band in die Hand nimmt, müssen natürlich die Passagen besonders wichtig sein, die sich mit dem jetzigen Bau befassen, der nach dem Stadtbrand von 1662 als Hauptwerk des süddeutsch-österreichischen Barock entstanden ist. Der Dom verdankt seine heutige Gestalt einerseits dem Zusammenwirken des Architekten Carlo Lurago mit dem Stukkator Giovanni Battista Carlone und dem Freskanten Carpoforo Tencalla, andererseits dem Wunsch des Fürstbischofs, die erhaltenen Teile des gotischen Baus zu bewahren. Es handelte sich im Sinne der Zeitgenossen keineswegs um einen Neubau, sondern um die Restaurierung der durch den Brand beschädigten alten Anlage. Der Versuch, die gotische Struktur mit den Vorgaben der neuzeitlichen Architekturtheorie zu verbinden, führte zu völlig neuen Lösungen – genannt seien nur die großflächige, im Chor sogar jochübergreifende Freskierung sowie die großformatige Stuckplastik. Die durch den gotischen Bau geforderten Dimensionen bewirkten eine Monumentalisierung des Dekorationssystems. Die Wirkung des Passauer Vorbildes war enorm.

Bei der Beschreibung des Passauer Domes leistet der „Dehio“ mehr, als man erwarten dürfte. Schon das Äußere wird sehr differenziert behandelt, auch die Wiederherstellung der „historisch belegte[n] Kalklasur“ (S. 483) wird nicht vergessen. Der Streit über sie hatte vor einiger Zeit sogar die überregionale Presse erreicht. Die Beschreibung des Inneren übernimmt zahlreiche Angaben aus der neueren Forschung, vor allem aus dem von Karl Möseneder herausgegebenen Sammelband „Der Dom in Passau. Vom Barock bis zur Gegenwart“ (Passau 1995). So wird etwa, worauf der Rezensent gern verweist, der Eintrag zum nicht mehr erhaltenen Aufbau des barocken Hochaltars deutlich modifiziert. Es handelte sich um eine kleine Baldachinanlage mit mehreren Wechselbildern, von denen einige noch nachweisbar sind. Auf ein großes Retabel wurde von Anfang an verzichtet, um nicht die hohen Fenster des Chores zuzustellen. Den heutigen Hochaltaraufbau Josef Henselmanns würdigt der „Dehio“ als „Eines der bedeutendsten Werke der deutschen christlichen Kunst des 20. Jh.“ (S. 488). Ein großer Fortschritt ist ferner die Neuzuschreibung des linken Seitenaltarbildes an Francesco Innocenzo Turriani. Hervorzuheben ist auch die Zuweisung der außerordentlich qualitätvollen Kanzel an Antonio Beduzzi. Nachdem eine entsprechende Zeichnung nachgewiesen wurde, kann an daran kein Zweifel mehr bestehen. Angesichts der z.T. fast wörtlichen Übereinstimmungen mit der Melker Kanzel darf man sich übrigens fragen, wieso diese wirklich augenfällige Verwandtschaft so lange nicht gesehen worden ist. Ein wenig knapp ausgefallen sind vielleicht die Darlegungen zu den Langhausfresken Carpoforo Tencallas; hier wäre sicher ein etwas deutlicherer Hinweis auf das Vorbild der Eucharistieteppiche von Rubens sinnvoll gewesen. Auch die formale Leistung Tencallas hätte durchaus noch stärker betont werden können. Ähnliches wird man auch zum Stuck Giovanni Battista Carlones sagen. Aber auf eine umfassende Studie zu diesem besonders wichtigen Künstler konnte der „Dehio“ leider nicht zurückgreifen. kann raus Dennoch sind die Passagen zum Passauer Dom sicher ein besonders gelungener Abschnitt des neuen „Dehio“. Wenn einige der neueren Ausstattungsstücke des Domes übrigens nicht gewürdigt werden, merkt man die wertende Beurteilung der Autoren, die sich dabei zu recht auf Georg Dehio berufen dürften. So wird etwa der unter dem Vierungsturm aufgestellte Zelebrationsaltar nicht genannt, obwohl er wie der Hauptaltar ein Werk Henselmanns ist. Ebenso fehlt das neue Chorgestühl. Mit leiser Ironie geschrieben ist auch der Satz: „Seither [d. h. seit 1977–80, d. Rez.] kann sich Passau des Superlativs ‚größte Domorgel der Welt’ rühmen.“ (S. 490)

Natürlich wäre es – trotz des Rangs der Städte – grundfalsch, nicht auch einen Blick auf die vielen kleineren Orte zu werfen. Hier wird wieder einmal die Wichtigkeit des „Dehios“ deutlich: Wie keine andere Publikation erschließt er die Kunst- und Kulturdichte der jeweils behandelten Territorien Wie wichtig diese Tatsache ist, wird in Niederbayern besonders deutlich. Kunsthistorisch gesehen zeigt sich dabei sehr klar die Bedeutung der Spätgotik. Als Beispiele seien etwa die Pfarrkirchen von Karpfham oder von Unterdietfurt erwähnt. Sehr viele dieser Bauten verdienten eine erheblich größere Aufmerksamkeit, als ihnen normalerweise zuteil wird.

Noch etwas darf man dem Band bescheinigen: Er ist unaufgeregt. Die Autoren hatten nicht das Bedürfnis, jeden Neubau der letzten 20 Jahre, nur weil er etwa recht groß ist, in ihren Katalog aufzunehmen. In weiteren 20 Jahren mag das vielleicht anders aussehen. Möglicherweise sind dann aber manche, jetzt hochaktuelle Bauten schon wieder verschwunden. Auch die Zurückhaltung bei der Würdigung von Kirchenumbauten ist auffällig. Seit den 1970er Jahren ändert man die Altäre in immer schnelleren Abständen. Mit ihrer geringen durchschnittlichen Haltbarkeit von nur wenigen Jahren fallen diese Anlagen gewissermaßen durch das Zeitraster des „Dehio“. Es gibt also meist keinen Grund, ihre oft nur mäßige Qualität überhaupt zu erwähnen.

Angenehm berührt die Sprache, die einerseits natürlich auf der Höhe der Fachterminologie ist, die sich andererseits aber auch einem größeren Publikum nicht verschließt. Wenn man nämlich genau formuliert – mit Blick auf die Kunstwerke – fällt die Gratwanderung zwischen Wissenschaftlichkeit und Verständlichkeit gar nicht so schwer. Dafür ist dieser Band ein guter Beleg. Und für schwierigere Fälle gibt es das bewährte kleine Lexikon der Fachausdrücke (S. 783-796).

Wer sich gefragt haben sollte, ob denn nach 20 Jahren bereits ein neuer „Niederbayern-Dehio“ fällig gewesen ist, der wird sich nach der Durchsicht des Bandes sagen müssen: Ja.

Brix, Michael; Bischoff, Franz; Kobler, Friedrich; Dehio, Georg (Hrsg.): Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler / Georg Dehio : Bayern ; 2. Niederbayern, München: Deutscher Kunstverlag 2008
ISBN-13: 978-3-422-03122-7, XIV, 797 S, EUR 58.00

Empfohlene Zitation:
Hecht Christian: [Rezension zu:] Brix, Michael; Bischoff, Franz; Kobler, Friedrich; Dehio, Georg (Hrsg.): Handbuch der deutschen Kunstdenkmäler / Georg Dehio : Bayern ; 2. Niederbayern, München 2008. In: ArtHist.net, 03.12.2008. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/240>.

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