Das Phänomen Künstlergruppe ist relativ schlecht dokumentiert. So finden sich auch in Kunstlexika dazu nur spärliche Angaben. Mit Künstlergruppen, die seit 1900 in Europa ge-gründet wurden, beschäftigte sich der Privatge-lehrte Christoph Wilhelmi fast zwanzig Jahre. Seine Ergebnisse veröffentlichte er in drei Bän-den, der letzte erschien unlängst. Abseits insti-tutioneller Zusammenhänge entstand ein Kom-pendium, das 16 000 Künstler in 962 Gruppen erfaßte.
Wilhelmi stellt sein Werk in den Zusammen-hang einer Erforschung der Durchsetzung der künstlerischen Moderne in Europa. Ohne Be-trachtung des Gruppenphänomens, so Wilhel-mis These und Motiv, fehle der Kunstge-schichtsschreibung ein wesentliches Element. Er konzipierte das Werk als Findebuch, als Liste europäischer Kunstgruppen. Jeder der drei Bände beginnt mit Vorbemerkungen und langen Einführungen. Insbesondere im ersten Band führt Wilhelmi Grundsätzliches aus. Die Einführung des zweiten Bandes, der den Grup-pen in Osteuropa gilt, handelt vor allem von den vielfältigen politischen Restriktionen, denen Künstler dort ebenso unterworfen waren wie deren Geschichtsschreiber. Im dritten Band bilanziert Wilhelmi in der Einführung seine Forschung.
Das Motto einer Ausstellung, die im Kasseler Fridericianum 2005 stattfand, lautete „Kollekti-ve Kreativität“ und erfaßte aktive außer- und osteuropäische Künstlergruppen, die meisten davon sind hierzulande nahezu unbekannt. Wie die Kuratoren dieser Ausstellung, René Block und Angelika Nollert, geht Wilhelmi davon aus, dass der Zusammenschluß von Künstlern zu einer Gruppe vor allem deshalb erfolgt, um künstlerische Positionen machtvoller, als es individuell möglich wäre, durchzusetzen. [1] Aber auch, so Wilhelmi, „gegenseitige Anre-gung“ ist von Bedeutung. (Bd.1, X) Explizit kritisiert er, dass dort, wo „Gruppen erwähnt sind (…) in aller Regel nur die treibenden Kräf-te, d.h. die ‚Stars‘ gewürdigt“ werden, die „übrigen Beteiligten werden allenfalls in Aus-wahl genannt.“ In Künstlermonographien wie-derum, werde „die Beteiligung an Gruppen ausgeklammert, oder selektiv erwähnt.“ (Bd.1, VII), obwohl - darauf verweist Nollert - „viel-fach Stile nach solchen (…) kollektiven Bewe-gungen benannt“ (...) wurden. Dazu zählt sie etwa Dada, Surrealismus, Situationismus, Flu-xus, Wiener Aktionismus.“ [2] Wilhelmis Bilanz ist eindeutig, die Durchsetzung der Mo-derne war erfolgreich als kollektive Aktion mit vielen, bis heute ungenannt gebliebenen, Akteu-ren. Sie waren ferner auch deshalb erfolgreich, weil sie im Gegensatz zum Politischen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, das auf das Nationale abstellte, international angelegt waren. Bekannteste Beispiele dafür sind die surrealisti-schen und dadaistischen Gruppen. Die „Auf-bruchstimmung war“, so Wilhelmi, ferner „ein spartenübergreifendes Phänomen“, viele Gruppierungen bildeten sich daher als „be-rufsübergreifende Gruppen.“ (Bd.1, 7) Nach der abrupten Unterbrechung durch die politische Lage, kam es nach 1945, noch ehe Europa ein politisches Projekt wurde, zu einer erneuten starken Europäisierung. So waren eine Reihe von Künstlern, wie vor 1933, Mitglieder gleich mehrerer Gruppen in einigen Ländern und pflegten interdisziplinären Austausch oder waren selbst in mehreren künstlerischen Disziplinen aktiv.
Die größte Schwierigkeit liegt für Wilhelmi, wie für die Sozialwissenschaft, in der Definition von Gruppe, ein einheitlicher Begriff existiert daher nicht. Neben der Betonung einer auf Dauer angelegten und regelmäßigen Interaktion, verweisen einige Autoren auf eine integrierte soziale Struktur, gemeinsame Ziele und Interessen, die Institutionalisierung bestimmter Normen, die Ausdifferenzierung bestimmter Rollen und eine formelle organisatorische Regelung. Andere Autoren wiederum sprechen auch informellen Formen einen Gruppenstatus nicht ab, direkte Kontakte untereinander spielen bei dieser Definition keine Rolle, die andernorts wieder als wesentlich betrachtet wird. Wilhelmi äußert sich dazu ausführlich. Seine Definition schließt eher an die erstgenannte soziologische Definition an, läßt aber auch andere Gruppen-bildungen zu. So erfüllte die Gruppe „Sturm“, die sich relativ locker um Herwarth Waldens Galerie formierte, nicht das Kriterium einer festen Formation. Auch Zusammenschlüsse zu reinen „Ausstellungsplattformen“ nahm Wilhelmi nicht auf, bis auf Ausnahmen wie „ASSO“, die sich in eine solche verwandelten. Lediglich Gruppen schloß Wilhelmi aus, die per se auf kollektives Zusammenwirken angewiesen sind. Wiederum anderen wird der Status einer Gruppe von außen oder nachträglich zugeschrieben oder Wilhelmi stößt in Sekundärliteratur auf von seinen Kriterien abweichende. Alles in allem handhabt Wilhelmi Abgrenzungen pragmatisch.
Eine Unterscheidung ist für Wilhelmi jedoch fundamental. Künstlergruppen sieht Wilhelmi als städtisches Phänomen. Er grenzt es damit ab von Künstlerkolonien wie Worpswede, die sich im ländlichen Raum situierten und zu denen inzwischen eine umfangreiche Publikation vor-liegt. [3] Häufig siedelten sich Künstlergruppen in den Städten an, in denen sich noch andere kulturelle Institutionen befanden, einige Haupt-städte sind auch darunter. Paris führt die Rangliste an, gefolgt von Hauptstädten wie Berlin oder Moskau, Zentren in Deutschland waren aber auch München und Stuttgart. Vieles aber ist noch unerforscht. So sieht Wilhelmi die Darstellung von Exilgruppen als Desiderat an. An die Kulturpolitiker wiederum wendet sich Wilhelmi mit seinen Ausführungen zum schleppenden grenzüberschreitenden bibliothekarischen Ausleihverkehr und zur Erwerbungspolitik von Bibliotheken zu Werken in slawischen Sprachen und kyrillischer Schrift. Diese sei enorm zurückgefahren worden und stünde daher einer zügigen, auch nachholenden, Erforschung osteuropäischer Gruppen im Wege.
Jeder Band ist einheitlich aufgebaut. Nach den Einführungen, die auch Anmerkungen zur kunstgeschichtlichen Lage der behandelten Ländern enthalten, werden die Gruppen in alphabetischer Reihenfolge mit Gruppennamen präsentiert, der in der ersten Zeile fettgedruckt steht. Alle nicht lateinischen Schriftzeichen werden umgeschrieben und in der darunterliegenden Zeile auch mit deutschem Titel versehen, alle Gruppen werden durchgezählt. Danach gibt Wilhelmi Hinweise zur Existenzdauer und der örtlichen Situierung der Gruppe und nennt deren alternative Bezeichnungen. Im anschließenden Kurztext werden Genese, Gründungsdokumente, Stärke der Formation, Ziele, Aktivitäten und schriftliche Aussagen der Gruppen erfasst, nicht wenige Gruppen gründeten eigene Periodika. Knapp verweist Wilhelmi auf formale und inhaltliche Aspekte der Kunst der Gruppe und stellt Zusammenhänge zu anderen künstlerischen Kollektiven her. Sofern die Gruppen nicht mehr existieren, benennt Wil-helmi die Gründe für deren Ende oder Neufor-mation. Im Anschluß daran listet er die Grup-penmitglieder alphabetisch mit Lebensdaten auf, und er nennt die Profession der Gruppenmitglieder, die nicht Malerei und Graphik nachgingen. Beschlossen wird dieser Teil mit Literaturhinweisen. In einigen Fällen werden Signets der Gruppen abgebildet und deren Designer genannt. Im nun folgenden dritten Teil sortiert Wilhelmi die Gruppen nach Ländern, gefolgt von einem Register der Übersetzungs- und Transkriptionsvarianten von Gruppennamen und einem Namensregister der Künstler. Schon das Register läßt erste Rück-schlüsse auf die vereinigte Macht der Künstlergruppen zu, da viele Künstler durch Mehrfachgruppenmitgliedschaften die Kunst in mehrere Länder trugen.
Mit welchen Problemen der Autor konfrontiert war, wird etwa bei der Darstellung der Gruppe „Mediala“, die von 1957 bis 1981 in Belgrad existierte, deutlich. So gibt Wilhelmi als deren Ausstellungsaktivitäten die Jahre 1961 in Novi Sad, 1969 in Belgrad, 1970 in Wien, 1974 in Düsseldorf und nochmals in Novi Sad 1981 an. (Bd. 2, 279) Eines der Mitglieder war Leonid ¦ejka (1932-1970). Dass ¦ejka 1957 zu den Gründungsmitgliedern Gruppe „Baltazar“ angehörte, die dann in „Mediala“ übergeht, ist nur ausgewiesenen Kennern Osteuropas, wie Peter Urban bekannt, der einen Band zu ¦ejka herausgab und dort auch zu deren Ausstel-lungsaktivitäten weitere Fakten liefert. [4]
Künstlergruppen wird in Ausstellungen und in den letzten Jahren verstärkte Aufmerksamkeit gewidmet, und auch die Kunstgeschichte steht nicht abseits. Wilhelmi nennt „Rekonstrukti-onsausstellungen“ der Gruppen „B 1“ (Ober-hausen 1969), „Quadriga“ (Frankfurt/Main 1972), „Das Junge Rheinland“ (Düsseldorf 1985), „K.I.“ (Düsseldorf/Halle 1992). (Bd.1, VII) Die Liste ließe sich fortsetzen, dazu zählt auch die Kasseler Ausstellung. Bis auf wenige Überschneidungen mit Wilhelmi, werden dort Künstlergruppen vorgestellt, die auch einen dezidiert politischen Anspruch verfolgen. Mit einigen von ihnen führten die Herausgeber auch Interviews. Sichtbar wird mit diesem gelunge-nen Überblick, gleichwohl sich die Szene „kol-lektiver Kreativität“, so auch der Ausstellungs-titel, ständig verändert, ein konstantes Motiv der kollektiven Organisation. Prägnant wird es von der Gruppe „3NÓS3“ ausgedrückt: „In a group you belong to something bigger than you alone.“ [5]
Auch wenn mittlerweile neue kunsthistorische Arbeiten, so etwa von Petra Jacoby zu ostdeut-schen [6]oder weitere Hinweise, so von Wolf-gang Schlott zu osteuropäischen Künstlergrup-pen, vorliegen [7], neue Arbeiten zu den klein-sten Formen künstlerischer Kooperationen, Künstlerpaaren, erscheinen [8], so ragt doch die Arbeit von Wilhelmi heraus. Sie bietet einen einmaligen Überblick, versammelt schwer zugängliches Material und bildet die Basis für eine noch zu schreibende Sozialgeschichte eu-ropäischer Kunst. So konnte Klaus von Beyme, der zur Sozialgeschichte der Avantgarden von 1905-1955 arbeitete, auf Wilhelmis Veröffentlichungen zurückgreifen. [9] Auch wenn Leistungen der ‚Stars‘, heißen sie nun Henri Matisse, Paul Cézanne, Kasimir Malewitsch oder Pablo Picasso, bei Wilhelmi nicht kleingeredet werden, so stellt er sie erstmals in einen gesamteuropäischen Kontext. Dafür hat Wilhelmi einen europäischen Kunstgeschichtspreis verdient.
[1] Angelika Nollert, Kunst ist Leben und Leben ist Kunst, in: René Block / Angelika Nollert (Hrsg.): Kollektive Kreativität - Collective Creativity. Deutsch-Englisch. Frankfurt am Main 2005, S. 19.
[2] Angelika Nollert, Kunst ist Leben und Le-ben ist Kunst, in: René Block / Angelika Nollert (Hrsg.): Kollektive Kreativität - Collective Creativity. Deutsch-Englisch. Frankfurt am Main 2005, S. 20.
[3] Claus Pese: Künstlerkolonien in Europa - „Im Zeichen der Ebene und des Himmels“. Nürnberg 2001.
[4] Peter Urban (Hrsg.): Leonid ¦ejka - Alche-mie. Hamburg 1997, S. 129-158.
[5] René Block / Angelika Nollert (Hrsg.): Kol-lektive Kreativität - Collective Creativity. Deutsch-Englisch. Frankfurt am Main 2005, S. 191.
[6] Petra Jacoby: Kollektivierung der Phanta-sie? Künstlergruppen in der DDR zwischen Vereinnahmung und Erfindungsgabe. Bielefeld 2007.
[7] Wolfgang Schlott: Historischer Überblick, in: Heidrun Hamersky (Hrsg.): Gegenansich-ten. Fotografien zur politischen und kulturellen Opposition in Osteuropa 1956-1989. Berlin 2005, S. 22 und S. 23.
[8] Mark Gisborne: Künstlerpaare. München 2007.
[9] Klaus von Beyme: Das Zeitalter der Avant-garden. Kunst und Gesellschaft 1905-1955. München 2005.
Wilhelmi, Christoph: Künstlergruppen in Deutschland, Österreich und der Schweiz seit 1900. Ein Handbuch, Stuttgart: Dr. Ernst Hauswedell & Co. 1996
ISBN-10: 3-7762-0400-1, X, 431 S.
Wilhelmi, Christoph: Künstlergruppen im östlichen und südlichen Europa seit 1900. Ein Handbuch, Stuttgart: Dr. Ernst Hauswedell & Co. 2001
ISBN-10: 3-7762-1101-6, XII, 616 S.
Wilhelmi, Christoph: Künstlergruppen in West- und Nordeuropa einschließlich Spanien und Portugal seit 1900. Ein Handbuch, Stuttgart: Dr. Ernst Hauswedell & Co. 2006
ISBN-13: 978-3-7762-1006-4, LXI, 727 S.
Empfohlene Zitation:
Sigrid Gaisreiter: [Rezension zu:] Wilhelmi, Christoph: Künstlergruppen in Deutschland, Österreich und der Schweiz seit 1900. Ein Handbuch, Stuttgart 1996; Wilhelmi, Christoph: Künstlergruppen im östlichen und südlichen Europa seit 1900. Ein Handbuch, Stuttgart 2001; Wilhelmi, Christoph: Künstlergruppen in West- und Nordeuropa einschließlich Spanien und Portugal seit 1900. Ein Handbuch, Stuttgart 2006. In: ArtHist.net, 07.06.2007. Letzter Zugriff 26.12.2024. <https://arthist.net/reviews/234>.
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