REV 04.05.2020

Buss, Franca; Müller, Philipp (Hrsg.): Hin- und Wegsehen

Rezensiert von Julia Modes, Humboldt-Universität zu Berlin
Redaktion: Philipp Zitzlsperger

Bereits in der griechischen Antike findet sich ein Beispiel für die Spannung zwischen dem Hin- und Wegsehen bezüglich der Betrachtung von Zeugnissen der Gewalt: „Ich habe einmal etwas gehört und glaube dem, wie nämlich Leontios [...] merkte, dass beim Schafrichter Leichname lägen, er zugleich Lust bekam, sie zu sehen, zugleich aber auch Abscheu fühlte und sich wegwendete und so eine Zeitlang kämpfte und sich verhüllte, dann aber, von der Begierde überwunden, mit weitgeöffneten Augen zu den Leichnamen hinlief und sagte: Da habt ihr es nun, ihr Unseligen, sättigt euch an dem schönen Anblick!“[1] Susan Sontag zitierte diesen Ausschnitt aus Platons „Politeia“ in ihrem 2003 erschienen Essay „Das Leiden anderer betrachten“, um darauf hinzuweisen, dass wir nicht nur ein visuelles Verlangen nach Toten haben, sondern nach Bildern der Gewalt im Allgemeinen. [2]

Dieser von Platon beschriebene und von Sontag aufgegriffene Dualismus der Anziehungs- und Abstoßungskräfte von Gewaltbildern ist Ausgangspunkt des Sammelbandes „Hin- und Wegsehen. Formen und Kräfte von Gewaltbildern“, welcher Anfang dieses Jahres von Franca Buss und Philipp Müller herausgegeben wurde. Er geht zurück auf eine Tagung im Hamburger Warburg-Haus im Juni 2018 mit dem abweichenden Untertitel „Hin- und Wegsehen! Erscheinungsformen der Gewalt im Wechselverhältnis zwischen Bild und Betrachter“. Die Thematik wurde zuvor mit unterschiedlichen Schwerpunkten beleuchtet von Scott Nethersole und Charlotte Klonk in ihren Monographien „Art and Violence in Early Renaissance Florence“ (2018) und „Terror. Wenn Bilder zu Waffen werden“ (2017) sowie in den Sammelbänden und Ausstellungskatalogen, „Images in Conflict – Bilder im Konflikt“ (2018), „Image Operation. Visual Media and Political Conflict“ (2017) und „M_ARS – Kunst und Krieg“ (2003).

Der aktuelle Band rückt verschiedene, historische und mediale Erscheinungsformen von Gewalt in den Blick. Insofern befassen sich die AutorInnen ebenso mit fotografischen Zeugnissen des ersten Weltkriegs und des Terroranschlags auf das World Trade Center, wie mit der christlichen Ikonografie in Gemälden des 15. Jahrhunderts. Das Themenspektrum zeigt die lange Tradition öffentlich sichtbarer Bilder mit gewaltvollem Inhalt auf. Doch werden nicht allein visuelle Zeugnisse von Gewalthandlungen und deren Folgen thematisiert, sondern ebenso Bilder, die Teil solcher Handlungen sind oder auf sie verweisen. Der Fokus liegt daher auf der Zusammenführung einer Geschichte bildlicher Zeugnisse von Gewaltereignissen, ihrer Rezeption und der künstlerischen Positionen, die sich auf Gewalttaten beziehen.

Der Sammelband ist nicht in Kapitel untergliedert, doch weist er drei strukturell verschiedene Formate auf: eine Rahmung der HerausgeberInnen durch einen einleitenden Aufsatz sowie einem abschließenden Gespräch mit Bastian Berbner, zwei künstlerische Beiträge von Simon Menner und Jean-Luc Godard gemeinsam mit Anne-Marie Miéville, sowie zwölf Aufsätze. Letztere lassen sich angesichts ihrer thematischen Ausrichtungen oder methodischen Herangehensweisen zudem in vier Gruppen einteilen. Die erste führt mit drei klassisch kunst- bzw. filmhistorischen Beiträgen in das Thema ein. So analysiert Matthias Schulz die Raumkonzepte von Gemälden des 15. Jahrhunderts mit dem ikonographischen Motiv der Geißelung Christi, während Andreas Plackinger das visuelle Echo, das die Pariser Bartholomäusnacht von 1572 auf zahlreichen Bildwerken hinterließ, untersucht. Volker Hille bespricht zwei Filmszenen, bei denen er die dargestellte Gewalt im Bild dem Bild als eigenmächtig agierende gewaltvolle Kraft gegenüberstellt.

In der zweiten Gruppe wird das Thema der Gewaltbilder ausgeweitet, sodass Julian Blunk zunächst über Spukhäusern und Ruin Porn schreibt. Es folgt ein bilderloser Beitrag von Barbara Oettl über drei künstlerische Arbeiten von Orlan, Hannah Wilke und Gregor Schneider, bei denen der (meist eigene) Körper und dessen Versehrtheit (durch schönheitschirurgische Eingriffe oder Krankheit) wie auch Vergänglichkeit im Fokus stehen. Ines Kleesattel widmet sich in ihrem Aufsatz der Debatte um Balthus Gemälde „Thérese rêvante“ und rückt dabei den Begriff der Gewalt in Hinblick auf strukturelle und sprachliche Erscheinungsformen ins Bild.

Die dritte Gruppe setzt den Fokus auf eine Bildgeschichte gewaltvoller historischer Ereignisse der letzten 100 Jahre. Anke Napp bespricht auf Film belichtete und für Ausbildungszwecke verwendete Bildbände des ersten Weltkriegs, die durch gezielten Einsatz und in Kombination mit Text, vor allem bei Jugendlichen in Deutschland, den Nationalismus und die Gewaltbereitschaft für den 2. Weltkrieg förderten. Ann Katrin Düben und Sebastian Schönemann schließen mit einer historisch soziologischen Betrachtung der Bildikone des Torhauses von Auschwitz-Birkenau als Symbolbild an. Die Fotografien des Terroranschlags am 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York betrachtet Anna Stemmler in ihrem Beitrag, um der Frage nachzugehen, ob das Zeigen der drastischen Bilder eine Verarbeitung des Ereignisses ermöglichen könnte.

Verschiedene Formen künstlerischer Auseinandersetzung mit historischen Momenten der Gewalt werden im vierten Block in den Blick gerückt. Im Hinblick auf Trauma-Politiken betrachtet Sylvia Kafehsy jeweils eine Werkgruppe von Kader Attia und Rajkamal Kahlon. Svea Bräunert hingegen bespricht Arwed Messmers Ausstellung „RAF – No Evidernce” welche 2017 im Museum Folkwang in Essen zu sehen war und in der Zeugnisse expliziter Gewalt bewusst nicht gezeigt wurden. Einen kunst- und bildgeschichtlichen Bogen der Ver- und Enthüllung im Zusammenhang mit Gewaltbildern vom 17. Jahrhundert bis in die Gegenwart schlägt Thomas Helbig.

Die zwei künstlerischen Beiträge sind zwischen die Aufsätze gesetzt und im Inhaltsverzeichnis nicht als solche gekennzeichnet, sodass ihr abweichendes Format zunächst irritieren kann. Simon Menner stellt sein fotografisches Projekt „Camouflage“ vor, bei dem er Landschaften fotografiert in denen bei genauem Hinsehen getarnte Scharfschützen erkennbar sind. Die von Thomas Helbig eingeführte und transkribierte Episode „Photo et Cie“ der von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville gestalteten zwölfteiligen Fernsehserie „Six fois deux“ (1976) wird von dem Erfahrungsbericht des Kriegsfotografen Christian Simonpiétri dominiert, der von einer Hinrichtung in Dhaka im Dezember 1971 erzählt, dessen Dokumentarist und Zeuge er war.

Die enorme Heterogenität der Themen fällt zunächst ins Auge. Die HerausgeberInnen führen diese in ihrem einleitenden Aufsatz nicht, wie man erwarten könnte, zusammen. Stattdessen versuchen sie „eine vielseitige Reflexionsmatrix für die weitergehende Beschäftigung mit medialisierter Gewalt an[zu]bieten“.(10) Die deutlich gesetzte Rahmung des Bandes durch einleitendem Text und abschließendem Interview, spiegelt daher nur in Teilen dessen Inhalt wider: Beide Beiträge fokussieren die Brisanz des Themas der Gewaltbilder aktueller Terrorattentate und ihrer visuellen Repräsentation, sowie die damit einhergehende Verantwortung der sie verbreitenden Medien und BetrachterInnen.

Dennoch ergeben sich immer wieder sinnvolle Bezüge zwischen den einzelnen Beiträgen und übergeordnete Themen kristallisieren sich heraus, was im Folgenden anhand von zwei Beispielen zu erläutern ist. Mit seiner Untersuchung des visuellen Echos der Bartholomäusnacht von 1572 legt Andreas Plackinger die künstlerische Rezeption eines gewaltvollen historischen Ereignisses dar. Dabei zeigt er, wie ein und dasselbe Geschehen von verschiedenen Künstlern in ihren jeweiligen Kontexten gegensätzlich ausgelegt und dargestellt wurde. Dieser Gefahr unterliegen zeitgenössische Terrorbilder in erhöhtem Maße, da ein und dasselbe Bild von divergenten Parteien für ihre eigenen Zwecke genutzt werden kann. Im Hinblick auf Medienbilder entstand daher beispielsweise eine Debatte, ob Täterfotografien gezeigt oder nicht gezeigt werden sollen, da sie sich zu Märtyrerbildern wandeln können. [4] An die brisante Frage des Zeigens oder Nichtzeigens von Bildern gewaltsamer Taten, sowie die Rolle der sie verbreitenden Medien, knüpfen Svea Bräunert, Thomas Helbig und Anna Stemmler ebenso an, wie das Gespräch von Bastian Berbner, Franca Buss und Philipp Müller oder der künstlerische Beitrag von Jean-Luc Godard und Anne-Marie Miéville.

Auch der rasante Aufsatz von Anke Napp beschäftigt sich mit gegensätzlichen Bilddeutungen und ihren Propagandastrategien. So beleuchtet Napp die Praxis der Bildbandvorträge in der Weimarer Republik, bei denen auf 35 mm Film belichtete Bildbände, meist auf Fotobüchern basierend und von Texten begleitet, in Form von Vorträgen präsentiert wurden. Als propagandistisches Mittel dienten sie der Anfachung des Nationalsozialismus in der deutschen Jugend. Napp zeigt nicht nur auf, wie Bilder als politische Instrumente fungierten, indem sie eine Erinnerungskultur durch visuelle Geschichtsschreibung aktiv formten, sondern betont gleichzeitig die „durch die Vorführung von Zerstörung und Tod [...] eigenartige Attraktionskraft“ und „apokalyptische Faszination“ (167). In diesen Aspekten schlägt ihr Text Brücken zum einleitenden Aufsatz, sowie zu den Beiträgen von Volker Hille, Andreas Plackinger und Anna Stemmler.

Der Band „Hin- und Wegsehen“ verankert die Debatte über „Formen und Kräfte von Gewaltbildern“ innerhalb eines weiter gefassten Verständnisses, in dem sich heterogene Ansätze teilweise fruchtbar miteinander verbinden. Der Titel „Hin- und Wegsehen“ wurde in den meisten Beiträgen fast mantraartig aufgegriffen, während die Betrachtung von Gewaltbildern stellenweise ausgeblendet blieb. Gerade in den Aufsätzen, welche sich nur peripher, wenn überhaupt, mit dem Phänomen der Gewaltbilder beschäftigen, werden Begriffe wie „Terror“ (119, 120, 127) oder „Gewalt“ (118, 136) unreflektiert eingestreut oder beiläufig erwähnt. Zudem ist das „Hin- und Wegsehen“ teilweise mit dem „Zeigen oder Nichtzeigen“ gleichgesetzt, (235f, 255f) was nicht zuletzt die Rolle der BetrachterInnen von einer aktiven in eine passive verschiebt. Doch macht der Band immer wieder deutlich, wie wichtig es ist, sich wissenschaftlich dem Phänomen der Gewaltbilder zu widmen, auch wenn bei aktuellen Themen eine historische Distanz noch nicht gewonnen werden konnte. Die diachrone Herangehensweise, durch die sich immer wieder unerwartete Bezüge zwischen den Beispielen aufzeigen lassen, ist bereichernd, weil sie den LeserInnen die lange und bis heute anhaltende Geschichte der Verschränkung von Bild und Gewalt vor Augen führt und somit über den Tagungsband hinaus zum genaueren Hinsehen einlädt.

Anmerkungen:

[1] Planton: „Politeia“, IV 439e6–440a3.
[2] Susan Sontag: „Regarding the Pain of Others“ New York: Picador 2003, S. 96
[3] Charlotte Klonk: ‚Terror. Wenn Bilder zu Waffen werden’, Frankfurt/Main: Fischer 2017, S. 205–212, Sontag 2003, S. 39.

Buss, Franca; Müller, Philipp (Hrsg.): Hin- und Wegsehen. Formen und Kräfte von Gewaltbildern (= Imaginarien der Kraft, Bd. 1), Berlin/ Boston: De Gruyter 2020
ISBN-13: 978-3-11-064083-0, Inhaltsverzeichnis

Empfohlene Zitation:
Julia Modes: [Rezension zu:] Buss, Franca; Müller, Philipp (Hrsg.): Hin- und Wegsehen. Formen und Kräfte von Gewaltbildern (= Imaginarien der Kraft, Bd. 1), Berlin/ Boston 2020. In: ArtHist.net, 04.05.2020. Letzter Zugriff 24.11.2024. <https://arthist.net/reviews/23043>.

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