REV-CONF 23.02.2020

Nachlass zu Lebzeiten

Universität der Künste, Berlin, 24.–25.01.2020

Bericht von Antoinette Friedenthal, Potsdam
Redaktion: Steffen Haug

Nachlass zu Lebzeiten. Das Gesamtwerk als Horizont künstlerischer Produktion in Moderne und Gegenwart

Unter dem Robert Musil entlehnten Paradoxon „Nachlass zu Lebzeiten“ fand an der Universität der Künste in Berlin am Institut für Kunstwissenschaft und Ästhetik vom 24.-25. Januar 2020 eine von Barbara Wittmann (Berlin) konzipierte Tagung statt. Dabei galt das Interesse dem 19. bis 21. Jahrhundert, oder, wie es im Programm hieß, „Moderne und Gegenwart“. Die These, in dieser Zeit habe „das Gesamtwerk als imaginärer Horizont neuer Arbeiten einen bis dahin ungekannten Stellenwert“ für die bildenden Künstler erlangt, barg allerdings gewisse methodische Schwierigkeiten, und dies umso mehr, als es keine Gelegenheit gab, diese Annahme auf den Prüfstand zu stellen und die (vermeintliche) Epochengrenze um 1800 in die Vergangenheit hinein zu überschreiten: denn die Kunst früherer Zeiten, einschließlich der für sie relevanten Usancen der Werkdokumentation, war als Gegenstand ausgeschlossen worden, allein Claude Lorrains „Liber veritatis“ fand einleitend kurze Erwähnung.

Die geladenen WissenschaftlerInnen (zehn Vortragende, dazu als Diskutanten Aurea Klarskov, Basel, und Wolfram Pichler, Wien) untersuchten monographisch Fallbeispiele einzelner Künstler oder Künstlergruppen. In einigen Vorträgen stand die Bezugnahme auf das eigene Œuvre im Werk selbst im Zentrum: Ralph Ubl (Basel) analysierte die Praxis des Formatwechsels im Schaffen von Eugène Delacroix, die er in den Zusammenhang der Selbsthistorisierung wie der Erinnerungsprozesse des Künstlers stellte. Das kleine Format erschien hier als Indikator für die Distanz zur physischen Welt, als Datenträger für das „Archiv“ oder „Mausoleum“ von Delacroix, der „begraben in den Papieren, die sprechen“ sich selbst genießt.[1] Stefan Neuner (Berlin) widmete sich der US-amerikanischen Kunst nach 1945, was anschließend Anlass gab, die Frage nach der Genese des in der Kunstkritik etablierten Begriffs der „Position“ aufzuwerfen. Akiko Bernhöft (Berlin) referierte zu On Kawara: ein sprechender Sonderfall, bei dem in gewisser Weise Leben, serielles Werk und Verzeichnis zur Deckung kommen.

Immer wieder ging es um Aspekte der Definitionshoheit und Kontrolle: Anhand von Kasimir Malewitsch und Gustave Courbet erkundete Oliver Krätschmer (Karlsruhe) das Thema der nachträglichen (Vor-)Datierung durch den Künstler selbst. Hier stand die Frage im Raum, ob die Datierung – ähnlich wie die Titelvergabe – ein gewissermaßen zum Kunstwerk gehörender Akt sei oder sein könne; der Referent zumindest war geneigt, die Idee einer „korrekten“ Chronologie überhaupt für obsolet zu erklären. Mit Arnold Schönberg, John Cage, Bernd Alois Zimmermann und Wolfgang Rihm untersuchte Dörte Schmidt (Berlin) komparativ vier Komponisten des 20. Jahrhunderts hinsichtlich ihrer Autorisierungsstrategien, schlug allerdings auch mehrfach den Bogen zurück, unter anderem indem sie den Status der Denkmälerausgaben im kulturellen Bewusstsein der europäischen Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts hervorhob oder darlegte, dass die durch Schönberg vergebenen Opuszahlen Ausdruck von Selbsthistorisierung unter Bezug auf frühere Komponisten, vor allem auf Mozart, seien.

Dass Aufspaltung und Zerstreuung des Œuvre als schmerzlich, ja einer Amputation des Künstler-Körpers vergleichbar, die Zusammenführung der Einzelteile hingegen als befriedigend weil sozusagen naturgemäß empfunden werden kann, erläuterte Gregor Wedekind (Mainz) am Beispiel Marcel Duchamps. Die „Boîte en valise“ enthält – gewissermaßen als Antidot für den geschundenen Körper des Künstlers – sein transportables Werk en miniature, wobei es sich um eine Auswahl und keineswegs um das Gesamtwerk handelt. Das Recht der Auswahl behält sich auch Gerhard Richter vor. Julia Gelshorn (Fribourg) interpretierte ihn als Strategen, dessen Selbsthistorisierung derart formgebend ist, dass Einzel- und Gesamtwerk davon nicht weniger Zeugnis ablegen als das aktuell in Kooperation mit den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden entstehende Werkverzeichnis. Für Daniel Buren schließlich ist, wie Annette Tietenberg (Braunschweig) demonstrierte, die (angebliche) Marktferne des eigenen Œuvre Motivation, sein Werkverzeichnis selbst online zu publizieren.

Inwieweit gar ein noch nicht geschaffenes Werk Gegenstand auktorialer Fürsorge sein kann, erörterte Cornelia Ortlieb (Berlin) am Beispiel des jungen Stefan George, dessen gezeichnete Vorwegnahmen künftiger Bucheinbände erst durch die zunehmende Digitalisierung des dem Schriftsteller gewidmeten Archivs beziehungsweise von andernorts aufbewahrten Archivalien der Forschung zur Kenntnis gelangen. Mit der medialen Erweiterung stellt sich nach und mit dem „Tod des Autors“ einmal mehr die Frage nach dem Begriff von Autorschaft; Ortlieb plädierte für eine Einbeziehung heutiger Rezipienten, wobei sie darauf aufmerksam machte, dass die vielen helfenden Hände, die das Material digital bereitstellen, im Anonymen verbleiben. Um das Thema der posthumen Veränderbarkeit des Œuvre und die Bedeutung des Archivs ging es auch im Vortrag von Robert Kehl (Berlin), der einem in den 1960er Jahren „entdeckten“ umfangreichen Konvolut von Glasnegativen aus dem Nachlass von Heinrich Zille galt. Erst diese Negative boten die materielle Voraussetzung für die Entwicklung von Photographien, die dann ihrerseits, wenngleich nur sukzessiv, in Zilles Œuvre integriert wurden – ein Paradebeispiel dafür, dass für die Formung eines Œuvre die ästhetischen Setzungen späterer Rezipienten entscheidend sein können.

Als fruchtbar erwies sich die Einbeziehung der Musik- und der Literaturwissenschaft, die mit je einem Beitrag vertreten waren (Schmidt, Ortlieb); es wurde allerdings deutlich, dass die bestehenden, mehrfach zitierten und in den Schlagworten „Autorschaft ist Werkherrschaft“[2] und „Werkpolitik“[3] kondensierten Konzepte aus der Germanistik für den Gegenstandsbereich der bildenden Künste nicht hinreichen. Auch war die Terminologie mitunter unscharf und wurde nicht historisch differenziert: Œuvre, Gesamtwerk, Lebenswerk – benutzten die Teilnehmer der Tagung diese Begriffe synonym oder waren sie mit jeweils spezifischen Konnotationen verbunden? Diskussionsbedarf zeigte sich ferner in Bezug darauf, inwieweit eine Vereinheitlichung der kunsthistorischen Praxis sinnvoll ist und wie ergiebig eine Theoriebildung sein kann. Tietenberg wies in ihrem Vortrag auf Probleme der Standardisierung bei der digitalen Erfassung künstlerischer Vor- und Nachlässe hin, Wedekind stellte das von dem Anthropologen Alfred Gell entwickelte und anhand von Duchamp exemplifizierte Œuvre-Modell vor,[4] das – wenn vielleicht auch nicht allgemein übertragbar – zumindest hohes Anregungspotential besitzt.

Fokussiert wurden somit in erster Linie Künstler, die – in welcher Form auch immer – ihr eigenes Werkverzeichnis erstellten beziehungsweise heute erstellen, wobei nach dem Willen der Veranstalterin Einzelausstellung, Künstlerbiographie und Internetauftritt ebenfalls zu ihrem Recht kommen sollten. Wenn darüber hinaus die Absicht bestand, „alle jene Kunstgriffe und Phänomene“, „die der Inszenierung und Stärkung interpikturaler Bezüge innerhalb eines Œuvres dienen“, in den Blick zu nehmen, waren die, tatsächlich vielfältigen, Formen des Selbstbezuges frühneuzeitlicher Künstler wieder nicht (mit-)gemeint. Vermissen ließen sich folglich historische Dimensionen der Selbstreferentialität – wie sie etwa Martin Warnke im Hinblick auf den späten Rubens als „Dialog mit der Vergangenheit der eigenen Formengeschichte“[5] beobachtet hatte –, der Autoredaktion einschließlich der Zerstörung von Werkgruppen – wie sie zum Beispiel Michelangelo im hohen Alter praktizierte[6] – oder der Bewahrung und Archivierung des eigenen Werkes – zahlreiche Künstler der Epochen vor 1800 trennten sich zeitlebens kaum von ihren Zeichnungen. Aber müssen wir – um den französischen Historiker Jacques Le Goff zu zitieren – die Geschichte wirklich in Stücke zerschneiden?[7]

Dass die Tagung zu solch grundsätzlichen Fragen anregte, unterstreicht ihre Relevanz: Nicht nur waren die einzelnen Beiträge geeignet, Perspektiven auf noch weitgehend ungehobene Schätze zu eröffnen; auch konnte die Veranstaltung in ihrer Summe als Appell an die Fachgemeinschaft verstanden werden, dieses faszinierende, von Wittmann hier auf die Agenda gesetzte Thema nicht länger zu vernachlässigen.

Anmerkungen

[1] Eugène Delacroix, Journal, hrsg. v. Michèle Hannoosh, Paris 2009, I, S. 849 („Se sentir enseveli dans les papiers qui parlent [...]. On jouit alors complètement de soi“).

[2] Heinrich Bosse, Autorschaft ist Werkherrschaft. Über die Entstehung des Urheberrechts aus dem Geist der Goethezeit, Paderborn u.a. 1981.

[3] Steffen Martus, Werkpolitik. Zur Literaturgeschichte kritischer Kommunikation vom 17. bis ins 20. Jahrhundert mit Studien zu Klopstock, Tieck, Goethe und George, Berlin/New York 2007.

[4] Alfred Gell, Art and Agency. An Anthropological Theory, Oxford 1998, S. 232–251.

[5] Martin Warnke, Peter Paul Rubens: Leben und Werk, Köln 1977, S. 133.

[6] Siehe Giorgio Vasari, Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori ed architettori, hrsg. v. Gaetano Milanesi, Florenz 1906, VII, S. 270.

[7] Jacques Le Goff, Faut-il vraiment découper l’histoire en tranches?, o.O. [Éditions du Seuil] 2014.

Empfohlene Zitation:
Antoinette Friedenthal: [Tagungsbericht zu:] Nachlass zu Lebzeiten (Universität der Künste, Berlin, 24.–25.01.2020). In: ArtHist.net, 23.02.2020. Letzter Zugriff 16.04.2024. <https://arthist.net/reviews/22695>.

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