REV 29.01.2020

Cohen, Jean-Louis; Frank, Hartmut: Ein neues Mainz?

Rezensiert von Ralf Dorn, LfDH Wiesbaden
Redaktion: Philipp Zitzlsperger
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„Ein neues Mainz?“ Diesen Titel trägt die von Jean-Louis Cohen, Hartmut Frank und Volker Ziegler publizierte Arbeit über die Mainzer Aufbauplanungen. Das angehängte Fragezeichen liefert die Fragwürdigkeit dieser Aussage gleich mit, denn die Planungsgeschichte der rheinlandpfälzischen Metropole liest sich vielmehr wie eine Parabel über ihren verfehlten Wiederaufbau. Und so handelt die Arbeit vor allem über die „Kontroversen um die Gestalt der Stadt nach 1945“, wie der Untertitel ankündigt. Das Buch ist die späte Geburt eines lange zurück liegenden Forschungsprojekts aus den Jahren 1986–1989. Angestoßen wurde es unter dem Titel „Deutsch-französische Beziehungen 1940–1950 und ihre Auswirkungen auf Architektur und Stadtgestalt“ von Jean-Louis Cohen und Hartmut Frank. Dass es überhaupt erschien, ist der Wiederaufnahme der Forschungen ab 2006 sowie der opulent bestückten Ausstellung „Interferenzen“ im Deutschen Architekturmuseum von 2013 geschuldet, die im wahrsten Sinn des Wortes wegweisend war. Das Buch wurde von Gregor Wedekind in die Reihe „Phoenix. Mainzer kunstwissenschaftliche Bibliothek“ aufgenommen.

Die Autoren Christine Menges und Jean-Louis Cohen gehen in den ersten beiden Kapiteln weit zurück in die deutsch-französische Geschichte, die sich im frühen 19. Jahrhundert unter Kaiser Napoleon erstmals planerisch manifestiert. Sie nehmen die französische Baupolitik am Rhein sowie den Denkmalschutz und die Architektur in der französischen Besatzungszone ins Visier. Ihre kenntnisreiche und raumgreifende Darstellung verliert sich manchmal in ein detailreiches Ausholen, ohne später tatsächlich an die Mainzer Nachkriegsplanungen rückgekoppelt zu werden. Das ist kein Nachteil, verdeutlichen die Ausführungen doch die umfassenden planerischen Offensiven, die von französischer Seite aus geführt wurden, um die kulturelle Hoheit über die spätere Besatzungszone zu gewinnen.

Mit der deutschen Niederlage begannen die Franzosen, ähnlich wie die Engländer und Amerikaner in ihrer Besatzungszone, mit dem Aufbau paralleler Verwaltungsstrukturen. Sie machten im Chaos der frühen Nachkriegszeit durchaus Sinn. Diese wurden von deutscher Seite jedoch kritisch beäugt. So war es auch in Mainz. Hinzu kam, dass man sich in Mainz jenseits aller westdeutschen Aufbaudebatten nach dem Zweiten Weltkrieg „zu Anfang vor allem auch auf der Trennungslinie zwischen zwei pluralistischen Nationalkulturen“ bewegte, „die sich jeweils selbst im Umbruch befanden“ (XII). Wie in einem Brennglas bündelten sich in Mainz viele einander widersprechende Vorstellungen über den Wiederaufbau. Hier trafen modernistische und traditionalistische Planer vor den Augen einer vorsichtig, aber auch halbherzig agierenden französischen Besatzungsmacht und einer schwachen, wenn nicht gar unfähigen Stadtregierung direkt aufeinander. Traum der Besatzungsmacht war es, die Stadt „zur repräsentativen Hauptstadt eines mit Frankreich eng verbundenen, separaten deutschen Rheinstaats auszubauen“ (XVI).

Das von Hartmut Frank verfasste Kapitel zu Groß-Mainz setzt mit dem Wirken des Stadtbaumeisters Eduard Kreyßig ein, dessen Tätigkeit nach dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 an Dynamik gewann. Die auf ihn zurückgehende Konzeption der Neustadt und der Bau der Kaiserstraße samt Christuskirche bilden heute einen der Grundpfeiler der Mainzer Stadtbaugeschichte. Um sie drehen sich sämtliche Planungen nachfolgender Generationen, so auch diejenigen Adolf Bayers, mit einigen Unterbrechungen seit 1938 im Hochbauamt der Stadt Mainz tätig und ab 1946 einer der Protagonisten aus dem Kreis des französischen Architekten Marcel Lods. Wie dieser war auch Bayer Anhänger Corbusier’scher Stadtvorstellungen.

Einer ihrer Opponenten war Erich Petzold. Seit 1945 im Amt kämpfte der Schmitthenner-Schüler für die traditionalistischen Vorstellungen seines verehrten Lehrers. Franks Darstellung der Planungsgeschichte gleicht der Aufdeckung einer Vielzahl von Intrigen aller Protagonisten. Frank rekonstruiert diese nüchtern und konstatiert lakonisch: „Bayers und Petzolds Konzepte von Stadtplanung und Wiederaufbau waren unvereinbar.“ (76) Petzold suchte die Unterstützung des Mainzer Oberbürgermeisters Kreis, Bayer die der französischen Militärbehörden. Petzold musste gehen, Richard Jörg aus dem Kreis des Karlsruher Architekten Otto Ernst Schweizer rückte nach. Jörg musste sich fortan Schmitthenners Planungsdrang erwehren und brachte zu allem Unglück ein weiteres Stadtkonzept mit. So finden sich bis 1948 „so unterschiedliche Konzepte wie Lods’ ‚Ville verte verticale‘, Schmitthenners, ‚neuer alter Stadt‘ und Jörgs ‚Stadt des fließenden Raumes‘ (79).

Das Problem war: Jeder Planer kam mit seinen Vorstellungen und einem eigenen Konzept nach Mainz. Dieser individuelle Gestaltungsdrang verschloss sich dem gemeinschaftlichen Willen um den Wiederaufbau der nach dem Krieg zur Landeshauptstadt von Rheinland-Pfalz ausgerufenen Stadt. Für das am Boden liegende Mainz sollte sich dies zu einer fatalen Gemengelage auswachsen. Mit der Gründung der Bundesrepublik endete die Zeit paralleler Verwaltungsstrukturen und damit der Einfluss der französischen Planungsbehörden. Es schien wieder Ordnung in das Hochbauamt einzuziehen, das die Stadtplanung und den Wiederaufbau in der Person Richard Jörgs vereinte, der wiederum eng mit Bayer kooperierte.

Doch standen ihnen in der Mittleren und Oberen Baubehörde vehemente Gegner entgegen. „Durch ihre ablehnende Haltung gegenüber Jörg und Bayer verzögerten Delp und Offenberg den Mainzer Wiederaufbau und wandten sich stattdessen mit eigenen Denkschriften an die Öffentlichkeit.“ (182) Bayer warf 1950 das Handtuch und arbeitete fortan für das Stadtplanungsamt in Offenbach, Jörg wanderte 1952 in Richtung Mannheim ab. Neue Protagonisten traten auf, wie der begabte Architekt und begnadete Zeichner Egon Hartmann, der 1955 „ohne Auftrag und außerdienstlich“ (191) einen Wiederaufbauplan für die Mainzer Altstadt aufstellte. Dieser brachte ihm einen offiziellen Folgeauftrag zur Erstellung einer Gesamtplanung für die Mainzer Alt- und Neustadt ein. Doch auch diesem erwuchs in der Person Werner Streifs aus Karlsruhe eine Konkurrenz. 1958 wurde es dem Mainzer Stadtrat tatsächlich zu bunt. Er beauftragte den international renommierten Stadtplaner Ernst May, dem der „Übergang vom ideologisch aufgeheizten, aber oft mittellosen Wiederaufbau der Nachkriegszeit zur boomenden, marktwirtschaftlich orientierten Stadtentwicklung der 1960er Jahre“ (201) gelang.

Traditionalisten und Modernisten hatten sich in Mainz gleichermaßen diskreditiert. In diesem Fegefeuer der Eitelkeiten ging der Kampf um einen planmäßigen Wiederaufbau von Mainz verloren. Bedauerlicherweise liest man nichts über die Reaktion der Mainzer Bevölkerung. Auch über das Feuilleton dieser Jahre schweigen sich die Autoren aus. Was dachte das Heer der Ausgebombten und Wohnungssuchenden über die Konflikte der Planungsexperten und die Folgen für ihre zertrümmerte Stadt? Noch 1958 hatte man in Mainz „weder einen verbindlichen Aufbauplan noch einen neuen Wirtschafts- und Flächennutzungsplan“ (196) zur Verfügung. Da waren andere Städte mit ihrem Wiederaufbau fast durch und beschäftigten sich bereits mit ihrem wirtschaftlichen Strukturwandel. Die negativen Folgen mangelnder Kooperation zeigen sich noch heute im Stadtbild der rheinland-pfälzischen Landeshauptstadt. Umso strahlender steht dagegen die deutsch-französische Zusammenarbeit, die in dieser informationsgesättigten und bildreichen Publikation nach über vierzig Jahren ihr lesenswertes Ziel erreicht hat.

Cohen, Jean-Louis; Frank, Hartmut: Ein neues Mainz? Kontroversen um die Gestalt der Stadt nach 1945 (Phoenix 4), De Gruyter 2019
ISBN-13: 978-3-11-041470-7, 299 p., EUR 49,95

Empfohlene Zitation:
Ralf Dorn: [Rezension zu:] Cohen, Jean-Louis; Frank, Hartmut: Ein neues Mainz? Kontroversen um die Gestalt der Stadt nach 1945 (Phoenix 4), 2019. In: ArtHist.net, 29.01.2020. Letzter Zugriff 20.04.2024. <https://arthist.net/reviews/22509>.

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