REV 05.12.2019

Weltzien, Friedrich/ Ulrich, Antonia (Hrsg.): Design und Mimesis

Rezensiert von Carolin Scheler, Universität Hildesheim
Redaktion: Philipp Zitzlsperger
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Wie kann der Mensch besser im Einklang mit unserem Planeten leben, ohne eine Spur der Verwüstung oder Unterdrückung zu hinterlassen? Weshalb versteht er sich nicht als Teil des Geschehens, sondern außen vor als beobachtende Instanz? Paradigmatisch für posthumanistisch ausgerichtete Studien folgt auch der Tagungsband ‚Design und Mimesis. Nachahmung in Natur und Kultur‘, herausgegeben von Antonia Ulrich und Friedrich Weltzien, Fragen wie diesen. So verweisen die Herausgeber bereits in der Einleitung auf das von der Wissenschaftsphilosophin Donna Haraway geprägte Konzept der „naturecultures“ [1], womit eine Trennung von Natur und Kultur in Frage gestellt und aufgehoben werden soll. Für den Band ist damit eine klare Rahmung gesetzt, die auch für die vorangegangene Tagung ‚Design und Mimesis. Kreative Nachahmungsprozesse zwischen Natur und Kultur‘ im Oktober 2017 an der Hochschule Hannover themengebend war. Die Beiträge folgen insgesamt dem Ziel, „Konsequenzen dieser Neubewertung der Kategorien Kultur und Natur für gestalterische Praktiken nachzuspüren“, und sollen dabei als „Labor- und Hochschulberichte, Beschreibungen und Analysen, Theoriearbeit und Aufklärungswunsch“ (11) aufgefasst werden. Als engere Fokussierung und Ausgangspunkt dient der Mimesis-Begriff – verstanden werden soll er als Assoziationsraum und Technik, um im Sinne der ‚naturecultures‘ mithilfe von Nachahmungsprozessen menschengemachte Grenzen zu überwinden und Verbindungen herzustellen.

Die im Tagungsband versammelten Themen und Disziplinen weisen eine beachtliche Bandbreite auf und lassen sich dennoch in schlüssiger Weise aufeinander beziehen. Vereint werden die Bereiche der Kulturtheorie, Philosophie, Kunstgeschichte, Literatur- und Medienwissenschaft, Biologie, Forstwirtschaft, Landschafts- und Innenarchitektur, Mode- und Produktdesign sowie die Bildende Kunst. Die Zusammenstellung von Ulrich und Weltzien wirkt, als ob sie Haraways Vorstellung des tentakulären Vernetzens [2] zum Leben erwecken wollen. Viele verschiedene Akteurinnen und Akteure, die sich sonst womöglich selten begegnen, geraten in diesem Band in einen fruchtbaren, aber auch spannungsreichen Austausch, was allein schon die Beiträge lesenswert macht.

Mit seinen insgesamt 17 Beiträgen teilt sich der Band in vier Themenblöcke, von denen insbesondere der erste – ‚Alterität und Subjekt‘ – die posthumanistisch gesetzte Rahmung einlöst. Ergründet wird hier, inwiefern sich „kreative Leistung“ auch unabhängig vom „autonomen menschlichen Subjekt“ (12) ausfindig machen lässt bzw. ob dieses als solches überhaupt existiert. So untersucht Roland Borgards, ob Menschen und andere Tiere den Tod tatsächlich spielen können oder nicht, während Jessica Ullrich und Regine Rapp jeweils verschiedene künstlerische Projekte vorstellen: Ullrich geht es dabei um das menschliche Tierwerden, Rapp hingegen darum, inwiefern sich Mikrobiome oder Pilze für den künstlerischen Ausdruck eignen. Sabeth Buchmann befasst sich schließlich mit einem Video der Künstlerin Katarina Zdjelar, das einen Sprachlernprozess zwischen Coach und Coachee zeigt.

Der zweite Block ‚Flora und Fauna‘ beginnt mit einem historischen Überblick über die Stadtwaldplanung von Sonja Dümpelmann und liefert anschließend von Caroline Thiem, Kristin Gerber und Stefan Adler aktuelle sowie historische Erkenntnisse zum Thema Urwald in der Bundesrepublik Deutschland. Mit Bezug zur gestalterischen Lehre ergründet Alexandra Panzert den Stellenwert der Naturnachahmung in der künstlerischen Ausbildung der Weimarer Republik, während Suzanne Koechert und André Nakonz schildern, inwiefern sich Studierende der Innenarchitektur an der Hochschule Hannover von Vorgängen in der Natur inspirieren lassen. Klare Bezüge zu Haraways Vorstellung des friedlichen Zusammenlebens finden sich im Beitrag des Mitherausgebers Friedrich Weltzien, der mithilfe des Künstlers Oscar Leone Moyano einen Ausweg aus „eurozentrischen Kreativitätsparadigmen“ (158) sucht.

Der dritte Block ‚Künstlerische Mimesis‘ bietet Raum für Arbeiten von Anton Krüger, Anna Artaker, Meike Gleim, Volker Eichelmann und Hong Zeiss. Sie alle äußern sich nicht textlich, sondern gestalterisch zur Thematik des Tagungsbands, wobei sie einerseits künstlerische Praktiken vorangegangener Künstlerinnen und Künstler nachahmen und andererseits mimetische Verfahren in ihren Arbeiten thematisieren. Besonders hervorheben lassen sich Hong Zeiss, dessen Arbeit ‚Calacatta Gold‘ den Umschlag des Bands ziert, und Anton Krüger, der mit seinen Zeichnungen eine Dokumentation der Tagung angefertigt hat.

Der letzte Themenblock ‚Mode und Medien‘ befasst sich vorrangig mit Entwurfsprozessen in der Mode. F. Volker Feyerabend beschreibt hierbei Mimesis als Ausgangspunkt, um später bewusst davon abzuweichen, wohingegen Beatrix Landsbek aufzeigt, wie im Sinne symbiotischer bzw. kommensalistischer Modelle der Natur z. B. Alttextilien oder Zuschnittreste für die Gestaltung neuer Kollektionen genutzt werden können. Jasper A. Friedrich ergründet zuletzt mit einem Bezug zu mimetischen Prozessen in der Virtual Reality das phänomenologische Körperempfinden in virtuellen Räumen.

Obwohl Ulrich und Weltzien mit der Zusammenführung der verschiedenen Disziplinen den Vorstellungen Haraways entgegenkommen und vermeintlich gegensätzliche Positionen miteinander vernetzen, wenden sich mit Borgards, Ullrich, Rapp und Weltzien insgesamt nur vier Beiträge explizit posthumanistischen Anliegen zu, indem sie sich dezidiert mit menschlichem Handeln in Bezug auf die Tier- und Umwelt befassen. Alle anderen Beiträge beobachten das Tier ‚Mensch‘ einfach beim Sein, ohne zu beachten, ob andere Kreaturen sich ähnlich verhalten. Um abschließend darauf einzugehen, wie die posthumanistisch ausgerichteten Beiträge den Anspruch des Bands einlösen, sollen die Ansätze von Jessica Ullrich und Friedrich Weltzien eingehender befragt werden, da sie aus den von ihnen herangezogenen posthumanistischen Konzepten zum Teil konträre Schlüsse ziehen.

Ullrichs Anliegen ist es, die Dichotomie Tier/Mensch aufzulösen, da sie die Ansicht vertritt, alles Nichtmenschliche werde immer dann diskriminiert, sobald das Menschsein durch eine Tier-Mensch-Unterscheidung definiert wird. Sie stellt deshalb Künstlerinnen und Künstler bzw. Tattoo-Artists vor, die in einem gewaltsamen Akt der Verwandlung allesamt zum Tier werden wollten – sei es die Ganzkörpertätowierung und operative Gesichtsanpassung an eine Raubkatze beim so genannten ‚Cat Man‘ oder aber das Einsetzen eines Ziegenmagens bei Thomas Thwaites ‚Goat Man‘. Eine andere Künstlerin, Marion Laval-Jeantet, ließ sich wiederum Pferdeblut injizieren, um im eigenen Körper Raum für ein Pferd zu schaffen. Auffällig und widersprüchlich erscheint hier jedoch, dass das Zum-Tier-Werden die Dichotomie Tier/Mensch stets mitformuliert, da man zum Tier nur werden kann, wenn man vorher etwas anderes war. Ullrich erhält demnach mit ihren Beispielen die Dichotomie selbst aufrecht, auch bei ihr bleibt der Mensch zentraler Ausgangspunkt.

Fragwürdig ist zudem, ob die gewaltsamen Verwandlungen einer posthumanistischen Auffassung entsprechen. Die Autorinnen und Autoren, die Ullrich anführt – sie nennt hier Cary Wolfe, Rosi Braidotti und Donna Haraway –, plädieren für einen friedlichen, verantwortungsvollen Umgang aller Organismen miteinander. Würde man jedoch Ulrichs Beschreibungen des Zum-Tier-Werden als schmerzvolles Selbstbestrafungssystem deuten, welches suggeriert, dass wir uns als Menschen diesen Qualen aussetzen müssen, um die Unterdrückung anderer Organismen auszugleichen, müsste man sich fragen, ob eine solche Form der Selbstverstümmelung tatsächlich ein verantwortungsvoller Umgang mit einem Lebewesen sein kann, wie es der Mensch ja ebenfalls ist? Kunststatus ließe sich mit den Projekten vielleicht erlangen, doch würden vermutlich ausschließlich Menschen auf die Idee kommen, sich diesen Qualen selbst auszusetzen. Hier könnte man sich ein Beispiel am Tier nehmen.

Der Beitrag Weltziens eröffnet eine friedlichere Perspektive, obwohl sich auch der von ihm vorgestellte kolumbianische Künstler Oscar Leone Moyano – wie Weltzien es selbst formuliert – in vielen seiner Arbeiten „anstrengenden oder schmerzhaften Exerzitien unterzieht.“ (163). Die ‚Biofolia Amazonas‘-Serie, auf die der Fokus des Beitrags gerichtet ist, hält ebenfalls schmerzhafte Momente bereit, eröffnet aber dennoch eine Perspektive, in der es möglich ist, Menschen eigene Eigenschaften zuzuschreiben, ohne Gefahr zu laufen, andere Organismen dabei zu unterdrücken. Das gelingt dann, wenn Kultur oder Kunst nicht der Natur gegenübergestellt wird, sondern als Teil der – in diesem Falle – menschlichen Natur verstanden wird. Oscar Leone verweist mit seiner Arbeit auf die Lebensweise indigener Völker in Amazonien, bei denen zwischen menschengemachten Kulturgütern und natürlich gewachsenen Strukturen nicht unterschieden wird. Sie leben im Einklang mit dem Wald und anderen Organismen und schenken einander auf diese Weise wechselseitig Fürsorge. Oscar Leone und – so muss man annehmen – auch Weltzien geht es demnach nicht um eine Ablehnung des Menschen und seinen Artefakten, die er in verschiedenen Kulturkreisen hervorbringt, sondern vielmehr darum, sich mit dem Gegensätzlichen zu verbinden, um in Kontakt zu kommen und von dort aus Verantwortung für sich und sein Umfeld zu übernehmen.

Vor dem Hintergrund dieses Beitrags lässt sich zusammenfassend beobachten, dass der Band im Ganzen einen Raum eröffnet, in dem sich Gegensätzliches miteinander verbinden kann. Der Grundgedanke von Mimesis als empathischer Verbindungspraxis vermag demzufolge auch die friedliche Vorstellung der indigenen Amazonasvölker miteinzuschließen. Der Sammelband, der unterschiedlichste kreative Disziplinen miteinander in Kontakt bringt, bietet insgesamt eine lehrreiche Lektüre. Abseits vom Amazonasgebiet stellen die Beiträge zahlreiche Möglichkeiten vor, wie es sich im Einklang miteinander und in gegenseitiger Verantwortung in und mit unserer Welt leben lässt.

Anmerkungen:
[1] Vgl. Donna J. Haraway: The Companion Species Manifesto. Dogs, People, and Significant Otherness. Chicago, IL: Prickly Paradigm Press, 2003. Haraway selbst ist keine Befürworterin des Begriffs ‚Posthumanismus‘. Sie bezeichnet sich als ‚Kompostistin‘, womit sie eine Möglichkeit eröffnet, den Menschen aus seiner Sonderstellung herauszulösen. Alle Organismen dieser Welt zerfallen eines Tages zu Biomaterie. Der Begriff ‚Posthumanismus‘ bleibt menschenzentriert und wird Haraways Anspruch, eine Trennung zwischen Kultur und Natur aufzuheben, nicht gerecht. Vgl. bspw. Donna Haraway: Anthropocene, Capitalocene, Plantationocene, Chthulucene: Making Kin. In: Environmental Humanities 6/1. Hrsg. v. Thom van Dooren u. Elizabeth DeLoughrey. Durham, NC: Duke University Press, 2015, S. 159–165, hier S. 161.
[2] Vgl. Donna Haraway: Unruhig bleiben. Die Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Frankfurt a. M.: Campus Verlag, 2018, hier insbes. Kapitel 2: Tentakulär denken. Anthropozän, Kapitalozän, Chtuluzän, S. 47–83.

Weltzien, Friedrich/ Ulrich, Antonia (Hrsg.): Design und Mimesis. Nachahmung in Natur und Kultur, Berlin: Reimer-Verlag 2018
ISBN-13: 978-3-496-01610-6, 240 Seiten, EUR 49.00

Empfohlene Zitation:
Carolin Scheler: [Rezension zu:] Weltzien, Friedrich/ Ulrich, Antonia (Hrsg.): Design und Mimesis. Nachahmung in Natur und Kultur, Berlin 2018. In: ArtHist.net, 05.12.2019. Letzter Zugriff 28.03.2024. <https://arthist.net/reviews/22234>.

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