REV 13.12.2002

Dietmar Elger: Gerhard Richter, Maler

Rezensiert von Stefan Gronert
Redaktion: Rainer Donandt

Warum wird eigentlich ein weiteres Buch ueber den vielleicht wichtigsten Maler der Gegenwart publiziert? Immerhin umfasst die Auswahlbibliografie im aktuellen Katalog seiner vom New Yorker Museum of Modern Art initiierten Ausstellung bereits elf dicht bedruckte Seiten[1]. Und neben den Texten von Gerhard Richter liegen auch - was fuer einen Zeitgenossen eher ungewoehnlich ist - schon (vorlaeufige) Werkverzeichnisse der Gemaelde, der Editionen und der Zeichnungen vor[2]. Was also kann eine 468 Seiten starke Monografie, die unmittelbar im Anschluss an Richters 70. Geburtstag als eine Art Einfuehrung in dessen Werk erscheint, noch fuer neue Einsichten vermitteln?

Da es sich hier keineswegs um einen der beliebten Bildbaende mit einem moeglichst knappen und zuerst auf "Allgemeinverstaendlichkeit" zielenden Text handelt, sondern um eine sehr serioes auftretende Monografie eines anerkannten Experten, darf man von einem solchen opus magnum einiges erhoffen, zumal sich aus der kunsthistorischen Perspektive noch zahlreiche und durchaus schwerwiegende Luecken in der Deutung von Richters Werk ausmachen lassen. Aehnlich naemlich wie bei vielen anderen kunsthistorischen "Groessen" bestaetigt die Auseinandersetzung mit diesem in unzaehligen Ausstellungen gezeigten Oeuvre die Erfahrung, dass eine Publikationsflut eher zu einer stumpfen Wiederholung des bereits Gedruckten verleitet, welcher der (relativ) "unvoreingenommene" oder gar kritische Blick zum Opfer faellt[3].

In Reaktion auf eine veraenderte Haltung Richters zu seinen vermeintlich lange "verschluesselten" Motivationen klingt es deshalb besonders vielversprechend, wenn Dietmar Elger, einst Assistent des Kuenstlers und seit vielen Jahren Kurator am Sprengel-Museum in Hannover, wirklich neue Erkenntnisse ankuendigt, insofern sein Buch "erstmals einen umfangreichen und intensiven Einblick in die privaten Hintergruende zahlreicher Bildmotive" (S. 8) erlaubt. Vor dem Hintergrund dieses Versprechens der Befriedigung eines Voyeurismus stellt Elger einen Text in Aussicht, der "Biographie, Darstellung der kuenstlerischen Entwicklung und Interpretation des Werkes miteinander verknuepft und versucht, ihre wechselseitigen Abhaengigkeiten sichtbar werden zu lassen" (S. 8).

Entsprechend dieser ueberaus traditionalistischen Praemisse gibt die linear verlaufende Chronologie den Leitfaden einer Darstellung ab, mit der Elger eine nur vordergruendig holprige oder gar disparate Entwicklung verfolgt: Von Richters grauer "Fotomalerei" der sechziger Jahre ueber die farbigen Abstraktionen (in geometrischer wie auch pseudo-informeller) Gestalt, ueber die mitunter parallel entstehende farbige "Fotomalerei", die spektakulaere Gruppe "18.Oktober 1977" (1988) sowie die nicht unumstrittene "Darstellung des privaten Familiengluecks" der Gruppe "S. mit Kind" (1995), bis hin zu der riesigen Referenz auf die Nationalfahne im Eingangsbereich des Berliner Reichstags (1999) und den acht grauen Spiegelflaechen, die Richter 2002 im Deutschen Guggenheim installiert hat.

Dabei gelingt es Elger, eine wohlklingende, inhaltlich aber mehr als duerftige These ad absurdum zu fuehren, welche Richters Werk bereits seit den spaeten sechziger Jahren dank der Selbsteinschaetzung des Kuenstlers begleitet und die besagt, dass im Stilbruch der Stil Richters zu sehen sei [4]. Er haelt dagegen: "Richters grundsaetzliches kuenstlerisches Anliegen ist immer gleich geblieben.

Er reimportiert die anti-malerischen Prinzipien des ready-made von Marcel Duchamp in die Malerei." (S. 208). So sehr die Behauptung dieser prinzipiellen Kontinuitaet ueberzeugt, so unverstaendlich ist jedoch die Duchamp bemuehende Begruendung, die Elger spaeter noch einmal wiederholt (vgl. S. 292), der er aber an anderer Stelle selbst widerspricht (vgl. S. 127). Die in der Literatur immer wieder diskutierte Frage der Duchamp-Rezeption wird mit dieser gattungsindifferenten Import-These leider nicht vorangebracht.

Wie auch immer: Die Stationen von Richters kuenstlerischer Entwicklung lassen sich aehnlich bereits in dem erheblich kuerzeren Beitrag von Robert Storr im MoMA-Katalog nachvollziehen, wo Storrs konzise Einfuehrung, sein ausfuehrliches Interview mit Richter sowie die umfangreiche Chronik zum Werk und den parallelen Ereignisse der Kultur- und Sozialgeschichte von Catharina Manchanda einen guten Ueberblick vermitteln [5]. Nachdem Storr wohl erstmals die Perspektive auf einen "Richter vor Richter" (sprich: vor 1962) eroeffnete [6], weitet Elger den Blick auf die ersten 30 Lebensjahre des Kuenstlers nocheinmal erheblich aus (S. 9 - 43) [7], was letztlich zur Deutung seines Werkes aber erstaunlich wenig beitraegt. Obgleich derzeit Benjamin H.D. Buchloh in eigentuemlicher Manier ebenfalls versucht, die Kontinuitaet in Richters Werk von diesem biographischen Zusammenhang von NS-Zeit, "DDR- Aesthetik" und "Westkunst" ausgehend eine "Erklaerung" fuer den "Realismus" Richters zu finden [8], bleiben Elgers Ausfuehrungen im Biografismus stecken.

Dies ist kein Zufall, denn eine Auseinandersetzung mit Buchloh und dessen Bedeutung als der (seit den 70er Jahren) Hauptinterpret Richters fuer lange Jahre klingt zwar an, doch wird Buchlohs "marxistische" Sichtweise und Problematik in diesem Buch nie wirklich grundsaetzlich diskutiert [9]. Gleiches gilt auch fuer die Darlegungen zu juengeren Beitraegen der Richter- Forschung (z.B. von Kai-Uwe Hemken, Klaus Krueger, Birgit Pelzer oder Dieter Schwarz), die der positivistischen Detailfuelle der Chronologie zum Opfer fallen. Besonders bedauerlich erscheint Elgers hermeneutische Zurueckhaltung nicht zuletzt bei den Ausfuehrungen zu Richters spektakulaerer Gruppe "18.Oktober 1977" (S. 356 - 388), wo die Abbildungsfuelle [10], die auffaellig vielen Zitate des Kuenstlers und das Referat der Reaktionen auf die Bilder eine eigenstaendige Deutung durch Elger vermissen lassen.

Die Frage nach dem Erkenntnisgewinn des Buches ist deshalb aber nicht ausschliesslich negativ zu beantworten [11]. Denn zweifellos ermoeglicht Elgers materialreiche Darstellung zahlreiche Einblicke in die soziale und oekonomische Praxis eines (west-)deutschen Kuenstlerdaseins seit den sechziger Jahren [12] und bietet von daher auch diverse Anknuepfungspunkte fuer weitere Untersuchungen. Nicht aber nur fuer die kunsthistorischen Vertreter dieser paradox so genannten "Gegenwartskunst", deren Anfang, vor allem aber deren Ende noch nicht geklaert ist, sondern selbst noch fuer den Richter-Kenner bietet Elgers intime, durch Aktenstudien im Archiv Richters und durch zahlreiche Gespraeche mit dem Kuenstler und anderen "Zeitzeugen" gewonnene Kenntnis diverse Ueberraschungen.

Diese punktuellen Neuigkeiten konzentrieren sich auf das "Fruehwerk" des Kuenstlers. So erfaehrt man etwa, dass Richter bereits 1963 mit dem systematischen Fotografieren und Katalogisieren seines Werkes begann und so die ersten Voraussetzungen fuer sein erstmals 1969 (nicht wie Elger meint: 1968) publiziertes "Bilderverzeichnis" schafft (S. 60), das spaeter das Werkverzeichnis und indirekt auch den "Atlas" vorwegnimmt. Nicht minder verdienstvoll ist der Wiederabdruck einer an entlegener Stelle publizierten Selbstdarstellung der kuenstlerischen Entwicklung Richters (S. 162f.), die 1967 zu einem Zeitpunkt erscheint, als Werner Haftmann, der legendaere spiritus rector der abstrakten Nachkriegsmalerei der fuenfziger und sechziger Jahre, noch gegen Richters Ansatz mit den damals unzweideutigen Worten wetterte: "Ich sammle keine Fotos, sondern Malerei." (S. 147). Aehnlich kurios mutet heute auch der Bericht ueber eine gemeinsame Ausstellung von Richter und Uecker in Baden-Baden im Jahre 1968 an, bei der die Kuenstler - wie im Streichelzoo - bei der Ausuebung ihres Schaffens von den Besuchern der 14-taegigen Ausstellung direkt betrachtet werden konnten (S. 198 - 200). Kunsthistorisch waere ein erneuter Querverweis auf eine vergleichbare Aktion von Timm Ulrichs im Jahre 1965 natuerlich interessant (S. 86), allein schon um die Besonderheit der Ausstellungspraxis im Unterschied zum kuenstlerischen Schaffen zu diskutieren, doch Elger versagt sich konsequent allgemeine Diskussionen, welche ueber den Horizont von Richters Biografie hinausweisen. Diese verlaeuft allerdings ueber weite Strecken so unspektakulaer, dass auch die vielleicht groesste Ueberraschung des Buches in der Fuelle der Details beinahe untergeht: Geht man in der Literatur bislang davon aus, dass Richter den "Atlas", seine wichtige und in vielerlei Hinsicht kunsthistorisch noch nicht genuegend diskutierte Bildersammlung, erstmals 1972 in Utrecht und Bremerhaven praesentiert hat, so weist Elger auf eine Praesentation von "Studien 1965-1970" hin, die im Oktober 1970 (nicht wie Elger meint: 1971) im Rahmen von Richters Druckgraphik-Ausstellung im Essener Museum Folkwang stattfand und nicht weiter dokumentarisch ueberliefert ist (S. 238).

An solchen Stellen erweist sich der Wert des Buches als ein in Zukunft sicher haeufig zitierter Steinbruch fuer weitergehende Richter- Interpretationen, wie sie bei Elger ausbleiben - sollte man nicht davon ausgehen, dass fuer ihn Bilder vor allem Reflexe einer subjektivistischen Befindlichkeit des Kuenstlers sind.

In diese Richtung tendieren leider die Hinweise zur juengsten Werkgruppe auf der letzten Seite seines erst gegen Ende fluessiger geschriebenen Textes, wo er meint, im Auftauchen von Spiegelbildern im Werk Richters "Wendemarken" (S. 430), um nicht zu sagen: Symptome eines Neuaufbruchs nach einer ratlosen Inspirationssuche des Artisten, zu sehen. Abgesehen davon, dass die von Elger bemuehten Beispiele diese These gar nicht untermauern koennen [13], scheint der hier zugrundeliegende Subjekt-Begriff geradezu naiv. Und so unangemessen der ready-made-Bezug zuvor bei Richters Gemaelden erschien, denen Elger zu Recht einen "eminent malerisch[en]" (S. 70) Charakter zuspricht, so bedauerlich ist es, dass er statt dessen diesen Faden nicht hier wieder aufnimmt und den vergleichenden Blick zudem auf die Funktion des Spiegels in den Werken von Dan Graham, Michelangelo Pistoletto oder - noch naheliegender - von Isa Genzken richtet.

Doch Elger stellt nichts in einen Zusammenhang, was auch nur ansatzweise ueber den Horizont Richters hinausgeht und berichtet stets so distanzlos wie aus der Position des Kuenstlers selbst. Das methodisch der begrenzte Buch geraet somit zu einem unfreiwilligen Beispiel dafuer, dass sich das unueberwindbare Problem der fehlenden historischen Distanz bei der Kunstgeschichtsschreibung der Gegenwartskunst mitnichten durch revisionistische Ansaetze beseitigen laesst.

Als Ergebnis von Elgers ungeheurer Fleissarbeit bleibt daher nur eine umfangreiche Faktensammlung zurueck, die weder Unkundige noch Kunsthistoriker befriedigen kann: man erfaehrt viel Neues, aber nichts Wichtiges zum Verstaendnis der Malerei Richters. Also: warum wurde keine Monographie ueber das Werk des vielleicht wichtigsten Maler der Gegenwart publiziert?

Anmerkungen:

[1] Robert Storr: Gerhard Richter. Forty Years of Painting, Ausst.-Kat. The Museum of Modern Art, New York 2002, hier zitiert nach der deutschen Ausgabe: Robert Storr: Gerhard Richter. Malerei, Ostfildern-Ruit 2002, S. 320-330.

[2] Vgl. Gerhard Richter, Text. Schriften und Interviews. Hrg. v. Hans-Ulrich Obrist, Frankfurt a.M./Leipzig 1993. Die Werkverzeichnisse der Gemaelde: Gerhard Richter. Ausst.-Kat. Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland, Bonn 1993, Bd. 2: Werkuebersicht/Catalogue raisonné 1962-1993 sowie: Dietmar Elger, Werkverzeichnis, in: Juergen Harten (Hrg.): Gerhard Richter, Bilder 1962-1985. Ausst.-Kat. Kunsthalle Duesseldorf u.a.O. 1986, S. 356-402. Zum Werkverzeichnis der Zeichnungen: Dieter Schwarz (Hrg.): Gerhard Richter. Zeichnungen 1964-1999. Ausst.-Kat. Kunstmuseum Winterthur 1999. Zum Werkverzeichnis der Editionen: Hubertus Butin: Gerhard Richter. Editionen 1965- 1993. Hrg. v. Kunsthalle Bremen, Muenchen 1993.

[3] Vgl. die Ansaetze zu einer Neubetrachtung in dem zeitgleich erschienen Beitrag des Verfassers: Die Bildlichkeit des Abbildes. Die mediale Reflexion der Fotografie bei Gerhard Richter und Jeff Wall, in: Zeitschrift fuer Aesthetik und allgemeine Kunstwissenschaft 47, 2002, S. 37-72.

[4] Vgl. Klaus Honnef: Schwierigkeiten beim Beschreiben der Realitaet, in: Gerhard Richter, Ausst.-Kat. Gegenverkehr, Zentrum fuer aktuelle Kunst, Aachen 1969, o.P.

[5] Vgl. Storr, S. 9 - 94, 287 - 309, 311 - 319.

[6] Vgl. ebd., S. 17-21.

[7] Umgekehrt wird die zweite Haelfte von Richters malerischem Werk - immerhin zwanzig Jahre - vergleichsweise kurz auf den letzten 100 Seiten abgehandelt (S. 333 - 430).

[8] Buchloh hat diese historische Lesart bislang (2002) nur auf diversen Vortraegen vorgestellt und plant eine Publikation zu diesem Komplex.

[9] Elger beschraenkt sich auf einige kritische Bemerkungen zu Aspekten der Deutung der "48 Portraits" (S. 243f., 249f.).

[10] Die 15-teilige Bildgruppe, die man korrekt wohl kaum als "Zyklus" (S. 356 u. passim) beschreiben kann, ist vollstaendig abgebildet, waehrend man ansonsten trotz der insgesamt rund 160 Abbildungen doch oft ein Werkverzeichnis zur Vergegenwaertigung der kenntnisreichen Ausfuehrungen Elgers benoetigt.

[11] Vgl. die Polemik von Thomas Wagner, Wenn der Herr Kuenstler sagt, dass es etwas Besonderes ist, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 233, 8.10.2002, S. L 37.

[12] Elgers Ausfuehrungen konzentrieren sich jedoch beinahe ausschliesslich auf die Biografie Richters und koennen den Anspruch, den man an eine Geschichte der deutschen Nachkriegskunst stellen muesste, gar nicht erfuellen. Insofern ist es unverstaendlich, dass Christoph Heinrich in seiner Rezension "Mitten im Knaeuel des Lebens. Die erste und auch lesenswerte Biografie des Malers Gerhard Richter", in: Die Zeit, Nr. 47, 14.11.2002 (Sonderbeilage), S. 51, eben diese Leistung des Buches lobt. Unuebersehbar spielen so zentrale Positionen wie die von Schumacher, Baumeister, Nay, Graubner, die Bechers, Klauke, Sieverding, Kiefer, Horn, Laib oder gar Richters erfolgreichster "Schueler" Schuette in Elgers Ausfuehrung jedoch gar keine oder nur eine marginale Rolle - womit eine Chance verschenkt wird.

[13] Sind die Bilder Nr. 735-1 bis 741, wie er selbst sagt, erst drei Jahre nach der "Oktober"-Gruppe entstanden, so trifft dies fuer Nr. 160 ebenso wenig zu wie fuer die unerwaehnten Spiegelbilder Nr. 470, 485 oder die Spiegel-Edition (Butin Nr. 51). Ueberdies wuerde die Wendezeit bereits spaetestens seit 1999 andauern, als Richter die Spiegelarbeit im Reichstag (Nr. 856) schuf.

Elger, Dietmar: Gerhard Richter, Maler, Köln: DuMont Buchverlag 2008
ISBN-13: 978-3-8321-9065-1, 415 S., ca. EUR 29.90

Empfohlene Zitation:
Stefan Gronert: [Rezension zu:] Elger, Dietmar: Gerhard Richter, Maler, Köln 2008. In: ArtHist.net, 13.12.2002. Letzter Zugriff 26.04.2024. <https://arthist.net/reviews/220>.

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