REV-CONF 22.10.2019

Evangelischer und katholischer Kirchenbau 1848-1938

Berliner Kirchenbauforum in Kooperation mit der Katholischen Akademie e.V., Berlin, 20.–22.09.2018

Bericht von Manuela Klauser, München
Redaktion: Steffen Haug

Evangelischer und katholischer Kirchenbau zwischen 1848 und 1938 in den deutschsprachigen Gebieten östlich der Elbe

[Tagungsbericht im Auftrag der Veranstalter]

Die Auftakttagung des 2015 konstituierten Berliner Kirchenbauforums[1] bot unter dem thematisch eng umrissenen Titel facettenreiche Einblicke in aktuelle Forschungen zur Kirchenbaugeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Die Beiträge ließen die Bedeutungsschwere einer noch nicht zur Gänze aufgearbeiteten Umbruchphase erkennen, welche gerade nicht in einer Reihe radikaler Brüche oder herausragender Solitärbauten darzustellen ist. Vielmehr ist jener Zeitraum als ein Gradmesser kontinuierlichen Wandels technischer, konfessioneller und kunstästhetischer Begrifflichkeiten zu verstehen. Hervorzuheben sind die ausgezeichnet thematisch aufeinander aufbauenden Sektionen der Veranstaltung.

Die Beiträge der I. Sektion erhellten aus verschiedenen Blickwinkeln die „Aufbrüche: Hintergründe und Akteure im Kirchenbau des 19. Jahrhunderts“. Stefanie Fink (Berlin) befasste sich mit dem Status von Sakralarchitektur in der akademischen Architektenausbildung der TH Berlin. Auch wenn bis 1922 kein eigener Lehrstuhl für Kirchenbau existierte, nahm diese Bauaufgabe einen wesentlichen Bestandteil der Lehre und der umfangreichen Staatsprüfungen ein und betraf vor allem Entwürfe für evangelische und katholische Stadt- und Dorfkirchen, Synagogen, Wallfahrts- und Friedhofskapellen nebst verschiedener Kirchenmöbel wie Altäre, Kanzeln, Gestühl etc. Thomas Buskes (Berlin) Beitrag erläuterte mit kritischem Blick die Aktivitäten des 1890 gegründeten Evangelischen Kirchenbauvereins in Berlin. Seine Ausführungen boten weniger einen historischen Abriss der Vereinsgeschichte, als vielmehr einen Einblick in die Umstände zu den zahlreichen Kirchenbauten, welche durch das Engagement des Vereins in neuen, nicht selten sozial angespannten Arealen der wachsenden Großstadt errichtet werden konnten. Dabei gab er zahlreiche wertvolle Hinweise auf das Sakralbauverständnis evangelischer Kirchenbaumeister jener Jahre. Über die formästhetische Kritik an eklektizistischen Bauweisen hinausblickend, lässt sich ihnen eine ausgeprägte liturgische Sensibilität für die Bauaufgabe nachsagen, ebenso wie eine langsam wachsende Begeisterung für neue Raumformen. Fanny Stoye (Leipzig) nahm unter dem Latour’schen Begriff der Akteurskonstellation die vielfältigen Faktoren und Betreiber eines Kirchenbaus von seiner ersten Planung bis zu Weihe kritisch in den Fokus. Sie verwies darauf, dass das gebaute Endergebnis zumeist als Konsenslösung zu verstehen ist, die deswegen aber nicht als weniger fortschrittlich zu beurteilen sei. Mithin sei nicht jedes konservative Endergebnis den Auftraggebern und nicht jeder Fortschritt allein dem Architekten als Baukünstler zuzuschreiben. Der Vortrag über die Entstehung und Bedeutung kirchlicher Bauämter um 1900 als beratende und fördernde Einrichtung für evangelische Gemeinden von Christian Ritter (Berlin) rundete die erste Tagungssektion ab. In einer Phase infrastrukturellen wie technischen Umbruchs konstituierten sich die kirchlichen Bauämter zeitlich deutlich nach der Gründung katholischer Kirchenbauämter und strebten dezidiert die Position beratender Stellen an, um der zunehmenden Diversität auf dem Gebiet der evangelischen Parochialarchitektur zu begegnen.

Die II. Sektion, „Metropolen – Große Städte, große Namen und der Sakralbau“ fokussierte auf den Status des Sakralbaus in wachsenden Regionen und die daraus abzuleitenden, topografischen und soziologischen Anforderungen. Marina Wesner (Berlin) stellte diese Aspekte in der sakralen Topographie Berlins – den gesamten, in der Tagung thematisierten Zeitraum überblickend – vor. Sowohl die Bestandssituation von Bauten beider Konfessionen (Gegenüberstellung der Anzahl an Kirchenmitgliedern und der zur Verfügung stehenden Kirchen) als auch die strategische Verteilung von Einzelbauten wurden angesprochen. Neben dem Argument der fußläufigen Erreichbarkeit waren missionarische Motivationen (z.B. Bahnhofsnähe) ebenso als Standortfaktoren erkennbar, wie kulturelle Zugehörigkeiten (gleiche Konfessionen – abweichende Kulturkreise). Die dezidierte Auswertung der Ergebnisse lässt ahnen, mit welch vielfältigem Erbe sich Stadtbauplanung und Kirchenbauverwaltung heute auseinandersetzen müssen. Arvid Hansmann (Greifswald) bot anhand einer akribischen Gesamtdarstellung des Sakralbaus beider Konfessionen in der um 1900 rasch zur Großstadt avancierenden Ortschaft Stettin (Szczecin) exemplarisch Einblick in die selbstbewusste Kunst- und Architekturreflektion emporstrebender Städte. Entwicklungssprünge in der städtischen Kulturlandschaft sind demzufolge nicht allein großen Metropolregionen vorbehalten. Hansmanns – in einer bereits abgeschlossenen und jüngst publizierten Dissertation – vorgelegte Untersuchungsergebnisse fokussieren nebst einer Anzahl an Einzelbauten zwischen 1880 und 1918 vor allem den Einfluss regional übergreifender Veränderungsfaktoren (z.B. allgemeiner Wirtschaftswachstum, kulturelle Grenzverschiebungen etc.) einer zusammenwachsenden Nation. Die Beiträge von Rafał Makala (Stettin, Berlin), Hans-Jürgen Kutzner (Hannover), Immo Wittig (Berlin) und Elke Backes (Mönchengladbach) befassten sich mit Fragestellungen zum Einfluss der Avantgarden. Makalas kritische Darstellung wies die Bauten Adolf Thesmachers in Stettin als Melange aus traditionsverbundenem Bauverständnis und aufgeschlossener Verarbeitung avantgardistischer Strömungen für die Erwartungen einer städtischen Klientel wachsenden Selbstbewusstseins aus. Eine fundierte Kenntnis liturgiespezifischer Historie des Kirchenbaus ließ Thesmachers Kirchen spannungsreich und doch nicht fremdartig neu erscheinen. Zu seinen wichtigsten Bauten zählt die Stettiner Kreuzkirche (1929, heute kath. Kirche der Heiligen Familie). Während Hans-Jürgen Kutzner und Immo Wittig das umfangreiche Oeuvre eines der Hauptprotagonisten des evangelischen Kirchenbaus – Otto Bartning – vorstellten und mit aktuellem Bezug seine Verbindungen zum Weimarer Bauhaus beleuchteten, stellte Elke Backes diesem mit Dominikus Böhm einen ebenbürtigen Vertreter des modernen katholischen Kirchenbaus gegenüber. Sie diskutierte seine Aufträge für den der Krankenpflege verpflichteten Kamillianerorden in Berlin, Hindenburg (Zabrze) und Mönchengladbach. Böhm entwarf ursprünglich für alle drei Standorte Gesamtensembles aus Krankenhaus und Kirchengebäude. Er übertrug dabei das Ideal des Ordens, die Pflegebedürftigen aktiv in das Liturgische Geschehen einzubinden und die Kommunion bis an die Krankenbetten heranzutragen, durch lichtdurchflutete, erhebende Raumformen sowie großzügige Emporenanlagen auf die Architektur. Wenngleich sein Engagement für den Kamillianerorden in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit an den Umsetzungen scheiterte, konnten einige seiner Ideen Anfang der 1930er-Jahre in seine Planungen für das Caritas-Zentrum und Krankenhaus samt Kirche in Köln-Hohenlind (in Zusammenarbeit mit Johannes van Acken) einfließen.

Der öffentliche Abendvortrag von Daniel Lordick (Dresden) erschloss ein gänzlich eigenes Thema, ohne indes die Grenzen des gesteckten Rahmens zu überschreiten. Seine Ausführungen widmeten sich Anforderungen der heutige Denkmalpflege, mithilfe neuester Technologien und unter dem Einfluss sich aktualisierender, wissenschaftlicher Erkenntnisse Rekonstruktions- und Ergänzungsmaßnahmen an historischer Bausubstanz vorzunehmen. Lordick entwarf für die neugotische Kirche St. Matthias in Berlin das Computermodell eines historisch anmutenden Maßwerks, welches mithilfe hochmoderner CNC-Technik aus einem betonähnlichen Werkstoff gefräst wird. Lordicks Algorithmen-basiertes Programm ermöglichte darüber hinaus auch die Darstellung rein mathematisch generierter Maßwerk-Modelle, die einer innovativen Übersetzung historischer Baukonzepte in zeitgemäße Entwicklungsstandards eher entsprochen hätten.

Die III. Sektion, „Tendenzen. Wege und Entwicklungen im Kirchenbau des 20. Jahrhunderts“, war der Aufarbeitung künstlerischer Konzepte, aber auch neuester Forschungsansätze gewidmet. Mit der ev. Kreuzkirche in Berlin-Schmargendorf (1927–29) stellte Marie Basalla (Berlin) ein den von Makala und Stoye behandelten Bauten vergleichbares Beispiel gemäßigten Sakral-Expressionismus vor, welches erneut die Zusammenhänge von scheinbar verhaltener Modernität und langwierigen Entwurfs- und Bauprozessen erkennen ließ. Das Zentralbaukonzept rekurriert auf einen nicht ausgeführten Entwurf von vor 1914, das Mitte der 1920er-Jahre überarbeitet, jedoch erst gegen Ende des Jahrzehnts realisiert und geweiht werden konnte. Beate Rossié (Berlin) vertiefte eine sensible Thematik der Kunstgeschichtsschreibung, die auch heute mitunter noch Fassungslosigkeit und Betroffenheit auszulösen vermag. Es gelang ihr mit zahlreichen Beispielen, die Präsenz und Verstrickungen des nationalsozialistischen Regimes in Kirchenkunst und -ausstattung aus der situativen Not der Zeit heraus darzustellen. Die vorbehaltlose Analyse gelegentlich chamäleonartig anmutender Anpassungsfähigkeit zahlreicher Künstler an geforderte Themen und Bildstrategien könnte vorbildhaft auch als Bewertungskriterium für andere, weniger politisch belastete Phasen herangezogen werden. Ilka Hausmann (Leipzig) befasste sich mit der Erfassung des modernen Sakralbaus auf Basis architektursemiotischer Beschreibungsstrategien. Sie gewährte einen Einblick in den Forschungsstand ihrer Dissertation, für die sie Außenbauten von Kirchen beider Konfessionen aus den späten 1920er- und frühen 1930er-Jahren untersucht. Der Formenkanon der Moderne in den Zwischenkriegsjahren tendierte weniger zu einer Ent- als vielmehr zu einer Mehrfach-Semantisierung der Einzelform, deren Bedeutung sich folglich erst aus dem Gesamtkonstrukt herleiten ließe. Gleichzeitig bedienten sich ikonische Gebäudetypen – zu denen der Sakralbau unstrittig zu zählen ist – diverser Codierungsstrategien, um die Lesbarkeit ihrer Bauform in einer Phase radikalen Umbruchs aufrecht zu erhalten. Konstantin Manthey (Berlin) suchte zuletzt gerade in Randbezirken und kleineren Pfarrkirchen dem weit gefassten Begriff formalästhetischer Moderne auf die Spur zu kommen. Werke des kirchlichen Baurats Carl Kühn zwischen 1900 und 1930, Bauten des späthistoristischen Architekten Max Hasak um 1900/1910 und die wenigen Kirchenprojekte Josef Bachems in den späten 1920er-Jahren ließen kategorisierende Begrifflichkeiten wie Avantgarde, zeitgenössische Strömungen u.ä. ein weiteres Mal in der kritischen Analyse als eher hinderlich denn verständnisfördernd erscheinen. Mantheys Augenmerk galt Grundrissen und Innenräumen, denn Modernität bewährte sich im Kirchenbau weit weniger in Bezug auf ihre Außenwirkung als vielmehr im Kontext ihrer liturgischen Bezugnahme.

Die Kurzvorträge der Abschlussdiskussion von Walter Zahner (Regensburg) und Manuela Klauser (München) erörterten unter verschiedenen Aspekten Ideale und Konflikte des Kirchenbaus in Gegenwart und Zukunft. Zahner stellte in knappen Worten den künstlerischen Beitrag des Vatikan auf der Architekturbiennale 2018 sowie aktuelle Neubauprojekte vor. Alsdann holte er mit Hinweisen auf Umbauten, Umnutzung und Schließung von Kirchen die Diskussionsrunde in den Bereich des aktuellen Geschehens. Die Sensibilität der Thematik aufgreifend, stellte er abschließend die kritische Frage, wie der Umgang mit Bausubstanz seit den 1960er Jahren gegenüber dem finanziell aufwändigen Erhalt historischer Bausubstanz zu werten sei. Klauser suchte methodisch den Bogen des Tagungsthemas in die Gegenwart zu schlagen und griff die zuletzt in Hausmanns und Mantheys Beiträgen nochmals deutlich gewordenen, aktuellen Forschungsansätze zum Sakralbau des 20. Jahrhunderts auf. Anhand des 2002 geweihten Kirchenneubaus St. Canisius in Berlin erläuterte sie Interpretationsformen von Zeichenhaftigkeit und Konzeptionsdichte in der architektonischen Gestalt des aktuellen Kirchenbaus. Dabei verwies sie auf die intensive Reflexion der mittlerweile gut 100-jährigen Phase des modernen Sakralbaus im Kirchenneubau der vergangenen 10 bis 15 Jahre.

Aufgelockert wurde das Tagungsprogramm durch Besichtigungen einiger Bauten im Stadtgebiet, etwa der 2015 vom Lichtkünstler James Turrell neu gestalteten Friedhofskapelle auf dem nahe gelegenen Dorotheenstädtischen Friedhof. Eine Bus-Exkursion zu ausgewählten Berliner Kirchen informierte sowohl über aktuelle Instandhaltungsbedürfnisse als auch über die vielfältigen, bauhistorischen Stadien von Stadtkirchen im Verlauf eines ereignisreichen 20. Jahrhunderts. Besichtigt wurden die Lichtenberger Erlöserkirche (1890-1892) als Vorzeigebau des evangelischen Kirchenbauvereins, des Stadtkloster Segenskirche am Prenzlauer Berg (1905-1908) sowie die kath. Kirche St. Martin in Kaulsdorf (1929-1930), die zuletzt der Fernsehserie „Babylon Berlin“ als eindrucksvolle Filmkulisse diente.

Insgesamt bot die Tagung in angenehmer Runde aus Experten und interessierten Teilnehmenden einen facettenreichen und wissenschaftlich fundierten Einblick in aktuelle Forschungsschwerpunkte des modernen Sakralbaus.

Empfohlene Zitation:
Manuela Klauser: [Tagungsbericht zu:] Evangelischer und katholischer Kirchenbau 1848-1938 (Berliner Kirchenbauforum in Kooperation mit der Katholischen Akademie e.V., Berlin, 20.–22.09.2018). In: ArtHist.net, 22.10.2019. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/21881>.

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