REV-EX 21.10.2019

Dresdner Moderne 1919–1933. Neue Ideen für Stadt, Architektur und Menschen

Stadtmuseum Dresden, 29.06.–27.10.2019

Rezensiert von Beate Stoertkuhl, Oldenburg
Redaktion: Livia Cárdenas
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Das Bauhausjubiläum 2019 hat zahlreiche Städte und Institutionen animiert, auch ihre Beiträge zur Gestaltung moderner Lebenswelten in den Jahren der Weimarer Republik ins Licht zu rücken. Ausstellungen und Publikationen wie die „Moderne am Main 1919–1933“,[1] „Adolf Rading in Breslau. Neues Bauen in der Weimarer Republik“ [2] oder die Neuauflage des Bandes „Neues Bauen – Neues Leben. Die 20er Jahre in Magdeburg“ [3] lassen erkennen, dass progressive Einrichtungen wie die Frankfurter Kunstschule für freie und angewandte Kunst ähnliche Konzepte realisierten wie das Bauhaus – allerdings rührte nach 1933 niemand für sie die Werbetrommel, wie dies Walter Gropius über Jahrzehnte mit Erfolg für seine Schule tat. Deutlich wird, welch zentrale Rolle kommunale Stadtbauämter und gemeinnützige Siedlungsgesellschaften bei der Gestaltung eines technisch effektiven und hygienischen Siedlungs- und Wohnungsbaus für breite Bevölkerungsschichten spielten. Ernst May in Frankfurt oder Bruno Taut in Berlin lieferten mit ihren Mitarbeiterstäben Musterlösungen, die international rezipiert wurden.

In einer noch bis 27. Oktober 2019 im Stadtmuseum laufenden Ausstellung wird unter dem Titel „Dresdner Moderne 1919–1933. Neue Ideen für Stadt, Architektur und Menschen“ nun auch die sächsische Hauptstadt in den damaligen Diskursen um eine zeitgemäße Großstadtstruktur und -architektur verortet. Der gleichnamige Katalog entstand in Kooperation von Museum und Hochschule: Herausgeber neben der Ausstellungskuratorin Claudia Quiring ist Hans-Georg Lippert, Professor für Baugeschichte an der TU Dresden; unter den Autor*innen finden sich u. a. die Mitarbeiter*innen des Lehrstuhls: Martin Neubacher, Tanja Scheffler, Kerstin Zaschke, sowie der Inhaber des Lehrstuhls für Kunstgeschichte, Hendrik Karge, der einen Beitrag zum Kirchenbau der 1920er Jahre beigesteuert hat.

Dresden gilt als Ort der Avantgarde ‒ allerdings vor dem Ersten Weltkrieg. Mit der Dritten Deutschen Kunstgewerbeausstellung 1906 fand hier eine wichtige Standortbestimmung statt. In der Gartenstadt Hellerau realisierten die Architekten um Hermann Muthesius, Heinrich Tessenow und Richard Riemerschmid zentrale Ideen der Kunst- und Lebensreform um 1900 und lieferten das langlebige Muster für einen Wohnungsbau, der die Forderung nach „Licht und Luft und Sonne für alle“ erfüllt. 1916 übernahm Hans Poelzig, der sich als Direktor der Breslauer Akademie für Kunst und Kunstgewerbe als Modernisierer profiliert hatte, das Amt des Stadtbaurats. Diesen „Nukleus der Reform“ stellt Nils M. Schinker als Einstieg noch einmal vor.

Der Krieg und die wirtschaftlich prekäre Situation der Folgejahre machten auch Dresden zu schaffen; eine Konsolidierung setzte, wie andernorts, Mitte der 1920er Jahre ein. Gunda Ulbricht skizziert die politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen der Stadt in der Weimarer Republik. Bemerkenswert ist die konstante Amtsführung des Oberbürgermeisters Bernhard Blüher (DVP) von 1915 über die Zeit der Räteregierungen hinweg bis Anfang 1931. Ähnlich wie Franz Adickes in Frankfurt betrieb Blüher eine konsequente Bodenpolitik und sicherte der Stadt Grundstücke, die für den gemeinnützigen Wohnungsbau zur Verfügung standen – ein adäquates Modell auch zur Lösung aktueller Probleme des Wohnungsmarkts. Insgesamt entstanden zwischen 1919 und dem Börsencrash im Herbst 1929 in Dresden ca. 20.000 Wohnungen; eine Zahl, die gleichfalls dem Vergleich mit dem „Neuen Frankfurt“ standhält, wo von 1925 bis 1930 etwa 12.000 Wohnungen gebaut wurden.

Warum also wurde die Stadt in den 1920er Jahren nicht zum „Neuen Dresden“, weshalb spielt sie in der Geschichtsschreibung der Architekturmoderne bisher eine untergeordnete Rolle? Als Antwort verweisen Quiring und Lippert auf die ‒ ungeachtet der in den 1990er Jahren einsetzenden Revisionen ‒ noch immer wirksamen Narrative einer Architekturgeschichtsschreibung, die „Moderne“ auf formalästhetische Merkmale reduziert („Bauhausstil“). Die beiden Autoren plädieren daher für die Adaption des aus den Sozialwissenschaften kommenden Begriffs der „multiplen Modernen“, um der Vielfalt der Modernisierungsansätze gerecht zu werden und Ungleichzeitigkeiten sowie regionale Besonderheiten integrieren zu können. In der Tat erscheint dieser Terminus umfassender und zugleich offener als die gängigen Umschreibungen als „andere“ oder, bereits wertend, als „konservative Moderne“.

Dennoch bleibt die Frage, weshalb die Formensprache des Neuen Bauens sich in Dresden oder München weniger durchsetzte als beispielsweise in Breslau oder Celle. Eine Erklärung liefert der Blick auf die jeweiligen Protagonisten: kommunalen Entscheidungsträger, Auftraggeber und natürlich Architekten mit ihren individuellen Prägungen und Handschriften. Wie richtungsweisend war etwa der Wechsel von Ludwig Hoffmann zu Marin Wagner auf der Stelle des Stadtbaurats in Berlin! Der Band bietet reichlich Stoff, dies durch Querlesen zwischen den Essays und den Architektenporträts im Anhang nachzuvollziehen, auch wenn nicht alle Dresdner Akteure (etwa Max Arlt) ein Biogramm erhalten haben.

Als zentrale Figur weist der Beitrag von Ulrike Hübner-Grötzsch den Dresdner Stadtbaurat Paul Wolf aus, der in seiner langen Amtszeit von 1922 bis 1945 dem kommunalen Bauen den Stempel aufdrückte. Wie viele Architekten seiner Generation kam Wolf aus der Schule der Reformbewegung – er hatte bei Theodor Fischer und Paul Bonatz studiert. Er entwickelte deren Ideen weiter, ohne zu einem Verfechter des Neuen Bauens zu werden, jedoch auch ohne die neue Richtung zu behindern. Das Städtische Hochbauamt betrieb unter Wolf den konsequenten Ausbau der kommunalen Infrastruktur mit Schulen, Altenheimen, Sportplätzen, Hallenbädern – eben das ganze Programm urbaner Modernisierung. Für die Hinwendung zum Neuen Bauen, etwa in der Großsiedlung Trachau, sorgten, wie Nils M. Schinker zeigt, in erster Linie Wolfs Mitarbeiter Max Arlt, Erich Hempel und Hans Reichow.

Zu den Entdeckungen des Bandes gehören die frei schaffenden Architekten Hans Richter und Gustav Lüdecke, die am Messeplatz Dresden immer wieder mit innovativen Musterhäusern und Ausstellungspavillons vertreten waren. Dazu gehört unbedingt auch Gertrud Lincke, an deren Beispiel Claudia Quiring übergreifende Überlegungen zu den damaligen Ausbildungs- und Berufsmöglichkeiten von Architektinnen anstellt.[4] So ist es bezeichnend, dass Lincke fast ausschließlich für die Stiftung Frauen-Wohnungshilfe baute, und dass ihre kubischen Entwürfe für modulare Typenhäuser aus Stahl in einer Reformzeitschrift für eine weibliche Leserschaft publiziert wurden.

Ein Prestigeprojekt der Stadt war das Dresdner Hygienemuseum, dessen in die Vorkriegszeit zurückreichende Planungsgeschichte Gilbert Lupfert nachzeichnet. Die monumentalen, kristallinen Entwürfe der Gebrüder Luckhardt oder Hans Scharouns im 1920 ausgelobten Wettbewerb hatten nicht nur aufgrund der Inflationsjahre keine Chance auf eine Realisierung. 1926 ging der Auftrag an Wilhelm Kreis; es entstand ein Hybrid, in dem der Architekt Elemente seiner denkmalhaften Bauten aus der Zeit vor 1914 (z. B. Landesmuseum für Vorgeschichte in Halle) mit „modernen“, horizontalen Linienführungen und dem hellen – „hygienischen“ – Putz der „weißen Moderne“ verband.

Kreis hatte seine Karriere 1898 in Dresden als Assistent bei Paul Wallot begonnen. 1926 kehrte er zurück und übernahm in der Nachfolge Heinrich Tessenows die Architekturprofessur an der Kunstakademie. Neben Kreis wirkten weitere Vertreter einer „konservativen Moderne“ an den Dresdner Hochschulen; an der Technischen Hochschule lehrten Adolf Muesmann, Oswin Hempel sowie Emil Högg, ein expliziter Gegner des Neuen Bauens. Kerstin Zaschkes aufschlussreiche Untersuchung zur Architektenausbildung liefert eine weitere personalbedingte Erklärung für die insgesamt schwache Position der Avantgarde in der Stadt – und stützt damit zugleich den Ansatz der Herausgeber, die „Dresdner Moderne“ als „multiple Moderne“ zu betrachten.

Die Relativität des „Moderne“-Begriffs erschließt sich besonders eindrücklich in der Gegenüberstellung von den in der Tradition der Vorkriegsmoderne stehenden Typenmöbeln aus den „Deutschen Werkstätten“ in Hellerau (Klara Německová) und der Küchen-Firma Eschebach (Erika Eschebach) mit den avantgardistischen Produkten aus den Bauhauswerkstätten, die in Dresden in der Galerie „Neue Kunst Fides“ zu erwerben waren (Claudia Quiring). Beide Richtungen schrieben sich Sachlichkeit und Typisierung auf die Fahnen; preislich erschwinglicher und damit den „modernen“ Anforderungen entsprechend waren jedenfalls die „traditionelleren“ Hellerauer Raumausstattungen.

Bislang war das im Buch ebenfalls präsente Kugelhaus des Münchner Architekten Peter Birkenholz auf der Ausstellung „Die Technische Stadt“ (1928) der wohl bekannteste Dresdner Bau der 1920er Jahre. Der vorliegende Band kann dies ändern: Er schließt eine Leerstelle im Mosaik der Architekturgeschichte der Moderne und regt Perspektivwechsel an.

[1] Klaus Klemp u.a. (Hg.): Moderne am Main 1919–1933. Ausst. Kat. Museum angewandter Kunst Frankfurt/M. 2019. Stuttgart 2019; Wolfgang Voigt u.a. (Hg.): Neuer Mensch, Neue Wohnung. Die Bauten des Neuen Frankfurt 1925–1933. Ausst. Kat. Deutsches Architekturmuseum Frankfurt/Main. Berlin 2019.
[2] Jerzy Ilkosz, Beate Störtkuhl (Hg.): Adolf Rading in Breslau. Neues Bauen in der Weimarer Republik. Berlin-Boston 2019 (Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa 72).
[3] Christian Anz u.a. (Hg.): Neues Bauen – Neues Leben. Die 20er Jahre in Magdeburg. 2. Aufl. Berlin-München 2018.
[4] Vgl. Mary Pepchinski u.a. (Hg.): Frau Architekt. Seit mehr als 100 Jahren: Frauen im Architekturberuf. Ausst.Kat. DAM Frankfurt/M. Berlin-Tübingen 2017; auch hier ist Lincke präsent.

Quiring, Claudia; Lippert, Hans-Georg (Hrsg.): Dresdner Moderne 1919–1933. Neue Ideen für Stadt, Architektur und Menschen., Dresden: Sandstein Verlag 2019
ISBN 978395498464, 336 S., 48,00 EUR, Inhaltsverzeichnis

Empfohlene Zitation:
Beate Stoertkuhl: [Rezension zu:] Dresdner Moderne 1919–1933. Neue Ideen für Stadt, Architektur und Menschen (Stadtmuseum Dresden, 29.06.–27.10.2019). In: ArtHist.net, 21.10.2019. Letzter Zugriff 20.04.2024. <https://arthist.net/reviews/21864>.

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