REV-CONF 17.05.2019

Space Oddities. Die homerische Irrfahrt in den Bildkünsten

Institute für Kunstgeschichte und Klassische Philologie der Justus-Liebig-Universität Gießen auf Schloss Rauischholzhausen, 04.–06.04.2019

Bericht von Dr. Johanna Scherb, International Graduate Centre for the Study of Culture (GCSC), Uni Gießen
Redaktion: Steffen Haug

Space Oddities. Die homerische Irrfahrt in Bildkünsten und Populärkultur vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart

“Here I am floating round my tin can / Far above the Moon / Planet Earth is blue / And there’s nothing I can do”
(David Bowie, Space Oddity, 1969)

Odysseus, der klärt, wo’s brenzlig wird, und trickreich agiert, wenn sonst nichts mehr hilft – Odysseus, der Held von Troja und, mehr noch, der zur Heimfahrt Aufbrechende und dabei zum Irrfahrer Werdende, ist durch die homerischen Epen zur literarischen Figur gemacht worden, die bis heute nichts an Faszination eingebüßt hat. Wenige Zeilen von David Bowies Song „Space Oddity“ aus dem Jahre 1969 genügen, um den Bogen aus dem 20. Jahrhundert in archaische Zeiten zu schlagen. Wenige Zeilen genügen andererseits, um die Höhenflüge astronautischer Phantasien an den Wänden einer Blechdose zerschellen zu lassen, und dies führt auf den programmatischen Kern der Tagung: „Space Oddities“ nehmen die ‚schrägen‘, will sagen: unvertrauten, befremdlichen, grenzwertigen, sonderbar-komischen Räume in den Blick, die Odysseus ausschreitet und von denen er geformt wird. „Space Odisseys“ nehmen die Episoden in den Blick, die im narrativen Muster leicht zu Stationen einer planvollen Reise werden. Die Tagung widmete sich vorrangig der bildlichen Auseinandersetzung mit der Odyssee in der Moderne und Postmoderne und entfaltete dabei einen breiten Fächer von der Monumentalmalerei, der Reproduktionsgrafik und der Karikatur des 19. über die Malerei und den Film des 20. bis hin zum Comic des 21. Jahrhunderts.

Odysseus – Bezugsfigur

Wie eine monochrome Fläche zum Raum odysseischer Erfahrung werden kann, wies Thierry Greub (Köln) anhand von Barnett Newmans Gemälde „Ulisses“ von 1952 auf. Wer geglaubt hatte, dass es dabei lediglich darum ginge, Meer und Himmel, Rastlosigkeit und Verlorenheit, Sehnsüchte, Hoffnungen und Enttäuschungen im Assoziationsraum des Bildblau unterzubringen, wurde schnell eines Besseren belehrt: Odysseus wird Newman zum Katalysator eines Gestaltungsprozesses, in dem sich ästhetische und ethische Belange verschränken und verdichten. Die durch das Bild in Gang gesetzte Selbstbewusstwerdung soll, und zwar für den Künstler wie für die Rezipienten, in das Streben nach Selbstbestimmung und -vervollkomnung münden.

Odysseus im Blau des Himmels und des Wassers aufgehen zu lassen, erweist sich angesichts der charakterlichen Ambivalenz und der physiognomischen Blässe der Figur als überaus geschickter Schachzug Barnett Newmans. Erst wenn Odysseus das Wort ergreift – argumentierend, foppend oder auch seine eigene Geschichte erzählend –, wird er prägnant und interessant, und übermächtig werden seine Worte und Schreie im Widerhall der mit Widersachern besetzten Felsen und Höhlen.

Der belgische Künstler Antoine Wiertz präsentiert uns mit seinem um 1860 entstandenen und gebückt schon neun Meter hoch wachsenden Polyphem den neben den Sirenen zweifellos gewaltigsten von Odysseus‘ Widersachern, der, wie Semjon Dreiling (Gießen) zeigte, zur dramatisch- neobarock inszenierten Spiel- und Spiegelfigur des Künstlers wird. Für die von Stephanie Schlörb (Florenz) vorgestellten Brüder Giorgio de Chirico und Alberto Savinio blieb dagegen Odysseus die langjährige mythische Bezugsfigur. Neue Aufmerksamkeit erwächst dem Zyklopen im aktuellen Film und Comic. Der Bochumer Gräzist Arnold Bärtschi schickte seinem Beitrag über den Film „Im Bann des Zyklopen“ (2013) von Thor Freudenthal sowie den Comic „Der Zyklop“ („Ulysses 1781“, Bd. 2, 2015–17) von Xavier Dorison und Erich Hérenguel einen Abriss antiker Quellen voraus, aus dem Polyphem als keineswegs nur negativ gestempeltes Monster hervorgeht. Sein Einzelgängertum ist es vielmehr, das ihm zum Verhängnis wird. Damit scheint früh die Grundlage dafür gelegt, dass der antike Prototypus zur Thematisierung aktueller Themen wie Mobbing und Naturausbeutung herhalten kann. Der aktuelle Antico-Comic ist dabei, sich von illustrativen Aufgaben zu lösen und das parodistische Terrain hinter sich zu lassen. Oliver Moisich (Paderborn) bestätigte diesen Trend unter anderem am Beispiel von „ODY-C“ von Matt Fraction und Christian Wart aus dem Jahre 2013, in dem die homerische Heldenwelt einem gründlichen Gendering unterzogen wird. Der Begriff darf, ja muss sogar hier stehen, weil er anzeigt, wie diskursabhängig die aktuellen künstlerischen Entwicklungen sind.

Monadische Räume

Eines ist es, einzelne Episoden einer Geschichte darzustellen, zumal wenn es sich dabei um ikonographisch einschlägige Motive handelt, ein anderes, ein ganzes Epos zu behandeln. Ludwig Schwanthaler biss sich an genau dieser ihm von König Ludwig I. um 1830 gestellten Aufgabe die Zähne aus, wie Matthias Memmel (München) zeigte. Der Film und die darstellenden Künste warten dagegen mit erstaunlichen Lösungen auf.

Katrin Dolle (Gießen) fand in der Architektur oder besser in den gebauten Filmkulissen die Basis für eine wechselseitige Erhellung von Stanley Kubricks Film „2001: A Space Odyssey“ und Homers Epos. Minutiös gestaltete, für uns nicht verortbare Binnenräume bilden die Schauplätze, deren perfekte Ordnung durch menschliche Aktivität mehr gestört denn belebt wird. Doch was wären sie ohne den Akteur? Dieser ist seinerseits auf seinen Bordcomputer angewiesen, und so überrascht es nicht, dass die astronautische Hülle mit seinem Absturz zur Hölle wird. Mit einem Off-Scene-Blick des Untergehenden aber reißt Kubrick den kommunikationslosen Raum am Ende des Films auf – mit dem zwiespältigen Effekt, dass die auf den Kinosesseln Sitzenden förmlich in die Raumkapsel eingeschlossen werden, um gleichzeitig der wohligen Hülle des Kinoraums und der Leinwandillusion beraubt zu werden. Henry Keazor (Heidelberg) sprach Kubricks Odyssee die Irrfahrt rundweg ab und reklamierte diese für die von ihm vorgestellte, Mitte der 1970er Jahre entstandene italo-britische Science-Fiction Serie „Space 1999“. Nach mehrfacher erfolgreicher Begehung des Mondes, das leuchtet sofort ein, ist aus einer bemannten Raumkapsel allein kein monitorialer Thrill mehr zu schlagen. Doch genügt eine planetare Explosion, um den Angstpegel hochzusetzen. Nicht nur in vielen Details, auch in der seriellen Anlage erweisen sich die Gestalter der TV-Serie Kubrick verpflichtet.

Philipp Schulte (Frankfurt a.M.) stellte dem bildlastigen Reigen der Vorträge die Besprechung zweier aktueller Bühnenadaptionen aus dem Jahr 2018 zur Seite. Während Christiane Jatahy die feiernden Freier ins Zentrum von „Our Odyssee. Ithaca“ stellt und über sie die Partyglocke der Verdrängung stülpt, ist Leonardo Moreiras sechsstündige „Odisseia“ von Monologen bestimmt, die jedoch immer wieder unterbrochen werden. Bemerkungen, mit denen die Schauspielerin ihre multiplikative Funktion herauskehrt, werden durch Zwischenstücke unterbrochen, in denen das Publikum einbezogen wird: Im Wieder-und-Wieder-Erzählen formt und festigt sich die Geschichte, im interaktiven Spiel wird das Erleben des Protagonisten geteilt und beantwortet.

Seriell angelegte, filmische und performative Formate stellen, wie sich hier zeigt, Möglichkeiten bereit, die Makrostruktur des homerischen Epos modernen Medien anzuverwandeln. Die einzelnen Episoden werden gerade dadurch zum Ereignis, dass die Risse und Abgründe, die zwischen ihnen klaffen, nicht ausgeblendet werden.

Dreierlei ist als Ertrag am Ende festzuhalten:

Erstens: Der Visual Turn ist in der Klassischen Philologie angekommen, und die Bilderforschung hat ihrerseits die ikonologische Textfixierung erfolgreich abgestreift. Der Weg scheint frei für medienspezifische, kontextualisierende und historische Diskurse berücksichtigende Betrachtungen, an der Text- und Bildwissenschaften gleichermaßen Anteil haben.

Zweitens: Die Intensität der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Text ist geradezu überwältigend. Gut, es gibt Bildschöpfungen, die allbekannte Motive des Erzählkreises zum Gegenstand haben, und die homerische Odyssee selbst ist so sehr zum Inbegriff von Irrfahrt geworden, dass es keiner unmittelbaren Bezugnahme auf das Epos bedarf, um die darin liegende existentielle Problematik aufzurufen. Die Mehrzahl der vorgestellten Werke scheint ohne eine intensive Auseinandersetzung mit dem homerischen Epos jedoch nicht denkbar. Das gilt auch und insbesondere für den Film und den Comic. Die Trennung zwischen Kunst und als niedrigschwellig deklarierter populärer Kultur scheint vor diesem Hintergrund überholt.

Drittens und methodisch am wichtigsten: Dass der Mythos Fortschreibung verlangt, wissen wir seit Blumenberg und ist durch die Jaußsche Rezeptionsästhetik in die literatur- und bildwissenschaftliche Analytik eingegangen. Den Ursprungstext und die davon angeregten Werke als Ressourcen füreinander zu begreifen, um eine Formulierung der (Bielefelder) Wissenschaftsgeschichte zu borgen, ist etwas fundamental darüber Hinausgehendes, weil damit künstlerischen Werken ein hermeneutisches Potential für das antike Werk zugesprochen wird. Und nichts kann, so zeigte die Tagung, besser zur Feiung gegen normative Vorgaben beitragen.

Empfohlene Zitation:
Dr. Johanna Scherb: [Tagungsbericht zu:] Space Oddities. Die homerische Irrfahrt in den Bildkünsten (Institute für Kunstgeschichte und Klassische Philologie der Justus-Liebig-Universität Gießen auf Schloss Rauischholzhausen, 04.–06.04.2019). In: ArtHist.net, 17.05.2019. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/20876>.

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