REV-CONF Mar 27, 2019

Der digitale Blick. Mixed Methods in der Bildanalyse

ZeM – Brandenburgisches Zentrum für Medienwissenschaften, Potsdam, Sep 13–14, 2018

Report by Janna Kienbaum (Universität Potsdam), Paul Heinicker (Fachhochschule Potsdam)
Editor: Steffen Haug

Der digitale Blick: Mixed Methods in der Bildanalyse – quantitative versus qualitative Ansätze

[Tagungsbericht der Veranstalter]

Der Bildvergleich prägte sich seit Mitte des 19. Jahrhunderts als ein mediales Dispositiv heraus, das insbesondere mit Einsatz der Doppeldiaprojektion und der Fotografie als Reproduktionstechnik in die akademischen Kunstgeschichte Einzug hielt.[1] Heute steht der Bildvergleich in Anbetracht der Digitalität der Bilder und der ‚Bilderflut' im Netz vor neuen medientechnischen Möglichkeiten.

Als „intellektuelle Operation“[2] findet er zunehmend in computergesteuerten Rechenverfahren wie der Computer Vision oder dem Machine Learning Verwendung. Dabei stellt sich innerhalb der Digital Humanities die Frage, welchen „digitalen Blick“ diese computergestützten Methoden jeweils generieren und ob ein solcher, den David Marr als Informationen verarbeitendes System vom menschlichen Sehen abstrahiert, allgemein mit Ansätzen der Kunsthistorik zu kombinieren ist.[3] Was sind die Potentiale, worin liegen aber auch die Grenzen dieses digitalen Blicks, der aktuell einen Mehrwert im digitalen Bilderzeitalter zu suggerieren scheint?

Diesen und weiteren Fragen widmete sich am 13. und 14. September 2018 die Tagung „Der digitale Blick: Mixed Methods in der Bildanalyse – quantitative versus qualitative Ansätze“. Präsentiert und analysiert wurden neue Sichtweisen, die auch jenseits der Kunstgeschichte mit der Nutzung quantitativer Methoden sowie der Datenvisualisierung und ihres Machteinflusses einhergehen.

1 – Der getrübte Blick

Zum Auftakt präsentierte die Kunsthistorikerin Sabine Lang von der Computer Vision Gruppe der Universität Heidelberg die gegenwärtigen (Un-)Möglichkeiten einer Machine learning-gestützten Gestenerkennung am Beispiel des “Sachsenspiegels”. Lang stellte die quantitative Ähnlichkeitsmessung als eine Methode der effektiven Korpus-Klassifikation vor. Die automatische Erkennung der auf den Bildern dargestellten Gesten stellt eine Grundlage für die ikonographische Analyse dar, dies jedoch vor allem bei der Erkennung formal-ästhetischer Varianzen. Die überdies von ihr vorgestellte Methode des „Style Transfers“ bietet die Möglichkeit einer „generisch“ algorithmischen Stil-Imitation, indem Fotografien zum Beispiel in einen impressionistischen Stil überführt werden. Welche Möglichkeiten solche Verfahren für die Kunstgeschichte bieten, wurde diskutiert: Hier zeigte sich zum einen die Problematik der digitalen Medientechnologie und ihrer technischen Formalisierung hinsichtlich einer Verhärtung der Klassifikation und des klassischen Stil-Kanons in der Malerei sowie zum anderen die Erkenntnis, dass an Kunst geschulte digitale Methoden oftmals weniger über die Kunst selbst als vielmehr über die Methoden aussagen.

Inwiefern digitale Verfahren wie deep learning ein anderes Erkennen von Mustern im Vergleich zum menschlichen Kognitionsapparat ermöglichen, stellte der Psychologe Jochen Laubrock vor, der an der Universität Potsdam in der kognitiven Psychologie zu Modellierungskonzepten forscht. Er erläuterte sein Konzept der algorithmisierten visuellen Stilometrie im Sinne des distant reading bzw. viewing, der quantitativen oder statistischen Messung großer Text- und Bildmengen, am Beispiel von digitalisierten Comics, dem Graphic Narrative Corpus. Laubrock legte den Schwerpunkt auf die Vermittlung zweier black boxes: dem menschlichen Sehapparat und den neuronalen Netzen. Der Mehrwert des Trainierens eines Convolutional Neural Networks liegt laut Laubrock in der Klassifikation von Stilen bestimmter Comiczeichner, aber auch in der Offenlegung konzeptioneller Unterschiede von (menschlich-)kognitiver Wahrnehmung und algorithmisierter statistischer Analyseverfahren.

Beide Beiträge zeigten, dass geisteswissenschaftliches Forschen mittels Rechner-basierten Methoden insbesondere zu einer Fokussierung auf die Übersetzungsprobleme zwischen den Methoden anstatt zur Erforschung des eigentlichen Gegenstandes tendiert, da eine „qualitative Übersetzung“ der computertechnischen binären Strukturlogik nur begrenzt zu leisten ist. Dem „digitalen Blick“ wurde die potentielle Gefahr eines Methodenzentrismus diagnostiziert: Er ist somit immer auch ein latent getrübter Blick.

2 – Neue Blickrichtung(en)

Während der Tagung zeigte sich die Tendenz, auf diverse alternative bzw. veränderte Richtungen des „digitalen Blicks“ hinzuweisen und diese als Ergebnis der Bedingungen und Versprechungen algorithmischer Methoden kritisch in Frage zu stellen.

Professor Martin Warnke für digitale Medien und Kulturinformatik der Leuphana Universität in Lüneburg stellte den „verteilten Blick“ ins Zentrum seines Beitrags. Dieser gehe mit der Verwendung digitaler Technologien wie dem Smartphone und Social Media Diensten einher. Der verteilte Blick in Zeiten digitaler Vernetzung lasse gegenüber dem subjektiv individuellen ein gestreutes „Sehen“ zu. Er zeichnet sich nach Warnke durch eine „schiere Visualität“ aus. Der „digitale Blick“ bzw. das Datenbild samt Information unterliegt dann sensorisch den Algorithmen skalenfreier hoch-vernetzter Zentren wie der sogenannten FAMGA (Facebook, Apple, Microsoft, Google und Amazon), zu deren Analyseobjekt er wird. Er wird entsubjektiviert und unterliegt so spezifischen Hegemonien, die zu von Warnke so genannten „Blickbubbles“ führen.

Die Soziologin Bianca Prietl vom Institut für Soziologie der Technischen Universität Darmstadt erörterte dagegen den „digitalen Blick“ aus einer Technik-kritischen und feministischen Perspektive. Im Zentrum ihres Beitrags stand mithin eine übergeordnete Reflexion digitaler Methoden und ihrer Problematiken. So diagnostizierte sie das Funktionsprinzip riesiger Datenmengen, Big Data, als vorwiegend euro- und androzentrische, also weiße und männlich konzipierte Weltsicht sowie als Machtzentrum von Identitätszuschreibungen und Rationalitäts- und Objektivitätsvorstellungen.

3 – Der konstruierte Blick

Der Informationsgestalter und Datenjournalist Jonas Parnow beleuchtete die Frage nach dem „digitalen Blick“ quantitativer Verfahren aus Sicht der zeitgenössischen Visualisierungspraxis. Diese beschrieb er als visuelle Informationsaufbereitung im Sinne einer Datenrepräsentation, die der Aufbereitung von Inhalten für eine allgemeine Zielgruppe dient. Parnow definierte die Rolle der Datenvisualisierung als Vermittlung zwischen quantitativen und qualitativen Ansätzen. Beide Ebenen ließen sich in der Praxis des Datenjournalismus und des Informationsdesign nicht trennen. Parnow definierte den Sichtbarmachungsprozess von Daten als gleichzeitige Reduktion von Inhalten und betonte die Verantwortung von Gestalterinnen und Journalistinnen im Sinne einer noch ausstehenden data bzw. visual literacy. Daraus ließe sich auf eine dritte Kategorie an „digitalem Blick“ schließen, dem die kulturelle Bedingtheit und künstliche Konstruktion algorithmischer Methoden fest immanent ist.

Fazit – Filter statt Korpus

Die Tagung zeigte die Vielfalt der Fragen und der Gegenstandsbereiche von Projekten innerhalb der Digital Humanities auf, die primär mit digitaler Bildforschung befasst sind. Anhand derer ließ sich die Frage nach dem “digitalen Blick” quantitativer Methoden in drei Schwerpunktbereiche einteilen – den des methodenzentrierten getrübten Blicks, den alternativer Blickrichtungen als Kritik und Neubewertung bestehender techno-zentrischer Blickweisen sowie den eines konstruierten Blicks. Die Visualisierung von Daten kann hier als eine Rolle eines Vermittlers zwischen der algorithmisch-quantitativen und qualitativ-geisteswissenschaftliche Methode bezeichnet werden.

Der „digitale Blick“ ermöglicht zum einen den kritischen Umgang mit quantitativen Medientechnologien, der fragt, welche Instanzen hinter den Daten stehen oder welche Daten bewusst weggelassen werden. Zum anderen bewirken quantitative Technologien insbesondere in der Bildanalyse anstelle einer Fokussierung auf das kanonisierte Systematisieren bzw. Denken in Bildkorpora eine verstärkte Aufmerksamkeit auf den Prozess des Filterns von Daten, bei welchem standardisiere Begriffe wie Korpus, Stilkategorien und Klassifikation immer wieder in Frage gestellt werden.

Anmerkungen

[1] Heinrich Dilly: „Lichtbildprojektion – Prothese der Kunstbetrachtung“, in: Horst Bredekamp u.a. (Hg.): Kunstwissenschaftliche Untersuchungen des Ulmer Vereins, Verband für Kunst- und Kulturwissenschaften, Gießen 1975, S. 153–172.

[2] Felix Thürlemann: “Bild gegen Bild: ‘Für eine Theorie des Vergleichenden Sehens’“, in: Aleida Assmann, Ulrich Gaier, Gisela Trommsdorff (Hg.): Zwischen Literatur und Anthropologie - Diskurse, Medien, Performanzen, Tübingen 2005, S. 163–174, hier S. 176.

[3] David Marr: "Approaches to biological information processing”, in: Science, Bd. 190, 1975, S. 875–876.

Recommended Citation:
Janna Kienbaum (Universität Potsdam), Paul Heinicker (Fachhochschule Potsdam): [Conference Report of:] Der digitale Blick. Mixed Methods in der Bildanalyse (ZeM – Brandenburgisches Zentrum für Medienwissenschaften, Potsdam, Sep 13–14, 2018). In: ArtHist.net, Mar 27, 2019 (accessed Mar 29, 2024), <https://arthist.net/reviews/20481>.

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