Die beiden im letzten Jahr erschienenen Aufsatzbaende zum Ornament aehneln sich darin, dass sie das Thema Ornament durch alle Epochen verfolgen, sich sowohl mit dem angewandten Ornament als auch mit seiner theoretischen Reflexion beschaeftigen und interdisziplinaer angelegt sind. Sie unterscheiden sich aber sehr deutlich in ihrer Fragestellung: der von Frank/Hartung herausgegebene Band legt Wert auf den historischen Ueberblick, derjenige von Raulet/Schmidt betont einen gegenwartsbezogenen gesellschaftskritischen Anspruch.
Die Philosophen Gérard Raulet und Burghart Schmidt leiteten ueber zehn Jahre ein Forschungsprojekt, das bereits in den 1980er Jahren konzipiert und in franzoesisch-deutsch-oesterreichischer multiinstitutioneller Zusammenarbeit durchgefuehrt wurde. [1] Aus der Projektarbeit stammen theoretische und terminologische Vorgaben, auf die sich fast alle Beitraege des Bandes beziehen. Das Ornament wird ontologisch bestimmt als Parergon - Beiwerk, das sich zum Ergon, dem Hauptwerk, in einer hierarchisch untergeordneten Position befindet, jedoch nicht ohne Schaden von ihm abgetrennt werden kann. Die Synonymisierung von Ornament und Parergon beruft sich auf Vitruv und auf einen kurzen Abschnitt in Kants "Kritik der Urteilskraft", wo in der 2. Auflage die "Zieraten" auch Parerga genannt werden. 1978 hatte Derrida in "La verité en peinture" diese Bestimmung in die postmoderne Diskussion wieder eingefuehrt.
Zunaechst erscheint die These der Herausgeber durchaus fruchtbar, das ungleichgewichtige Verhaeltnis von Ergon und Parergon wuerde als instabiles und damit besonders bewegliches, empfindlich auf sich veraendernde gesellschaftliche Verhaeltnisse reagieren und koenne als Indikator fuer solche Veraenderungen betrachtet werden. Gerade am Parergonalen, als dem beilaeufigen, nicht im Zentrum der Aufmerksamkeit stehenden, solle eine gesellschaftskritische "Kulturphilosophie" ansetzen, die als umfassende Interpretation der Alltagskultur, der Warenwelt, der Sitten und Gebraeuche verstanden wird, sich also keineswegs auf visuelle Phaenomene beschraenken will. Problematisch ist die These dort, wo sie dazu einlaedt, die Relation von Ergon und Parergon auf eine Opposition von gesellschaftlicher Macht und Unterdruecktem zu verkuerzen, in der die herrschenden Diskurse als Ergon figurieren, das von ihr unterdrueckte als Parergon. So anspruchsvoll argumentierend das Vorwort sich gibt, so wenig ueberzeugen die meisten Beitraege des Bandes. Zum Teil erscheint die Auswahl der Gegenstaende allzu beliebig, vor allem aber werden kaum Versuche zu einer originaeren Phaenomenologie des Ornaments, des Parergonalen oder der Alltagskultur unternommen, sondern fast alle Autoren beschraenken sich auf die Exegese von Texten, insbesondere von kanonischen Texten der Theoretiker der Alltagskultur wie Walter Benjamin und Georg Simmel.
Zu den interessanteren Beitraegen zaehlt Roger Behrens' Beschaeftigung mit der Geschichte des Plattencovers. Unter Verweis auf Wolfgang Fritz Haug, Wolfgang Welsch und Benjamin versteht Behrens seine Arbeit als Beitrag zur Kritik der Warenaesthetik und zur Philosophie des Designs. Diskutiert wird das Problem der Verdinglichung der Musik zur Ware ebenso wie der daraus folgende Designaufwand, der von der Musik- industrie betrieben wird, um Musik mit einem Image zu verbinden, das sich in subkulturellen Abgrenzungsstrategien behaupten kann.
Heinrich Niehues-Proebsting beschaeftigt sich mit den Kleidermoden, geht allerdings einer empirischen Auseinandersetzung mit dem Gebrauch der Mode in der Gegenwart aus dem Weg und beschraenkt sich darauf, aus philosophischen Texten von der Antike bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts (naemlich aus Georg Simmels Essay ueber "Die Mode") Zitate zum Thema zusammenzustellen und zu paraphrasieren. Zusammenfassend stellt er fest, dass Nachahmung, Differenzierung und "das Neue" die "formalen Grundelemente der Mode" seien.
Dieses wenig sensationelle Ergebnis wird dadurch nicht aufregender, dass es in einem fuer diesen Band typischen Argumentationsschema gewonnen wurde: zunaechst wird feststellt, Mode wuerde von den Philosophen fuer ein philosophiefernes Thema gehalten, dann wird das Thema vor dieser behaupteten Ignoranz gerettet. So schreiben die Herausgeber im Vorwort: "Die systematische Philosophie missachtet grundsaetzlich das Ornament; ja sie ist es, die es zum bloss Parergonalen, Ueberfluessigen, gar Schaedlichen herabgesetzt hat und es nur insofern rehabilititierte, als sie es mit der unbedingten autonomen Schoenheit gleichsetzte. Die Kulturphilosophie laesst ihm im Gegenteil Gerechtigkeit widerfahren […]".
Weiterhin argumentieren die Herausgeber, dass sich seit dem 18. Jahrhundert die ornamentgenerierenden Ordnungen des Decorums mehr und mehr aufgeloest haetten und von "unterdeterminierten", "des- orientierenden" Formen des Labyrinthischen abgeloest wuerden. Vom Labyrinth wird einerseits als von einer "ornamentalen Struktur" gesprochen, andererseits ist es metaphorisch zu verstehen: vom "Ueberwuchern des Parergonalen ueber das Ergonale" ist die Rede.
Das Labyrinth als Ornament wird nur von einem Aufsatz behandelt, naemlich von Ursula Frankes Beitrag zur Gartenkunst im allgemeinen und das Heckenlabyrinth in Versailles im besonderen. Harald Lemkes Text "Die labyrinthische Sprechsituation - Zur Umwegigkeit des Sinns im Erzaehlen", referiert zwar zunaechst den Mythos von Minotaurus, der im von Daedalus erbauten Labyrinth gefangen gehalten wurde, verliert sich dann aber voellig in einer ausschweifenden Rede ueber das "witzige Erzaehlen". Die Lektuere dieses Aufsatzes ist - in gewisser Weise - durchaus erheiternd, wie sich vielleicht an folgendem Zitat ermessen laesst: "Angesichts des notwendigen Nachvollzugs und der unabwendbaren Gefahr des Sichverlierens im Erzaehlen drueckt sich in der Erleichterung des Lachens auch die Befreiung von der Unlust gegenueber der moeglichen Abwegigkeit und Unsinnigkeit des Erzaehlten aus. Als Ausdruck des Gelingens erweist sich demnach ueberhaupt erst im Lachen (der Beteiligten) die Witzigkeit des Erzaehlten. Das Lachen applaudiert gleichsam der Faehigkeit des Erzaehlenden, sich in der elementaren Lebenskunst bewiesen zu haben, erzaehlerisch umwegig Lebenssinn spinnen zu koennen. Wird also das witzige Erzaehlte von einem Lachen (der Zuhoerenden) begleitet, vergnuegen sich die Beteiligten mit Freude an der - allein erzaehlerisch gelungenen - Leichtsinnigkeit des Lebens."
Im Anschluss liefert Manfred Moser unter dem Titel "Die Eroberung des Labyrinths - Eine ont-oto-logische [sic] Diagnose" einen Essay ueber die Geschichte der Erforschung des Gehoers. Der durchgaengig ironische Ton laesst schliessen, dass der Autor selbst seinen Gegenstand nicht ernst nimmt. Die Auswahl desselben rechtfertigt sich ausschliesslich durch die ornamentale? oder labyrinthische? Form von Ohrmuschel und Gehoergang. Der Erkenntniswert tendiert gegen Null.
Gérard Raulets Aufsatz ueber die "Dialektik des Ornaments bei Walter Benjamin" geht von einer neuen Synonymisierung aus: "So wie aber alle Ornamente Phantasmagorien sind, sind umgekehrt alle Phantasmagorien in gewissem Sinn Ornamente". Die Mode sei eine solche Phantasmagorie, die fuer Benjamins Geschichtsphilosphie eine zentrale Bedeutung hat. Das Exposé zum Passagenwerk, "Paris, die Hauptstadt des 19. Jahrhunders" und andere Texte Benjamins unterzieht Raulet einer Lektuere, die diese Begriffe hervorhebt.
Gleichzeitig verweist er auf den parergonalen Charakter von Benjamins Schriften, die sich durch das Fragmentarische, Sammlerische, Skizzenhafte auszeichnen. Fuer Raulet ist Benjamin der Gewaehrsmann fuer seine eigenen These, die er im Vorwort und an anderer Stelle (vgl. Anmerkungen) ausgefuehrt hat: die problematischen Zustaende der Moderne kristallisieren sich im Umgang mit dem Ornament.
Man kann Raulet selbst keinen Mangel an analytischer Schaerfe vorwerfen, leider aber vielen Beitraegen des von ihm mitherausgegeben Bandes. Es ist bedauerlich, dass der an sich hochinteressante Anspruch, Untersuchungen zum Ornament mit gesellschaftskritischen Fragestellungen zu verbinden, so wenig eingeloest wurde. Dass von 15 Aufsaetzen (wobei drei Autoren jeweils gleich zwei Texte geliefert haben) genau einer von einer Frau verfasst wurde, der Beitrag von Ursula Franke ueber das Labyrinth im Landschaftsgarten, der zudem als einzig "klassisch" kunsthistorischer Aufsatz deutlich aus dem philosophischen Rahmen faellt, sei zuletzt kommentarlos angemerkt.
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Der von Frank/ Hartung herausgegebene Band resultiert aus einem 1998 in Potsdam veranstalteten Symposium "On Ornament", das gemeinsam vom Potsdamer Einsteinforum und dem Bard Graduate Center for Studies in the Decorative Arts abgehalten wurde. Erklaertes Ziel war "den spezifischen Entwicklungsgang der abendlaendischen Ornamentik von der Antike bis ins fruehe 20. Jh. hinein in grossen Zuegen nachzuvollziehen." - Diese bescheidenere heuristische Vorgabe erweist sich als die wesentlich tragfaehigere. Eine systematische Geschichte der Ornamentik wird nicht geliefert, sondern die Autoren beschaeftigen sich mit dem Status des Ornaments in verschiedenen Zusammenhaengen und Epochen und entwickeln dabei ihre je eigenen Theorien des Ornaments.
Alina Payne geht in der Betrachtung der Geschichte der Ornamenttheorien am weitesten zurueck. In ihrem Aufsatz ueber die Etablierung des Figurenplastik in der italienischen Architektur des cinquecento stellt sie dar, wie die Architekturtheoretiker der Renaissance die schon in Vitruvs "De architectura" angelegte Isolierung des Ornaments aus dem Funktionszusammenhang des Gebauten nutzten, um auf der Suche nach einem Regelwerk fuer die Anwendung der Ornamente die bereits ausgearbeiteten komplexen Theorien der Rhetorik auf die Architektur zu uebertragen. Das isolierte und autonomisierte Ornament kann als Zitat verwendet werden und damit die Architektur sich am zeitgenoessischen "imitatio-Diskurs" beteiligen.
Anne-Marie Sankovitch zeigt dann am Beispiel der Beschreibungen von Saint-Eustache (erbaut 1532-1640) in Paris, wie diese ueber Jahrhunderte eingeuebte Sicht auf das Bauornament als Schmuck, der der Konstruktion nur aufgesetzt ist, zu der durch das 19. und 20. Jahrhundert hindurch frappierend gleichfoermig formulierten Ansicht aller Beschreiber fuehrt, dass hier gotische Struktur mit klassizistischem Ornament verkleidet sei. Ausgehend von dieser Feststellung betreibt Sankovitch eine Diskursanalyse des Begriffspaars Struktur/Ornament.
Gérard Raulet, der auch in diesem Band mit einem Beitrag vertreten ist, entwickelt seine schon andernorts vorgetragenen Thesen [2] von der Ornamentik als Indikator fuer gesellschaftliche Veraenderungen um 1800, die auch fuer die oben vorgestellten Thesen des Parergon-Bandes erhellend sind. Seine Argumentation geht davon aus, dass Ende des 18. Jahrhunderts mit dem Ende feudaler Herrschaftsformen die Systeme der Repraesentation sich aendern. Die Ornamentik kann sich nicht mehr auf ein auf rhetorischen Traditionen beruhendes decorum beziehen, das Ornament wird sozusagen frei, neue Inhalte aufzunehmen. Die neuen Diskurse buergerlicher und nationaler Identitaetsbildung bemaechtigen sich des Ornaments als Bedeutungstraeger.
Mehrere Beitraege widmen sich der Geschichte der Ornamenttheorie im 19. Jahrhundert. Andreas Haus untersucht die Ornamenttheorien des 19. Jahrhunderts im Hinblick darauf, wie sie das Ornament als Ausdruck eines ueberbewussten kollektiven "Kunstwollens", eines Zeitstils interpretierten. Von den Romantikern bis zu Riegl und Woelfflin zeichnet er die Entwicklung einer Kunstgeschichte als Geschichte der Weltanschauungen nach, die sich deutlicher als im mimetischen Bild, an den dekorativen Formen nachweisen lassen.
Isabelle Frank fragt nach der Materialitaet bzw. Medialitaet des Ornaments. Ist es nur eine Oberflaechenerscheinung? Gibt es ein "reines" Ornament? Durch einen Vergleich der Illustrationen der Werke des britischen Ornamentsammlers Owen Jones und Alois Riegls zeigt sie, wie deren Theoriebildung auf der Isolation der Ornamente aus ihrem funktionalen Kontext bei Jones und bei Riegl auf der Abstraktion der ornamentalen Formen in zweidimensionale Linienzeichnungen beruht.
Im Gegensatz zum erstgenannten Band ist hier kein Beitrag zuviel und thematische Ueberschneidungen fuehren nicht zu Redundanzen, sondern zu gegenseitiger Beleuchtung der Thesen. Schade nur, dass das Vorwort des Bandes nicht das wagt, was von Raulet/Schmid immerhin versucht wurde: eine Zusammenstellung der im Band vorgetragenen Thesen unter einem zusammenfassenden Gesichtspunkt zu geben.
Die Lektuere beider Baende zeigt wie ergiebig eine Beschaeftigung mit dem Ornament sein kann. Dabei sind manche Fragen gar nicht angesprochen worden, z.B. wie es sich mit den Beziehungen von Ornament und Bild verhaelt? Ernst Gombrich hat mit seinem wahrnehmungspsychologischen Zugang zum Thema schon vorgearbeitet [3]. Angesichts der gegenwaertigen eifrigen Debatten um Bilder und den Bildbegriff koennte eine Fortfuehrung der Ueberlegungen zum semantischen Status des Ornaments diese Konjunktur nuetzen und ihr moeglicherweise auch neue Impulse geben.
[1] Michel Collomb, Gérard Raulet (Hrsg.): Critique de l'ornement; de Vienne à la postmodernité, Paris : Mèridiens- Klincksieck 1992. - Gérard Raulet, Burghart Schmid (Hrsg.): Kritische Theorie des Ornaments, Wien: Boehlau 1993. - Ursula Franke, Heinz Paetzold (Hrsg.): Ornament und Geschichte. Bonn: Bouvier 1996.
[2] Vgl. dazu auch den Aufsatz von Raulet "Ornament und Geschichte. Strukturwandel de repraesentativen OEffentlichkeit und Statuswandel des Ornaments in der AEsthetik des 18. Jahrhunderts", im oben zitierten von Franke/Paetzold herausgegebenen Band, S. 19 - 43.
[3] The sense of order. A study in the psychology of decorative art. Oxford: Phaidon 1979, dt. Ernst H. Gombrich: Ornament und Kunst. Schmucktrieb und Ordnungssinn in der Psychologie des dekorativen Schaffens, Stuttgart: Klett-Cotta 1982.
Raulet, Gérard; Schmidt, Burghart (Hrsg.): Vom Parergon zum Labyrinth. Untersuchungen zur kritischen Theorie des Ornaments, Wien [u.a.]: Böhlau Verlag 2001
ISBN-10: 3-205-99256-3, 288 S
Recommended Citation:
Sedlarz Claudia: [Review of:] Raulet, Gérard; Schmidt, Burghart (Hrsg.): Vom Parergon zum Labyrinth. Untersuchungen zur kritischen Theorie des Ornaments, Wien [u.a.] 2001. In: ArtHist.net, Sep 16, 2002 (accessed Nov 23, 2024), <https://arthist.net/reviews/202>.
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