REV 24.08.2002

Corinna Höper (Hg.): Giovanni Battista Piranesi

Rezensiert von Philipp Zitzlsperger, Universität Innsbruck
Redaktion: Claudia Sedlarz

In der Staatsgalerie Stuttgart fand 1999 eine umfassende Piranesi- Ausstellung statt. Unter dem Titel "Giovanni Battista Piranesi - Die poetische Wahrheit" wurden ueber 200 Radierungen des kreativen Bildarchitekten gezeigt, die einen repraesentativen Ueberblick nicht nur ueber die Dokumentation antiker Bauwerke, sondern zudem auch ueber Piranesis Architekturvisionen gaben. In diesem Zusammenhang fand am 25. und 26. Juni 1999 ein Symposium statt, das sich mit den Komponenten "Raum und Zeit" im Werk Piranesis beschaeftigte und dessen Ergebnisse nun in einer Druckfassung vorliegen. Sie ist eine wichtige, inhaltliche Ergaenzung zum Katalog der Ausstellung.

Die ersten vier Artikel des Tagungsbandes beschaeftigen sich mit den Architekturstichen und -zeichnungen Piranesis, die letzten drei dagegen versuchen die europaweiten Auswirkungen Piranesis zu beleuchten und ermoeglichen, wenn auch keine umfassende, so doch eine unter verschiedenen Aspekten instruktive und detailreiche Verortung des venezianischen Architekten in der Kunstgeschichte des 18. Jahrhunderts. Die Fragestellungen betreffen vor allem Piranesis architektonisches Raumverstaendnis, waehrend die im Titel so vielversprechend angekuendigte Komponente "Zeit" etwas zu kurz kommt - vorausgesetzt, dass man unter "Zeit" mehr versteht als nur die Klaerung umstrittener Datierungsfragen.

Mit scharfem, analytischem Blick zeigt Corinna Hoeper, dass Piranesis Kombination von Bild und Schrift in seinen Stichen nicht nur der nuechternen Dokumentation des Dargestellten dienen. Piranesi setzte das Medium Schrift in seinen Veduten, Architekturstichen, Frontispizen, Inizialen oder Schlussvignetten ausgesprochen strategisch ein und konnte damit sehr unterschiedliche Ziele verfolgen, die zwischen sarkastischer Kritik und verbildlichter Schrift changierten. Interessant ist dabei zu erfahren, dass Piranesi die Schrift nicht etwa einsetzte, weil das Bild kaum im Stande waere, allein theoretische Inhalte zu transportiern. Im Gegenteil: Bild und Schrift treten bei Piranesi gleichwertig auf und koennen sich in ihrer Paritaet geschwisterlich ergaenzen, aber auch bewusst in Konkurrenz zueinander treten, wenn Piranesi z.B. im Titelblatt zu seinen "Osservazioni sopra la lettere de M. Mariette" tuskische Saeulen vor den Text stellt, diesen teilweise verdeckt, um die Vorrangstellung der etruskisch-roemischen gegenueber der griechischen Kunst zu visualisieren.

Ebenso einfuehlsam geht Sabine Poeschel an die Werke heran, die in ihrem Beitrag Piranesis kuenstlerische Provenienz thematisiert und sich der Frage widmet, inwieweit die venezianische Tradition des Capriccio fuer ihn von Bedeutung war. Denn einerseits ist ja hinlaenglich bekannt, dass Piranesis Architektur-Veduten (z.B. die "Vedute di Roma") zur uebersteigerten Monumentalitaet neigen, dass seine Aufnahmen antiker Ruinen (z.B. Colosseum) nur bedingt dokumentarisch zu nennen sind, deren wesentlicher Raum- und Koerpercharakter erst durch Piranesis Korrekturen verstaendlich bzw. erklaert wird. Andererseits aber verlangt dieser Sachverhalt eine genetische Erklaerung, die Poeschel ueberzeugend im venezianischen Capriccio sieht, also einer Kombination der topographischen Vedute mit Versatzstuecken, Phantasiearchitekturen oder antiken Ruinen, die wie Requisiten ausgetauscht werden (z.B. Canaletto: Verrocchios Colleoni-Denkmal vor dem Colosseum, 1744, London, Privatbesitz). Daraus, so Poeschel, generiert die bedingt authentische, also vor allem in ihren Proportionen korrigierte venezianische Vedute, wie sie durch Francesco Guardi und Canaletto repraesentiert wird und schliesslich im Werk Piranesis kulminieren sollte.

Abseits jeder Authentizitaet stehen Piranesis Architekturphantasien. Sie sind bereits eingehend untersucht und in verschiedenen Ausstellungen thematisiert worden (vgl. v.a. A. Robinson: Piranesi: Early Architectural Fantasies. Chicago/London 1986), so dass viel Neues zu diesem sehr kennerschaftlichen Thema nicht zu erwarten ist. Trotzdem: Einen konzisen Ueberblick ueber die Entwicklung der Architekturphantasie gibt Joerg Garms, indem er anhand von aussagekraeftigen Beispielen (Pannini, Marieschi,Visentini, Bellotto) Charakteristika und Stilentwicklungen nachzeichnet und die praegenden real-architektonischen Vorbilder benennt. Andrew Robison kann dann doch mit Neuigkeiten fuer die nach 1661 gezeichneten, allesamt (bis auf eine) undatierten Architekturphantasien Piranesis aufwarten, indem er auch seine eigenen, bisherigen Datierungen der strittigen Zeichnungen revidiert. Von diesen spaeteren Zeichnungen sind drei Gruppen bekannt, wobei sich Robison auf die ersten beiden Gruppen aus den 60er Jahren konzentriert, um hier innerhalb des Jahrzehnts eine noch praezisere Datierung zu diskutieren.

Piranesis Einfluss auf die europaeische Kunst- und Architekturgeschichte ist beachtlich, zumal die Stichwerke des Venezianers wegen ihrer Vervielfaeltigung weite Verbreitung fanden. Positive Rezeption erfuhr Piranesis Werk bis nach Schottland, wie John Wilton-Ely betont. Nachgerade Robert Adam schwaermte bereits auf seiner Romreise (1755) von den suggestiven Veduten des Venezianers, die einen dermassen nachhaltigen Eindruck bei dem Schotten hinterliessen, dass Adams Ueberwindung des englischen Palladianismus ohne Piranesis Dokumentation des antiken Rom kaum denkbar waere. Aehnliche Reflexionen antikeverliebter Piranesirezeption sind bekanntlich bei John Soane und in der "Revolutionsarchitektur" von Claude-Nicholas Ledoux und Etienne-Louis Boulee festzustellen.

Insbesondere Piranesis Einfluss auf franzoesische Architekten betont Hans-Christoph Dittscheids Detailstudie: Anhand des Bauprojektes fuer ein Pavillon fuer Zarin Katharina II. (nie ausgefuehrt) von der Hand Charles De Waillys stellt Dittscheid den Bezug zu Piranesi her, der in seiner Beweisfuehrung nicht vollkommen ueberzeugt. Allein die Tatsache, dass Wailly in ganz anderen Zusammenhaengen auf Piranesi rekurrierte, reicht nicht aus, auch in der Pavillonplanung Piranesirezeptionen zu sehen. Die ausgesprochen unkonventionelle Idee, in der Mittelachse des Pavillions zwei Rundtempel als (halben) Peripteros und Monopteros hintereinander zu stellen und dadurch einen Doppeltempel zu schaffen, ist ohne Vorbild. Doch Eingangs- bzw. Gartenfassaden, die im Zentrum konvex hervorgehoben werden, waren gerade in der habsburgischen Palaisarchitektur und deren Entwuerfen in groesster Vielfalt variiert und durch Stichfolgen verbreitet (z.B. Fischer von Erlach). Dittscheid jedoch sieht diesen Zusammenhang nicht, sucht vielmehr nach Vorbildern in den zeitgenoessischen Rekonstruktionsversuchen roemischer Tempelanlagen, die jedoch im konkreten Fall mit Piranesi nichts zu tun haben.

Der letzte Aufsatz des Tagungsbandes von Klaus Jan Philipp beschaeftigt sich mit einem Stich aus Piranesis "Antichita di Cora" von 1764. Zu sehen ist ein gigantisches Zyklopenmauerwerk aus polygonalen, mannshohen und anschaulich tonnenschweren Steinquadern, die in ihrer Verfugung wie gewachsen und nicht wie gemauert erscheinen. Auf die Natur als Gebaererin von Architektur weist Piranesi im dazugehoerigen Text hin. Von dieser Beobachtung, die Architektur auch als wunderbares Naturgewaechs sehen zu koennen, fuehrt Philipp den Leser in einem Exkurs in die kuriose Welt der aufkommenden Geologie um 1800, mit dem Ziel, Piranesis Deutung der Natur als Architektin in einen geistesgeschichtlichen Zusammenhang einzuordnen. Ob allerdings Piranesis Hinweis auf die Naturarchitektur metaphorisch oder naturwissenschaftlich gemeint ist, geht aus dem Aufsatz nicht hervor, zumal sich der exkursorische Ausblick auf die Zeit nach Piranesi kapriziert. Das erste Beispiel handelt von Samuel Simon Witte und dessen Theorie von den Pyramiden als "Wirkungen von Vulkanen (...) und Zeugen einer gewaltigen, vor undenklicher Zeit vorgegangenen Umkehrung des Erdbodens" (1789). Das zweite Beispiel beleuchtet die Rezeptionsgeschichte der 1772 entdeckten Basaltsaeulen- Hoehle auf der Insel Staffa bei Schottland. Die Erhabenheit der Architektur als Analogie zur Erhabenheit der Natur, so die ueberzeugende Synthese von Philipp, ist der geistesgeschichtliche Hintergrund, vor dem die uebermenschliche Monumentalitaet in Piranesis Architekturstichen den Betrachter zu erschuettern vermag.

Der Stecher Piranesi, sein hohes und innovatives Kunstniveau und seine Ausstrahlung auf Zeitgenossen und folgende Generationen sind uns weitgehend bekannt. Details allerdings, wie sie dem Leser in dem Tagungsband begegnen, sind wichtige Ergaenzungen, die das Piranesibild schaerfen und die weitreichende Wirkung des Kuenstlers erst recht verstaendlich machen. Doch immer wieder, wenn es um die Verortung von Inspirationsquellen geht, die Piranesis Kunstproduktion beeinflusst haben koennten, bleibt der Blick auf Italien beschraenkt. Das ist nicht falsch, aber doch ein wenig unbefriedigend. Hier wuerde der Ausblick nach Europa das Piranesibild vervollstaendigen, wenn beispielsweise Fischer von Erlachs "Entwurf einer historischen Architektur" (1721), der wichtige Impulse fuer die europaeische Entwicklung der Architekturvedute gab (vgl. Oechslin: Bildungsgut und Antikenrezeption, 1972/ Reudenbach: Piranesi, 1979), in die Betrachtungen mit einbezogen wuerde.

Höper, Corinna (Hrsg.): Giovanni Battista Piranesi. Die Wahrnehmung von Raum und Zeit ; Akten des internationalen Symposiums Staatsgalerie Stuttgart 25. bis 26. Juni 1999 ; [... begleitend zur Ausstellung 1999 in der Staatsgalerie Stuttgart ...], Marburg: Jonas Verlag für Kunst und Literatur 2002
ISBN-10: 3-89445-301-X, 124 S

Empfohlene Zitation:
Philipp Zitzlsperger: [Rezension zu:] Höper, Corinna (Hrsg.): Giovanni Battista Piranesi. Die Wahrnehmung von Raum und Zeit ; Akten des internationalen Symposiums Staatsgalerie Stuttgart 25. bis 26. Juni 1999 ; [... begleitend zur Ausstellung 1999 in der Staatsgalerie Stuttgart ...], Marburg 2002. In: ArtHist.net, 24.08.2002. Letzter Zugriff 20.04.2024. <https://arthist.net/reviews/198>.

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