REV 03.07.2002

Carola Muysers: Das bürgerliche Portrait im Wandel

Rezensiert von Claudia Hattendorff

Carola Muysers' Frankfurter Dissertation von 1997 hat zum Ziel, die Rolle
des buergerlichen Portraets innerhalb einer spezifisch deutschen Moderne in
den letzten 40 Jahren des 19. Jahrhunderts zu analysieren, da, so einer
ihrer Ausgangspunkte, dieses quantitativ so bedeutsame Phaenomen in seiner historischen Wichtigkeit bislang nicht ausreichend gewuerdigt worden sei. Insbesondere in jenen Passagen, in denen die Autorin intensive Analysen einzelner Beispiele vornimmt, vermag die Arbeit zu ueberzeugen, doch ist die Vorgehensweise Muysers' auch im Grossen uebersichtlich und einleuchtend: der Gegenstand wird gemaess den Kategorien "offizielles" und "privates" Portraet zweigeteilt und innerhalb dieser beiden Teile chrono- logisch und nach Portraettypen und -gruppen geordnet vorgestellt.
Auf diese Weise werden im ersten Teil die "Portraitsammlung bedeutender
preussischer Maenner" in der "Koeniglichen National-Gallerie" in Berlin aus
den Jahren 1872-1896 sowie die von Franz Lenbach initiierte "Galerie
beruehmter Zeitgenossen" in ihrer Planungsgeschichte beschrieben und
einzelne Exponate eingehender besprochen. Im zweiten Teil wird eine auf
zeitgenoessische Kunstkritik rekurrierende Eroerterung einer spezifisch
deutschen Moderne in der zweiten Haelfte des 19. Jahrhunderts der
Untersuchung verschiedener Portraettypen - des "modischen Damenportraits" und des "realistisch aufgefassten Frauenportraits" sowie unterschiedlicher Auspraegungen des maennlichen Portraets, vor allem aus dem Kreis der bildenden Kuenstler selbst - vorangestellt. Muysers' Grundthese muss sich angesichts ihrer Gegenstandswahl und des zu untersuchenden Zeitraums zwangslaeufig auf eine produktive Beziehung von "moderner" Kunst und Buergertum, exemplifiziert am buergerlichen Portraet, beziehen. Muysers stellt diese Beziehung dadurch her, dass sie im Anschluss an geschichts- und kunstwissenschaftliche Erkenntnisse zum deutschen Buergertum und zu seinem Verhaeltnis zur Kunst im 19. Jahrhundert darauf verweist, dass Kunst fuer das Selbstverstaendnis des Buergertums eine Schluesselfunktion hatte und das buergerliche Subjekt im Bildnis "eine aesthetische Widerspiegelung" seiner selbst gesucht habe (15f.). Waehrend im Rahmen des offiziellen buergerlichen Bildnisses der aesthetischen Widerspiegelung gesellschaftlich-moralische Grenzen gesetzt seien, wie die Untersuchung der genannten Portraetgalerien erweise, so liesse sich eine solche Widerspiegelung in unterschiedlichen Aus- praegungen beim privaten Bildnis deutlich nachweisen und dabei insbesondere bei jenen Portraets, bei denen der Dargestellte Kuenstler- kreisen entstamme (18-19).

Problematisch an diesem Vorgehen ist weniger die Tatsache, dass die
Untersuchung der selbstreflexiven Portraets aus Kuenstlerkreisen die Gefahr
eines Zirkelschlusses bei der Suche nach den unterschiedlichen Verfahren
einer aesthetischen Widerspiegelung in sich birgt und daher die
Uebertragbarkeit der Ergebnisse auf das buergerliche Portraet insgesamt
fraglich scheinen koennte. Es sind vielmehr einige andere Punkte, an denen
eine Kritik an den Ausfuehrungen Muysers' ansetzen muesste. So scheint etwa der Begriff und die Vorstellung einer spezifisch deutschen Moderne nicht ausreichend problematisiert. Muysers zeichnet, wie gesagt, das, was eine deutsche Moderne des ausgehenden 19. Jahrhunderts ausgemacht haben koennte, mit Hilfe zeitgenoessischer kunstkritischer Aeusserungen nach. Eine historisch-kritische Bestandsaufnahme zur Modernitaet deutscher Kunst in den letzten Jahrzehnten des vorvergangenen Jahrhunderts unternimmt sie hingegen nicht. Eine gewisse Skepsis gegenueber ihrer aus den erwaehnten zeitgenoessischen Texten hergeleiteten Schlussfolgerung, dass sich die deutsche Moderne im Unterschied zur franzoesischen durch eine Art von durchgeistigtem Naturalismus auszeichne (121-125), ist daher angebracht. Dies gilt auch fuer ihren pauschalen Vergleich direkt mit der franzoesischen Kunst der Zeit, der sich ebenfalls nur auf der Ebene des zeitgenoessischen deutschen Schrifttums zur modernen Kunst bewegt und auf die Vertreter einer franzoesischen Portraetkultur wie Fantin-Latour, Manet oder Degas nicht naeher eingeht. Wuenschenswert waere auch gewesen, dass die Vorstellung eines nationalen Kunststils reflektiert worden waere, da gerade in der zweiten Haelfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland wie in Frankreich davon auszugehen ist, dass Kunstkritik und -geschichte sowie politische Ideologie hier in erklaerungsbeduerftiger und zu hinterfragender Weise definierend taetig gewesen sind. Zum anderen koennte man kritisch zu Muysers' Ausfuehrungen anmerken, dass ihre Untersuchung zum deutschen buergerlichen Portraet der zweiten Haelfte des 19. Jahrhunderts nicht in hinreichender Weise gattungs- und mediengeschichtlich argumentiert. Bemerkungen zu ersterem Problem- komplex finden sich so gut wie nicht, obwohl doch der "Aufstieg" des Portraets immer auch verbunden zu denken ist mit der Erosion einer klassischen Ordnung der Gattungen, wie sie sich seit dem 18.
Jahrhundert in der europaeischen Kunst bemerkbar machte. Interessant waere es gewesen, hier die spezifisch deutsche Situation im ausgehenden 19. Jahrhundert eingehender im Zusammenhang des buergerlichen Bildnisses zu untersuchen. Die durch das Aufkommen der Fotografie sich verschaerfende Medienkonkurrenz wird dagegen einleitend von Muysers angesprochen (13f.), doch legt sie die sich daraus ergebenden Probleme fuer eine im allgemeinen Sinne abbildende Malerei wie die Portraetkunst vielleicht etwas vorschnell durch ein fotografiekritisches Zitat von Max Schasler aus dem Jahre 1875 ad acta. Auch bei der Untersuchung derjenigen Bildnisse, die in direkter Auseinandersetzung mit fotografischen Portraetaufnahmen entstanden, wie etwa dem Portraet des Johann Strauss von Lenbach, wird dieser Problemkomplex nicht in hinreichender Weise thematisiert.

Trotz dieser kritischen Bemerkungen laesst sich festhalten, dass die Arbeit
von Muysers zum deutschen buergerlichen Portraet der Zeit von 1860 bis 1900 in ueberzeugender Kategorisierung ein Material praesentiert, das durch seine kuenstlerische Qualitaet ebenso wie durch seine historische Bedeutung als Selbstdarstellung einer immer einflussreicheren Gesellschaftsschicht eine
solche eingehende Betrachtung verdient. Dies gilt auch fuer die offiziellen
Portraetgalerien herausragender Persoenlichkeiten buergerlicher Herkunft,
die kuenstlerisch vielleicht weniger avanciert, kulturgeschichtlich aber von
grossem Interesse sind. Im Zusammenhang mit diesen von Muysers im ersten Teil ihrer Dissertation behandelten Bildnisfolgen sei abschliessend noch einschraenkend erwaehnt, dass auch hier eine staerkere Problematisierung der unterschiedlichen Interessen der an diesen Projekten beteiligten Parteien denkbar gewesen waere.

Muysers, Carola: Das bürgerliche Portrait im Wandel. Bildnisfunktionen und -auffassungen in der deutschen Moderne 1860 - 1900 (= Studien zur Kunstgeschichte), Hildesheim [u.a.]: Georg Olms Verlag - Weidmannsche Verlagsbuchhandlung 2001
ISBN-10: 3-487-11342-2, 392 S

Empfohlene Zitation:
Claudia Hattendorff: [Rezension zu:] Muysers, Carola: Das bürgerliche Portrait im Wandel. Bildnisfunktionen und -auffassungen in der deutschen Moderne 1860 - 1900 (= Studien zur Kunstgeschichte), Hildesheim [u.a.] 2001. In: ArtHist.net, 03.07.2002. Letzter Zugriff 28.03.2024. <https://arthist.net/reviews/196>.

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