REV Jul 25, 2002

Annette Hünnekens: Expanded museum

Reviewed by Alexa Färber

Die großen Ausstellungen der vergangenen zwei Jahre haben die Diskussion um die Ausstellungspraxis in eine breite Öffentlichkeit verlagert und zugleich stark polarisiert. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht die Frage nach dem Verhältnis von virtuellen und materiellen Realitäten als Ausstellungstechniken. Dies ist um so erstaunlicher, als keine der großen Ausstellungen in den letzten Jahren - sei es die Expo 2000 in Hannover, die "7 Hügel" oder "Theatrum Naturae et Artis" im Berliner Martin Gropius Bau - sich ausschließlich für eine der beiden Techniken entschieden hätte. Vielmehr sind alle Beispiele dafür gewesen, welche Möglichkeiten elektronische Medien bieten, um in die materielle Museumswelt einzugreifen und mit ihr zusammen neue, eigene Realitäten zu kreieren.

Das Spannungsverhältnis von materieller und virtueller Inszenierung in Ausstellungen untersucht auch die Literaturwissenschaftlerin Annette Hünnekens in ihrer im Jahr 2000 an der Universität Karlsruhe eingereichten Dissertation, die nun unter dem Titel "Expanded Museum. Kulturelle Erinnerung und virtuelle Realitäten" veröffentlicht wurde. "Expanded Museum" meint hier nicht nur die Integration elektronischer Medien in die Ausstellungspraxis - sei es für Ausstellungen oder bei der Archivierung zum Zwecke der Digitalisierung von Beständen -, sondern auch deren Nutzung für die Vernetzung von Museen bis hin zu ihrer vollständigen Verortung im elektronischen Raum.

Mit der Perspektive auf Informationstechnologie und das Museale rückt die Autorin das Verhältnis von Objekt und virtueller Realität, Institution und vernetzter Welt, Betrachter und Exponat ins Zentrum ihrer Untersuchung. Ein komplexes Reaktionsfeld, das mit einem Ausgreifen des Museums in den Alltag und seiner Konsolidierung einhergeht: "Das Wechselverhältnis der Musealisierung der Welt bei gleichzeitiger Medialisierung des Museums bringt es mit sich, dass gerade die Welt der Simulation eine Garantie für die kontinuierliche Relevanz der materiellen Welt darstellt" (S. 45).

Die Arbeit versteht sich als eine "Situationsanalyse" (S. 14), die in zwei Teilen zum einen eine wissenschaftsgeschichtliche Rückschau auf medientheoretische Überlegungen hält und zum anderen die Beschreibung eines status quo aktueller Formen virtueller Museen liefert. Auf dieser Grundlage formuliert die Autorin auch Perspektiven für eine Fortführung vielversprechender Einzelprojekte. Mit dieser doppelten Perspektive bietet das Buch, positiv gewendet, sowohl eine medientheoretische Kritik und Kontextualisierung des Phänomens Informationsgesellschaft als auch ein praxisorientiertes Kompendium virtueller Museen.

Unter dem Titel "Kulturhistorische Formen musealer Information" vermittelt der erste Teil der Arbeit einen medientheoretisch informierten, kulturhistorischen Überblick über die Bedingungen und Auswirkungen der Reproduktionsmedien auf die traditionelle Rolle des Museums als Hort - und Produzent - eines lokalen, kulturellen Erbes. In dieser kurzen Geschichte der Virtualisierung des Museums wird deutlich, dass zwar dessen Rolle ins Wanken geraten ist. Dennoch erfährt das Museum durch die Gegenüberstellung mit elektronischen Medien eine Konsolidierung: Dem Museumsort wird darin seine "Trägheit" vor Augen geführt, er erlangt "museale Weihe" und wird damit selbst zum Gegenstand der Musealisierung (S. 70). Das Verhältnis von Imagination und Museum ist allerdings nicht erst mit der Ausweitung der Informationstechnologien neu zu bestimmen. In den letzten Jahren wurden die Ähnlichkeiten zwischen den aktuellen Entwicklungen und dem Mouseion als Ort interdisziplinären Arbeitens häufiger thematisiert. Auch die Debatte um die strukturelle Bedeutung von Wissensordnungen trug dazu bei, die Ähnlichkeit zwischen frühen Formen des Sammelns und Ausstellens , wie den Kunst- und Wunderkammern, vor Augen zu führen. Aus heutiger Perspektive erscheinen sie dann als frühzeitige Miniaturen aktueller Wissensformationen. Diese Assoziation greift auch Hünnekens wiederholt auf und versteht die Vernetzung von Museen - das Metamuseum, das "die Welt der materiellen Museen als Welt der Magazine" wahrnimmt - als zeitgenössisches Pendant zu jenen Modellen: "Mit Hilfe dieser Magazine wird auf elektronischem Wege kommuniziert, wird Wissen verknüpft, generiert und auf vertraute, aber elektronisch beschleunigte Weise vermehrt." (S. 103)

Darüber hinaus weist sie auf historisch näher liegende Modelle imaginärer, virtualisierter Museen hin. So werden Paul Valérys Überlegungen zur Allgegenwärtigkeit des medialen Bildes (1928), Friedrich Kiesler und seine Correalistische Theorie, die das Prozessuale, Interaktive der Wahrnehmung beschreibt (1937) und schließlich auch André Malraux und das Konzept des "Imaginären Museums" (1947) als Vorläufer virtueller Museen diskutiert. Alle drei Entwürfe versuchen unter dem Eindruck der raumgreifenden Reproduktionstechniken dem Imaginären einen prominenten, theoretischen Ort im Verhältnis zum Museum zuzuschreiben.

Zwar weiß Hünnekens, dass die heutige museale Virtualität sich nicht direkt aus diesen Ansätzen ableiten lässt. Doch sie arbeitet Korrespondenzen heraus, die sie unterschiedlichen Formen der Virtualisierung des Museums zuordnet: So trifft sich der Typus des elektronischen Museums, das die Form einer audiovisuellen Abbildung und Gegenüberstellung von Objekten annimmt, mit dem Potential, das der Dekontextualisierung beim "Imaginären Museum" Malrauxs zugesprochen wird. Das virtuelle digitale Museum mit seiner Vermischung von virtuellen und realen Realitätsebenen assoziiert Hünnekens mit dem Gedanken der Korrelation bei Kiesler: Hier wie da entsteht das Exponat erst durch die Interaktion des Betrachters mit der Technologie. Die Allgegenwärtigkeit des medialen Bildes und der aus dem Überblick ermöglichte Zugriff auf Informationen finden sich dann im Netzmuseum wieder, das quasi ein Inventar für den Besucher bereithält, aus dem stets aufs neue eine Auswahl zu treffen ist (S. 72). Die vierte Form, die sie herausarbeitet, ist das traditionelle Museum, das Informations-Technologie als Ergänzung nutzt, mit dem eine Vielzahl von Kontexten des ausgestellten Objekts aufgerufen werden können - auch auf die Gefahr hin, dass das Objekt auf diese Weise verstummt und allein zum "Zeugen einer vergangenen Kommunikationskultur" wird (S. 55f.).

Wenn hier von einer vergangenen Kommunikationskultur die Rede ist, dann deshalb, weil die Autorin von einer grundlegenden Transformation hin zu einer Informationsgesellschaft ausgeht. Dieser Wandel wird nun im zweiten Teil plastisch. Hier befasst sie sich mit der Welt des Museumsmanagements als einem zentralen Anbieter von Informationen in der entstehenden Informationsgesellschaft. Der Prozess der Wertschöpfung, die Verteilung von Ressourcen und Funktionen, der Wettbewerb um Ressourcen, die Konstruktion des Konsumenten aus dem Individuum und der Status der Technologie erschließt sich hier unter der Überschrift "Vernetzte Formen musealer Expansion". Anhand der jeweiligen Konzeptionspapiere aus den Gründungsjahren (Ende der 80er Jahre, Anfang der 90er Jahre) werden das Ars Electronic Center, Linz (AEC), das Zentrum für Kunst und Medientechnologie, Karlsruhe (ZKM) und der InterCommunications Center, Tokyo (ICC) als die innovativsten Zentren für Medienkultur vorgestellt. Die im ersten Teil entwickelte Typologie virtueller Museen überträgt Hünnekens auf einzelne hier erprobte Ausstellungen. Beides verleiht dem Buch eine bis dahin kaum vorhandene Anschaulichkeit, und hat gleichzeitig einen nahezu lexikalischen Charakter.

Gerade das letzte Kapitel "Digitales Sammeln, Speichern, Bewahren" bietet einen umfangreichen Überblick über amerikanische und vor allem europäische Projekte, die sich der Entwicklung der technischen und konzeptionellen Grundlagen für virtuelle Museen gewidmet haben. Die Programmatik der EU Forschungsprogramme und der, wenn auch temporären, Institutionalisierungen internationaler Kooperationen zwischen Industrie, Forschung und Museumspraxis macht deutlich, mit wieviel finanziellem, bürokratischem usw. Aufwand im letzten Jahrzehnt eine Informationsgesellschaft erst hergestellt wurde. Das Globale, Transnationale drückt sich in diesen Projekten in Standardisierung, Administration und der Möglichkeit des Zugriffs auf die Datenbanken aus. Die Bestände und Objekte bleiben dabei lokal und spezifisch. Auch aus geopolitischer Perspektive ist dieser abschließende Überblick aufschlussreich: Die Globalisierung technologischer Errungenschaften und damit Kommunikationsmöglichkeiten bleibt beschränkt auf die EU und die USA und spiegelt das Szenario, das aus anderen Bereichen der Informationsindustrie bekannt ist. So bringt sie gleichzeitig eine Aufgabenverteilung mit sich, bei der die EU die Ressource "kulturelles Erbe" zu verwalten, zu sammeln und zu bewahren hat, um sie für eine gewinnbringende Kommerzialisierung aufzubereiten. Aus den USA werden dafür mit der Produktion von Distributionstechnologien die Grundlagen bereitet. "Alte und Neue Welt" erleben so gesehen eine durchaus fragwürdige, strukturelle Renaissance.

Neben der Analyse von Strategien, Konzepten und Institutionen, die jene Initiativen des Museums- und Ausstellungsbereich bestimmen, fragt die Autorin hier auch wieder nach den an diesem Feld beteiligten Akteuren. So zieht sich durch beide Teile gleichermaßen die Frage nach den "Besuchern" virtueller Museen und deren Zugriffsmöglichkeiten (Access) auf und in die Exponate. Das "Expanded Museum" geht mit der Vorstellung einher, dass das Virtuelle wie auch das Materielle des Musealen in die Handlungsfelder der Besucher eingreifen (50). Die technologisch erweiterte Möglichkeit der Interaktion - von der Auswahl, über das Hinzufügen von Informationen bis hin zu Formen der Interaktion, bei denen Besucher zu Autoren des Musealen werden - wird hier mit einem Gedanken der Emanzipation des Besuchers verbunden. Dies trifft sich mit Vorstellungen einer Netzdemokratie, die z.B. eine Teilhabe an der Konstruktion und Vervielfältigung eines kollektiven Gedächtnisses ermöglicht. Ein kollektives Gedächtnis, das in der Spannung zwischen einem einzigen, standardisierenden elektronischen Format und der Möglichkeit unzähliger unterschiedlicher Beiträge steht (S. 98). Radikalere Formen der Interaktivität erprobt die Medienkunst und zeigt dabei schon, was das virtuelle Museum noch erreichen muss, nämlich "eine Kompetenz zum Medienhandeln anzueignen, die zu multiplen Ansichten und Sehweisen befähigt" (S. 194). Denn, so die Autorin, besonders "in der televirtuell gegebenen Informationsdichte ist ein komplexeres und schnelleres Handeln im Austausch mit anderen gefragt" (S. 194).

Das virtuelle Museum als Multi-User-Plattform und aktualisiertes Mouseion hätte dann seine Aufgabe mit der elektronischer Medien getauscht: "Während sich die neuen Medien auf die klassische Aufgabe der Museen - Repräsentation, Vermittlung, Sammlung und Bewahrung des materiellen Kulturerbes - einlassen, scheinen sich die Museen die mediale Rolle von Kommunikationsräumen und Austauschplätzen einverleiben zu wollen, um selbst als Medium in einer Welt der Medien überleben zu können." (S. 52)

Beides, die vorwiegend als emanzipatorisch eingeschätzte Beteiligung von Besuchern an der Virtualisierung des Museums wie auch die Bedingungen der Globalisierung virtueller Museen hätten einer deutlicher kritische Betrachtung bedurft. Zum einen sind die Informationstechnologien in Hinblick auf die Machtverhältnisse, die sie hervorbringen, ambivalenter einzuschätzen als dies Hünnekens tut. Vor allem, weil hier enorme wirtschaftliche Interessen dem Versuch autonomer oder subversiver Handlungsformen gegenüber stehen. Zum anderen werden auch von Seiten der Ausstellungstheorie die zur Interaktion animierten Besucher nicht mehr nur als emanzipierte Akteure gesehen, sondern vielmehr als auf ihre Konsumentenrolle reduzierte Individuen, deren Handlungsspielraum nur im Rahmen konsumorientierter Auswahlmöglichkeiten liegt.[1]

Die unterschiedlichen Referenzrahmen des Buches, eine medientheoretische Geschichte der Kulturtechniken und eine Auswertung institutioneller Programmatik, führen leider nicht immer zu sich ergänzenden Perspektiven. Im Gegenteil: Beide Teile wiederholen Überlegungen und Ergebnissen, zum Teil sogar wörtlich. Aus ethnologischer Perspektive ist das Schlusskapitel das anregendste: Hier entfaltet sich eine europäische Kultur des Informationsmanagements, die Globalisierung als eine Herausforderung begreift, ein materielles kulturelles Erbe durch Virtualisierung verwertbar zu machen. Mit diesem Ausschnitt hat die Autorin einen zentralen Moment einer sich selbst produzierenden europäischen Informationsgesellschaft analysiert und festgehalten.

Anmerkung:
[1] Vgl. Sharon MacDonald u.a.: "Behind the Scenes at the Science Museum". Oxford, New York: Berg 2002.

Hünnekens, Annette: Expanded museum. Kulturelle Erinnerung und virtuelle Realitäten (= Schriften zum Kultur- und Museumsmanagement), Bielefeld: transcript Verlag 2002
ISBN-10: 3-933127-89-0, 268 S, EUR 25.80

Recommended Citation:
Alexa Färber: [Review of:] Hünnekens, Annette: Expanded museum. Kulturelle Erinnerung und virtuelle Realitäten (= Schriften zum Kultur- und Museumsmanagement), Bielefeld 2002. In: ArtHist.net, Jul 25, 2002 (accessed Apr 16, 2024), <https://arthist.net/reviews/194>.

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