In den letzten zwanzig Jahren, sind die frühneuzeitlichen Kontakte zwischen dem Osmanischen Reich und den Ländern unter der Herrschaft lateinisch-christlicher Fürsten vermehrt in den Fokus historischer und kunsthistorischer Forschung geraten. Entlang der zugrundeliegenden Prämissen lassen sich die entstandenen Arbeiten grob in zwei Kategorien unterteilen. Auf der einen Seite ein Durchdringungsmodell, das sich vor allem für die Zirkulation von Gütern, Kenntnissen und Akteuren interessiert und dabei nach beidseitigen kulturellen Anverwandlungen fragt.[1] Auf der anderen Seite ein Konfrontationsmodell, das vor allem kollektive Identitäten und die damit einhergehenden Aus- und Abgrenzungsprozesse thematisiert. Hier stehen frühneuzeitliche Begegnungen mit dem Osmanischen Reich unter der Perspektive von Selbstbildung sowie Feind- und Fremdbildkonstruktionen im Mittelpunkt.[2]
Karen-edis Barzmans Monographie „The Limits of Identity“. gehört eindeutig der zweiten Kategorie an. Der Kunsthistorikerin und Italianistin geht es in ihrer Studie vor allem um die venezianischen Abgrenzungsinszenierungen gegenüber dem osmanischen Reich und um die damit verbundene Herausbildung einer frühneuzeitlich-kollektiven ‚venezianità‘. Weit mehr als durch andere Nachbarn, so ihre Grundannahme, sei Venedigs kollektives Selbstbild durch Differenzinszenierungen gegenüber dem osmanischen Reich bestimmt gewesen.
Der originelle Ansatz der Autorin besteht dabei vor allem darin, dieser an sich wenig neuen Grundthese anhand eines ungewöhnlichen Themas nachzugehen. Barzman rückt vor allem Bild- und Textdiskurse um Enthauptungen in den Mittelpunkt und deutet sie konsequent im Horizont venezianischer Identitäts- und Alteritätskonstruktionen. Mittels detaillierter Text- und Bildanalysen gelingt es ihr zu zeigen, dass diese Praktiken in Venedig höchst unterschiedlich bewertet wurden. Je nach Kontext wurden sie mal als grausame und barbarische Akte osmanischer Gewalt- und Willkürherrschaft, mal als notwendige und gerechte Strafen innerhalb des venezianischen Gemeinwesens aufgefasst. Mit Blick auf Dalmatien und den Kampf der dort ansässigen ‚morlacchi‘ gegen die Türken wird abschließend die Ambivalenz venezianischer Alteritätskonstruktionen aufgezeigt. Methodisch unterfüttert werden diese Analysen durch poststrukturalistische Ansätze aus dem Bereich der Psychoanalyse (Lacan) und der französischen Literaturwissenschaft (Barthes).
Die Studie gliedert sich in fünf Kapitel, flankiert von einer strukturierend methodischen Einleitung und einer abschließenden, kurzen Synthese der Ergebnisse. Die umfangreiche Bibliographie bietet einen Überblick über aktuelle Forschung auch wenn die Literatur aus dem Bereich des Durchdringungsmodells merklich unterrepräsentiert ist. Der als ‚Early Modern‘ unscharf bleibende Untersuchungszeitraum erstreckt sich von der osmanischen Eroberung Konstantinopels (1453) bis zum letzten Drittel des 18. Jahrhunderts (Alberto Fortis „Viaggio in Dalmazia“, 1774), mit einem Schwerpunkt auf dem 17. Jahrhundert. Die 54 Schwarzweißabbildungen im Text und die 52 Farbtafeln im Anhang, stellen Bildmaterial zur Verfügung, das auch Kennern der Materie kaum vollumfänglich vertraut sein dürfte. Mit zahlreichen Einzelfallstudien, Nebeninformationen und detaillierten Beschreibungen richtet sich das quellenreiche Buch in erster Linie an ein Publikum, das mit der venezianischen Geschichte und Kunstgeschichte vertraut ist. Durch den umfangreichen und erklärenden Fußnotenapparat dürften sich aber auch Leser*innen mit anderen Interessensschwerpunkten zurechtfinden.
Die Stoßrichtung von Barzmans Forschung wird im ersten Kapitel besonders deutlich, in dem sie sich der frühneuzeitlichen Darstellung osmanischer Gewalt widmet. Dabei liegt ihr Schwerpunkt vor allem auf der Wahrnehmung venezianisch-osmanischer Grenzauseinandersetzungen in Dalmatien während des Krieges um Kreta (1645–1669). Ausgehend von Schilderungen einer Massenenthauptung bei der osmanischen Einnahme der dalmatinischen Festungsstadt Novigrad, fragt sie nach den intertextuellen Zusammenhängen dieser Nachrichten mit anderen Zeugnissen. Sie kann zeigen, dass die diplomatischen Meldungen, Briefe und Augenzeugenberichte vor allem auf einer Wiederholung älterer Gewaltschilderungen beruhten. Hier arbeitet die Autorin Parallelen zu den Nachrichten vom Fall Konstantinopels (1453) und der osmanischen Eroberung der süditalienischen Hafenstadt Otranto (1480) heraus. Darüber hinaus fragt sie nach den Einflüssen der Berichte auf die 1650 gegenwärtige Textproduktion. Dabei wird sie in Carlo Ridolfis 1648 publizierten Künstlerviten „Le maraviglie dell’arte overro le vite degli illustri pittori venetie dello stato […]“ fündig. Eine dort erstmals überlieferte Anekdote über Gentile Bellinis Aufenthalt am osmanischen Hof (1479–1480), die davon erzählt, wie Sultan Mehmed II. einem Sklaven vor den Augen des Künstlers den Kopf abschlagen ließ, um auf Darstellungsfehler bei der Wiedergabe eines Johanneshauptes hinzuweisen, deutet Barzman als Reflex der Berichte über die Massenenthauptung von Novigrad.
Im zweiten und dritten Kapitel diskutiert die Autorin Enthauptungen unter umgekehrten Vorzeichen und zeigt, wie das Köpfen als Strafe, in Darstellungen von Venedig als einem gerechten und wehrhaften Gemeinwesen einging. Barzman nährt sich diesem Thema aus unterschiedlichen Richtungen. In teilweise mit Nebeninformationen etwas überladenen Beschreibungen untersucht sie sowohl dessen räumliche, als auch symbolische, performative und rechtsdiskursive Aspekte. Das dritte Kapitel geht am Beispiel der Judith-Ikonographie dieser Selbstinszenierung in der visuellen Kultur Venedigs weiter nach. Dabei wird deutlich, wie sich im venezianischen Kontext in der Figur Judiths allegorische Bedeutungen aus Venezia und Justitia überlagerten. Vor allem venezianische Triumphinszenierungen nach dem Sieg über die osmanische Flotte in der Seeschlacht von Lepanto (1571), führten dazu, Holofernes als Judiths Widerpart mit dem türkischen Herrscher gleichzusetzen.
Im Zentrum des vierten Kapitels steht die venezianische Rezeption von Torquato Tassos 1574 vollendetem Kreuzzugsepos „Gerusalemme liberata“. Die herausragende Stellung, die dieser Text in Venedig einnahm, sieht Barzman in der dauerhaften Auseinandersetzung der Republik mit dem osmanischen Reich begründet. Die Kämpfe der Kreuzfahrer seien allegorisch mit den eigenen Kämpfen gegen die Türken gleichgesetzt worden und hätten das Epos im venezianischen Selbstbild verankert. Hier ist vor allem die Beobachtung der Autorin über die venezianische Vortragsweise des Epos erhellend. Als Wechselgesang zwischen Gondoliere von Boot zu Boot, durch Kanäle und über ganze Viertel hinweg gesungen, habe die Geschichte von der Befreiung Jerusalems die ganze Stadt durchdrungen und damit die Kreuzzugsgeschichte fast wörtlich mit dem venezianischen Stadtraum verwoben.
Die ansonsten selten thematisierte venezianische Wahrnehmung Dalmatiens und der in den dortigen Bergen beheimateten ‚morlacchi‘ bilden das Thema des fünften Kapitels. Die von Barzman beschriebenen Schwierigkeiten, die man in Venedig damit hatte, diesen Grenzbewohnern bildlich, begrifflich und administrativ Herr zu werden, runden die Analysen ihrer Monographie ab.
„The limits of identity“ ist ein Buch, das Fragen venezianischer Selbstbildkonstruktionen konsequent als frühneuzeitliche Abgrenzungsprozesse gegenüber dem osmanischen Reich beschreibt. Erst gegen dessen Charakterisierung als grausam-barbarisch und islamisch-despotisch, so die Kernthese der Autorin, habe sich die ‚serenissima republica‘ als gerechtes, christliches und republikanisch-gemeinwohlorientiertes Gemeinwesen in Szene setzen können. Mit dem von Barzman untersuchten Bild- und Textmaterial und dessen Fokus auf Gewaltdarstellungen erscheint diese Interpretation der Autorin zunächst durchaus plausibel.
Allerdings bedingen Forschungsparadigmen wie das Barzmans Studie zu Grunde liegende Konfrontationsmodell nicht nur die Deutung des untersuchten Materials, sondern stets auch dessen Auswahl. Mit dem Fokus auf Identitäts- und Alteritätskonstruktionen blendet Barzman die ökonomischen, dingkulturellen, persönlichen und politischen Verflechtungen zwischen Venedig und dem osmanischen Reich aus. Um nur ein Beispiel zu nennen: Im 15. und 16. Jahrhundert wurden zahlreiche für die venezianische Tuchherstellung benötigten Rohstoffe vom Bosporus nach Venedig importiert. Im Gegenzug gelangten neben anderen Luxusgütern auch aus diesen Rohstoffen eigens nach osmanischem Geschmack gefertigte Stoffe in das osmanische Reich. Zahlreiche Akteure bewegten sich im Rahmen dieser ökonomischen Verflechtungen mit großer Selbstverständlichkeit zwischen Venedig und dem Goldenen Horn, wodurch in keinem anderen Land unter lateinisch-christlicher Herrschaft die Kenntnisse über osmanische Eigenheiten so verbreitet waren wie in Venedig. Die zahlreichen Diplomaten, Reisende und Kaufleute aus dem osmanischen Reich, die sich in Venedig aufhielten, führten 1621 bekanntermaßen sogar dazu, dass in Venedig der ‚fondaco dei turchi‘ als Handelsniederlassung osmanischer Kaufleute eröffnet wurde.
Hier wäre es erhellend, hätte Barzman sich mit der Wahl ihres Themas nicht allein auf Abgrenzungsinszenierungen beschränkt, sondern auch untersucht, wie solche alltäglichen Kontakte mit dem osmanischen Reich in die frühneuzeitlichen ‚venezianità‘ einflossen. Gerade die verschiedentlich berichteten Gewaltausbrüche venezianischer Unterschichten gegen osmanische Kaufleute und die Reaktionen der Obrigkeiten darauf wäre vor diesem Hintergrund ein lohnendes Untersuchungsfeld gewesen.
Auch war das venezianische Selbstbild gegenüber dem osmanischen Reich nicht ausschließlich von Abgrenzungen bestimmt. Die gehäufte Anwesenheit osmanischer Beobachterfiguren in bildlichen Selbstdarstellungen Venedigs legen nahe, dass auch Venedigs Vertrautheit mit dem osmanischen Reich einen wesentlichen Teil der venezianischen Identität bildete. Bilder, wie beispielsweise die von Barzman selbst angeführten Holzschnitten Jost Ammans (91–93) und Matteo Paganos (86), zeigen Festumzüge des Dogen vor einem Publikum, in welchem osmanische Figuren eine herausgehobene Rolle spielten.
Umgekehrt freilich würde auch die Forschung, die sich mit den ökonomischen und materiell-kulturellen Verflechtungen und zwischen Venedig und dem osmanischen Reich beschäftigt davon profitieren, würde sie Differenzinszenierungen, wie sie in „Limits of Identity“ herausarbeitet werden, in ihre Forschung einbeziehen. Allzu oft werden angesichts der ökonomischen Verbindungen Befunde wie sie Barzman analysiert als bloß oberflächliche Rhetorik ohne historische Produktivkraft abgetan. Hier wäre ein Forschungsmodell wünschenswert, das Identitäts- und Alteritätsdiskurse mit Fragen kultureller Durchdringung zu verbinden wüsste.
Auch wenn man die kollektivierten psychoanalytischen Begrifflichkeiten Barzmans nicht teilen mag und den Fokus auf Alteritätsdiskurse bemängelt, eröffnet „The Limits of Identity“ viele neue Einsichten. Besonders der Blick auf Enthauptungen und die venezianisch-osmanischen Grenzstreitigkeiten in Dalmatien werden die Diskussion um die Verortung Venedigs im Mittelmeerraum bereichern.
[1] Z.B. Contadini, Anna; Norton, Clair (Hg.): The Renaissance and the Ottoman World. Farnham; 2013.
[2] Z.B. Höfert, Almut: Den Feind beschreiben. ‚Türkengefahr‘ und europäisches Wissen über das Osmanische Reich 1450-1600. Frankfurt am Main; 2003 und Harper, James G. (Hg.): The Turk and Islam in the Western Eye, 1450-1750. Visual Imagery Before Orientalism. Farnham; 2011.
[3] Dazu beispielsweise Faroqhi, Suraiya: Ottoman Textiles in European Markets. In: Contadini, Anna; Norton, Clair (Hg.): The Renaissance and the Ottoman World. Farnham; 2013. S. 231–244.
Barzman, Karen-Edis: The Limits of Identity. Early Modern Venice, Dalmatia, and the Representation of Difference (= Art and Material Culture in Medieval and Renaissance Europe; 7), Leiden: Brill 2017
ISBN-13: 978-90-04-33151-8, 389 p., Inhaltsverzeichnis
Empfohlene Zitation:
Nicolai Kölmel: [Rezension zu:] Barzman, Karen-Edis: The Limits of Identity. Early Modern Venice, Dalmatia, and the Representation of Difference (= Art and Material Culture in Medieval and Renaissance Europe; 7), Leiden 2017. In: ArtHist.net, 06.11.2018. Letzter Zugriff 25.11.2024. <https://arthist.net/reviews/19393>.
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