Das Sakramentstabernakel des 16. Jahrhunderts ist ein schwieriges Thema, das mitten in die Diskussion über die Auswirkungen des Konzils von Trient hineinführt. Trotzdem – oder gerade deshalb? – hat sich die Kunstgeschichtsschreibung dem modernen Tabernakel kaum zugewandt. Zwar gibt es einige ältere, mehr oder weniger theologisch ausgerichtete Arbeiten, eine wirklich umfassende Darlegung fehlte aber bisher. Diese Lücke will das vorliegende Buch schließen. Und um es gleich vorauszuschicken: Die Verfasserin hat die Aufgabe, die sie sich gestellt hat, glänzend bewältigt. Die bereits 2010 angenommene Bonner Dissertation zu italienischen Sakramentstabernakeln des 16. Jahrhunderts ist zudem angenehm zu lesen, wozu auch die leserfreundliche Verwendung der alten Rechtschreibung beiträgt.
Grundlage der Untersuchung sind die 68 im Katalog aufgeführten Tempietto-Tabernakel. Es sind einige prominente Objekte darunter, so vor allem das Tabernakel am Sakramentsaltar von S. Giovanni in Laterano in Rom. Die meisten andern Stücke, mögen sie auch in bedeutenden Kirchen stehen, werden aber normalerweise übersehen, denn die religiöse Bedeutung des Tabernakels verhält sich sozusagen umgekehrt proportional zu seiner kunsthistorischen Wertschätzung. Übrigens steht die Kunstgeschichtsschreibung nicht allein, denn auch die aktuelle Liturgiewissenschaft kann mit Tabernakeln wenig anfangen. Allerdings ist die Geringschätzung, die dieses zentrale liturgische Ausstattungsstück bisher erfuhr, in kunsthistorischer Hinsicht falsch, sind doch viele der von Claire Guinomet behandelten Objekte herausragende Kunstwerke, die undenkbar gewesen wären, wenn ihre Urheber nicht mit den Zentralbaugedanken des 16. Jahrhunderts bestens vertraut gewesen wären.
In nicht wenigen Fällen konnten bei Tabernakeln innovative künstlerische Lösungen verwirklicht werden, die in der Großarchitektur nicht ausführbar waren. Auf diese besonders bedeutenden Stücke hat sich der Verfasserin konzentriert. Ihr Katalog ist also, wie es nicht anders möglich gewesen wäre, von vornherein exemplarisch angelegt. Wie es die Forschungsgeschichte nahelegt, behandelt die Verfasserin Objekte aus Rom und Latium sowie aus den Marken, außerdem aus Florenz und der Toskana sowie aus Umbrien. Hinzukommen einige wenige Stücke aus anderen Regionen. Die überwiegende Zahl der Tabernakel hat sie in ihren jeweiligen Kirchen aufgesucht. Der Arbeitsaufwand war also erheblich, zumal viele Tabernakel heute noch ihre ursprüngliche Funktion erfüllen und nicht so leicht zugänglich sind wie ein beliebiger Seitenaltar.
Wie die Verfasserin am Beginn des inhaltlichen Teils herausstellt, hat sich der Typus des Tempietto-Tabernakels bereits im 15. Jahrhundert entwickelt. Dementsprechend widerspricht sie der beliebten Annahme, das moderne Tabernakel wäre mit gegenreformatorischen Bestrebungen in Verbindung zu bringen. Inwieweit es sich katholischen Reformbewegungen der vortridentinischen Epoche verdankt, wird sich nur schwer feststellen lassen. Es waren zweifellos mehrere Ursachen, die die allgemeine Verbreitung des modernen Altartabernakel begünstigten. In erster Linie handelt es sich um eine ausgemacht praktische Einrichtung, die es dem Zelebranten ermöglichte, direkt am Altar die heilige Kommunion zu spenden, ohne erst zum Wandtabernakel gehen zu müssen, was jedes Mal einen nicht unerheblichen liturgischen Aufwand bedeutete. Gleichzeitig boten die Altartabernakel günstige Voraussetzungen für die Verehrung des Altarsakraments. Und nicht zuletzt stellten sie einen gut sichtbaren zentralen Punkt dar, auf den hin die sich immer mehr vereinheitlichenden Sakralräume ausgerichtet werden konnten. Die Entstehung der modernen Wandpfeilerkirche und der architektonisch ausgebildeten Hochaltartabernakel gehören zweifellos zusammen.
Nachdem einleitend die Vorgeschichte treffend dargestellt wurde, behandeln weitere Kapitel die Durchsetzung des Tempietto-Tabernakels in der Toskana. Die Verfasserin zeigt sich in diesen Abschnitten als eine sehr gute Kennerin der Materie, die alle erreichbaren Quellengattungen auf kluge Weise nutzt. Ein zweiter Hauptabschnitt ist der Ikonographie gewidmet. Drei Hauptthemen werden dargestellt: Das Tabernakel als „Salomonischer Tempel“, als „Sepulcrum gloriosum“ und als „Kirche“. An dieser Stelle hätte der Rezensent, wenn er selbst das Thema zu bearbeiten gehabt hätte, größere Mengen frühneuzeitlicher Traktate geplündert, ohne aber zu grundsätzlich anderen Ergebnissen zu kommen. Claire Guinomet beschränkt sich hingegen auf die Sekundärliteratur, die die entsprechende Literatur bereits in handlicher Form darbietet. Trotz der zweifellos richtigen grundlegenden Einschätzungen hätten die ikonographischen Aspekte noch ein wenig stärker beleuchtet werden können. Das fängt bereits bei der Behandlung des Salomonischen Tempels an, den man sich im 16. Jahrhundert nur noch selten als Zentralbau vorstellte, wie am Ende des Jahrhunderts bzw. im frühen 17. Jahrhundert der Ezechielkommentar von Jerónimo de Prado und Juan Bautista Villalpando belegt. Bei den einzelnen Katalogeinträgen wird diese ikonographische Abstinenz wieder ausgeglichen, auch wenn auf ausführliche Interpretationen verzichtet wurde. Diese Zurückhaltung ist zweifellos durch die architekturhistorische Ausrichtung der Arbeit motiviert. Architekturfragen dominieren auch das folgende Kapitel, in dem das Formenrepertoire der Tempietto-Tabernakel ausführlich und sehr treffend vorgestellt wird. Sehr gut gelungen ist ebenso der letzte Abschnitt, der die Einbindung des Tabernakels in den Kirchenraum behandelt.
Auch wenn die Arbeit Claire Guinomets nicht allzu umfangreich ist, darf sie den Anspruch erheben, das Standardwerk zum Thema der italienischen Sakramentstabernakel des 16. Jahrhunderts zu sein.
Guinomet, Claire: Das italienische Sakramentstabernakel im 16. Jahrhundert. Tempietto-Architekturen "en miniature" zur Aufbewahrung der Eucharistie (= Römische Studien der Bibliotheca Hertziana; 38), München: Hirmer Verlag 2017
ISBN-13: 978-3-7774-2599-3, 240 S., EUR 88,00, Inhaltsverzeichnis
Empfohlene Zitation:
Christian Hecht: [Rezension zu:] Guinomet, Claire: Das italienische Sakramentstabernakel im 16. Jahrhundert. Tempietto-Architekturen "en miniature" zur Aufbewahrung der Eucharistie (= Römische Studien der Bibliotheca Hertziana; 38), München 2017. In: ArtHist.net, 09.03.2020. Letzter Zugriff 10.02.2025. <https://arthist.net/reviews/18693>.
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