REV 10.07.2018

Schriften: Friedrich Weinbrenner: Architektonisches Lehrbuch // Worte und Werke

Rezensiert von Anette Struck
Redaktion: Rainer Donandt
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Friedrich Weinbrenner (1766–1826), dem badischen Baudirektor im Vierteljahrhundert zwischen 1801 und 1826, sind von der Forschung Attribute zugeschrieben worden, die ihn zu einem ihrer Vorzeigeobjekte prädestinieren müssten: Wenn es um die maßgeblichen Vertreter des gebauten ‚Klassizismus’ in den deutschen Ländern geht, fällt in Überblickswerken sein Name sofort und in einem Atemzug mit dem Preußen Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) und dem Bayern Leo von Klenze (1784–1864), die schon fast einer späteren Generation angehörten. Um etwas über die Bausteine seiner Bedeutung zu erfahren, muss man in die spezifische Weinbrenner-Literatur schauen. Dort ist er als Prototyp des gebildeten Selfmade-Architekten und als Fixpunkt der in Rom versammelten Künstlergemeinde porträtiert worden, als beliebtester Ausbilder und Autor des einzigen Lehrbuchs in der deutschen Architekturszene seiner Zeit, als Verfasser der ersten deutschen Denkmalschutzverordnung, als Vordenker der Entwurfskategorie „Raum“, der Kulturlandschaft und der Regionalplanung. In seiner Habilitation „Friedrich Weinbrenner. Klassizismus und praktische Ästhetik“, München/Berlin 2010 war es vor allem Ulrich Maximilian Schumann, der diese Wege für die Forschung wieder- und neueröffnet hat.

Vereinzelt lassen sich Reflexe einer derart erneuerten und erweiterten Sichtweise in der übergreifenden oder vergleichenden Forschung ausmachen (z.B.: Marion Hilliges und Christian Scholl (Hrsg.), „Gilly – Weinbrenner – Schinkel. Baukunst auf Papier zwischen Gotik und Klassizismus“, Göttingen 2016). Der Weg zu einer grundsätzlichen Neubewertung scheint noch weit zu sein, selbst an seinem Dienstort und seiner Wirkungsstätte Karlsruhe. Der schwergewichtige Katalog der großen Ausstellung „Friedrich Weinbrenner. Architektur und Städtebau des Klassizismus“ von 2015 in der dortigen Städtischen Galerie umging in seinen Artikeln auffällig die neuen Themenvorschläge und zog sich auf althergebrachte Ansätze sowie regionale und marginale Themen zurück – bis hin zur Episode, als Weinbrenner sechs mittelalterliche Glasfenster an den Fürsten von Anhalt-Dessau vermittelte.

Es ist deshalb als zusätzlicher Nachdruck für eine Neubestimmung von Weinbrenners Rolle zu sehen, wenn derselbe Autor Ulrich Maximilian Schumann, heute an der Straßburger Universität lehrend, nun die grundlegenden Quellen in einer Edition von Weinbrenners Schriften vorlegt, die mit Hilfe eines DFG-Projektes zusammengetragen und wissenschaftlich bearbeitet worden sind. Sie sind in zwei Bänden in der Reihe „Friedrich Weinbrenner und die Weinbrenner-Schule“ des Fachgebiets Baugeschichte am Karlsruher Institut für Technologie erschienen: „Architektonisches Lehrbuch“ und „Worte und Werke“.

Welchen Gewinn also bringt diese Edition? Eine Frage, die heute eine doppelte Berechtigung besitzt, da mehrere Texte Weinbrenners online verfügbar sind – so ließe sich einwenden.

Dies trifft in erster Linie das „Architektonische Lehrbuch“, die über Jahrzehnte mit Weinbrenners erfolgreicher Lehre gewachsenen und aus eigenen und fremden Ansätzen synthetisierten Grundlage seines Unterrichts. Drei Teile erschienen – Heft für Heft – zwischen 1810 und 1825 im renommierten Verlag Johann Friedrich Cottas in Tübingen. Diese lassen sich in digitaler Form aus dem Internet abrufen, allerdings so lücken- und schadhaft, wie die wenigen erhaltenen Exemplare nun einmal sind. Schumann hat aus unterschiedlichen Kopien eine vollständige Version erstellt, die sämtliche Hefte, Tafeln und Corrigenda in leicht les- und erkennbarer Form zusammenführt.

Im Kontext werden so die Schlüsselstellen nachvollziehbar, aus denen Schumann Weinbrenners Sonderstellung als Theoretiker ableitete, am überraschendsten das Janusgesicht des Objektes als „Bedürfnisraum“ und „Formenraum“, die ein Architekt mit seiner Fertigkeit und allen denkbaren Hilfsmitteln in Einklang zu bringen habe und die am Anfang ähnlicher Theorien von Carl Bötticher, Gottfried Semper und anderen steht – und am Beginn der eigentlichen „Raum“-Diskussion.

Die wohl auffälligste Leistung aber dürfte zugleich die aufwendigste gewesen sein: Bislang existierten nur vereinzelte Hinweise (vor allem durch Klaus Lankheit) auf einen vierten Teil des „Architektonischen Lehrbuchs“ mit dem Titel „Die practische Baukunst“, der nie erschienen war, was zum Zerwürfnis mit dem Verleger Johann Friedrich Cotta führte. Die Umstände und Hintergründe hatte Schumann in seiner Habilitation ausgebreitet.

Hier nun rekonstruiert er den fehlenden Teil aus den Manuskripten, die in 65 Konvoluten seit fast zweihundert Jahren im Cotta-Archiv in Marbach liegen. Zur Illustration und gewiss auch zur Verdeutlichung, in welchem Zustand sich die Dokumente befinden, wird ein Abschnitt im Faksimile und einer zeichentreuen Mustertranskription abgebildet: bestoßen, ausgeblichen, voller Durchstreichungen und Einfügungen in unterschiedlichen Handschriften. Zudem änderte sich die geplante Reihenfolge der Texte im Lauf des Projektes, und von einigen existieren mehrere Versionen. Schumann fügt die verschiedenen Bestandteile, lange und kurze, ausgearbeitete und flüchtig niedergeschriebene, so zusammen, dass sie eine logisch aufgebaute Konstruktionslehre ergebenvon den „technischen Lehren der Holz- und Steinkonstruktion“ über die „perpendicularen Wände, horizontalen Gebälke und inclinirenden Dachungen“, die „verschiedenen Formen der Dachungen“, die „Fertigung und Constructionen ganzer Werksätze“, die „verschiedenen Bedeckungen der Dächer“, die „Brücken“, „Treppen und Brust-Geländer“, „Schreiner-, Glaser-, Blechner- und Schlosserarbeiten“, die „Steinconstruktionen überhaupt“ und die „Zerlegung der Gewölbe“ (Titel gekürzt). Dazu treten die dafür vorgesehenen Abbildungen, soweit sie im Cotta-Archiv vorhanden sind. Die Lücken schließen redaktionelle Überleitungstexte und Serien von sorgfältig gezeichneten und aquarellierten Lehrtafeln aus den Nachlässen von Schülern.

So wird es im Zusammenhang nachvollziehbar, warum die Fertigstellung dieses Teiles für Weinbrenner eine Herkulesaufgabe bedeutete, und andererseits, warum Cotta sie so sehnsüchtig erwartete. Denn aus den schriftlichen und bildlichen Erkundungen in die „praktische Baukunst“ entsteht eine lückenlose Dokumentation des gebauten Wissens, erstellt vom international angesehenen Experten für konstruktive Fragen, als der Weinbrenner galt: Sie umfasst nicht nur die unterschiedlichen Arten der Holzverbindungen und Mauerverbände, sondern auch alle dazugehörigen Elemente: Böden und Decken, Bögen, Türen, Treppen, Geländer, Fenster und Fensterläden, Wandvertäfelungen – bis hin zu Regenrinnen, Scharnieren und Nägeln. Eine Fundgrube für alle, die sich mit historischen Bauten und Bauteilen beschäftigen, aber zugleich mehr.

Eine Präferenz des ‚Klassizisten’ Weinbrenner für den einen oder anderen Stil lässt sich aus den Texten nicht herauslesen, und auch in den Bildern verbindet sich das überzeitliche Bauprinzip nur beiläufig mit erkennbaren Anspielungen auf z. B. antike Klassik, Renaissance oder Gotik, das Konstruktive mit dem Dekorativen. Jedes Element beschreibt und erklärt er aus einem „Bedürfnis“, das seine Form findet. Weinbrenner ließ es nicht dabei bewenden und bettete die Ausgangsmaterialien Holz und Stein in ihre natürlichen Ursprünge und ihr physikalisches Verhalten mit allein Vorzügen und Nachteilen ein. Alles wird auf seine Entstehung, Verwendung und Erhaltung betrachtet – so wie er es theoretisch im dritten Teil formuliert hatte.

Vervollständigt wird die Bearbeitung durch die Erklärung ihrer Regeln, einen Abriss der Editionsgeschichte des „Architektonischen Lehrbuchs“, sowie einen Katalog der erhaltenen Archivalien und ein Glossar der Begriffe und Namen.

Grundsätzlich setzt sich dieses Vorgehen im zweiten Band „Worte und Werke“ der Edition fort, denn auch dieser vereint gedruckte und handschriftliche Quellen, und wieder ist es eine Mischung aus bereits bekannten Texten und erstmals hier veröffentlichten Neuentdeckungen. Dabei handelt es sich hier um die verbleibenden Schriften Weinbrenners, geteilt in „Aufsätze“ und „Briefe“.

Entsprechend groß ist die Bandbreite an Textformen und Themen. Was sie verbindet, ist die Persönlichkeit eines offenkundig geselligen, neugierigen, gebildeten und beliebten Mitglieds der deutschsprachigen Kulturlandschaft jener Zeit.

In den Veröffentlichungen lassen sich Schwerpunkte ausmachen. Seine Bücher handeln naheliegenderweise von den eigenen Werken, dem Theaterbau und der schriftlichen oder baulichen Rekonstruktion antiker Architektur. Überraschender sind Artikel über vermeintlich abgelegene Themen wie die „Entstehung der Planeten“ oder die „Durchsichtigkeit des Glases“. Die eigentlichen Trouvaillen aber sind Aufsätze, die Schumann in Akten auffand und aus Manuskripten transkribierte, wie „Die Erbauung von Schulhäusern auf dem Schwarzwald“ (1815), „Ideen und Vorschläge zu einem allgemeinen bau- und feuerpolizeilichen Baugesetz“ (1819) und „Allgemeine Bemerkungen über den Gefängnisbau“ (1822). Im Kommentar liest Schumann aus den vordergründig technischen Anweisungen eine philanthropische, demokratische Haltung heraus und zitiert, wie Weinbrenner Partei für die mittellosen Bürger ergreift – die „dem Staat sehr nützliche vielleicht unentbehrliche Menschenklasse“.

Es erweist sich als typisch für Weinbrenner und in gewissem Maß für seine Zeit, dass uns hinter allen Dokumenten des Staatsarchitekten deutlich der Mensch entgegentritt. Umso mehr gilt dies naturgemäß für die Briefe. Es finden sich darin, nicht überraschend für ein Mitglied der Kunstwelt, Namen wie Goethe, Voß, Bertuch, Böttiger, Stieglitz, Heyne, natürlich Cotta und einige gekrönte Häupter. Für die Forschung interessanter aber sind vor allem diejenigen Briefe, in denen Weinbrenner seine Profession, die Architektur, auf verschiedenen Ebenen verteidigt, von denen zwei herausstechen. Wortgewaltig kämpft er gegen den Abriss historischer Baudenkmäler und die Entmachtung seiner Bauverwaltung an. So lässt sich hier nachlesen, wie es ihm gelingt, Bauten wie die spätgotische Stadtkirche von Emmendingen und die frühklassizistische Klosterkirche von Sankt Blasien zu erhalten und das erste, noch sehr kurze Denkmalgesetz der deutschen Länder zu erlassen, oder den Versuch der Verwaltung, sein Bauamt aufzulösen und ihm zwei Finanzfachleute an die Seite zu stellen, abzuwenden. Die dazugehörigen Briefe allein lohnten die Lektüre der „Worte und Werke“.

Weitere Entdeckungen und Erstveröffentlichungen von Text- und auch Bilddokumenten sprechen dafür, dass eine wesentliche Qualität dieser Schriftenedition eben in dieser Vielfalt liegt, die ein bedeutendes Architektenleben in seinen unterschiedlichen Facetten und aus erster Hand dokumentiert.

Für die Bearbeitung und Gestaltung der Texte bedeutete dies eine Herausforderung. Schmalspaltige Zeitschriftenartikel mussten in dasselbe Seitenformat gebracht werden wie die langen Zeilen großformatiger Folianten, und es mussten die Editionsregeln für die Handschriften und die Drucke harmonisiert werden. Die Großzügigkeit in Layout und Bebilderung fängt die Unterschiede auf. Typographische Mittel werden freier eingesetzt, um Gliederungsebenen klarer auseinanderzuhalten, als es in Fachbüchern üblich ist. Freilich können diese Maßnahmen nicht vollständig verdecken, dass es sich hier um unterschiedlichstes Material handelt und Kompromisse eingegangen werden mussten. So wurden aus der beruflichen Korrespondenz Weinbrenners nur solche Briefe aufgenommen, die über den normalen Baustellenbetrieb hinaus gehen und allgemein interessante Informationen enthalten. Die vollständige Wiedergabe hätte, wie in der Einführung ausgeführt wird, angesichts der detaillierten und noch zahlreich erhaltenen Bauvorgänge den Maßstab dieser Forschungsarbeit gesprengt. Diese Entscheidung, aus einer wissenschaftlichen Edition zugleich ein attraktives Buch in zwei Bänden zu machen, ist selten, aber angesichts Nachholbedarfs an Weinbrenner-Forschung nachzuvollziehen und zu begrüßen, dem sie zugleich eine Grundlage und Anknüpfungspunkte bietet.

Weinbrenner, Friedrich: Architektonisches Lehrbuch, berarb. v. Ulrich Maximilian Schumann, Bad Saulgau: Triglyph 2015
ISBN-13: 978-3-944258-03-4, 544 S., EUR 89.00, Inhaltsverzeichnis

Weinbrenner, Friedrich: Worte und Werke, berarb. v. Ulrich Maximilian Schumann, Bad Saulgau: Triglyph 2017
ISBN-13: 978-3-944258-05-8, 415 Seiten, EUR 69.00, Inhaltsverzeichnis

Empfohlene Zitation:
Anette Struck: [Rezension zu:] Weinbrenner, Friedrich: Architektonisches Lehrbuch, berarb. v. Ulrich Maximilian Schumann, Bad Saulgau 2015; Weinbrenner, Friedrich: Worte und Werke, berarb. v. Ulrich Maximilian Schumann, Bad Saulgau 2017. In: ArtHist.net, 10.07.2018. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/18601>.

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