REV-CONF 10.07.2018

Gezeichnete Evidenz auf kolorierten Papieren in Süd und Nord von 1400 bis 1650

Kolleg-Forschergruppe BildEvidenz - Geschichte und Ästhetik, Freie Universität Berlin, 22.06.2018

Bericht von Kerstin Godschalk, Berlin
Redaktion: Livia Cárdenas

Die Kolleg-Forschergruppe BildEvidenz der Freien Universität Berlin lud am Freitag, den 22. Juni 2018, zu der von Dr. Iris Brahms (Berlin/München) konzipierten Tagung „Gezeichnete Evidenz auf kolorierten Papieren in Süd und Nord von 1400 bis 1650” ein. Auf Basis medialer Dispositionen und materieller Begebenheiten ging man den ästhetischen Bedingungen und Effekten der Zeichnung auf farbigem Papier nach. Ausgehend von der „Prämisse, dass bildliche Evidenz als eine ästhetische Grundkategorie sowohl Verfahren der Repräsentation als auch die Erzeugung einer eigenen visuellen Präsenz einschließt”, werden die Zeichnungen hier „in der wechselseitigen Vermittlung von Wirklichkeitsbezug und Eigenwirklichkeit” in Hinblick auf ihre Semantik und Funktion analysiert.[1]

Iris Brahms stellte der Tagung den von ihr vorgeschlagenen Begriff der „Farbgrundzeichnung” voran, der den Papiergrund nicht mehr als ersten Vorbereitungsschritt versteht, sondern als charakteristisches Element der Zeichnung.[2] Sie umfasst sowohl solche auf „carta azurra“ (blauen Tonpapieren) als auch auf farbig grundierten Blättern, die neben Blau- und Grüntönen ab 1500 auch im nordalpinen Raum in weiteren Farben zur Anwendung kamen. Ausgehend von einer diskursiven Annäherung an die Frage der künstlerischen Phantasie und Gestaltungskraft baute sich die Tagung über eine chronologische Auseinandersetzung mit der Verwendung von farbigen Papieren in Italien zum Norden auf. Ziel war es, der Farbgrundzeichnung in ihrer Funktionsbreite und ihrem -wandel näher zu kommen und am Material dem bis heute am Intellekt orientierten disegno-Diskurs über eine Reflexion der Handfertigkeit zu begegnen und eine Reexaminierung dessen Begrifflichkeiten vorzunehmen.

Den Anfang machte Wolf-Dietrich Löhr (Berlin/Florenz) mit einer historischen Einbettung in das formgeschichtliche Verhältnis von disegno und inventio. Am Beispiel Lorenzo Monacos „Reise der Heiligen Drei Könige”(SMB, Kupferstichkabinett, Inv.-Nr.: KdZ 609) ging er der Frage der in dem Blatt zum Ausdruck kommenden künstlerischen Phantasie und damit seiner Funktion in Hinblick auf die Darstellungsabsicht nach. Der dunkle Grund entwickelt sich aus einer abstrahierten Lichthaltigkeit, betont das Kunsthafte und markiert eine doppelte Distanz. Die Zeichnung ist im Sinne Cennino Cenninis ein Ausdruck geistiger Entwicklung und nicht nur Wiedergabe von Sinneseindrücken.[3] In ihr zeigt sich die Handfertigkeit des Künstlers ebenso wie sein Imaginationsprozess. Steht der Braunton zwar in mimetischer Kohärenz zur Erde, ist ihm dennoch eine semantische Verdichtung inne, die die Bewegtheit und Bewegung des Motivs, das Streben zum erleuchteten Stern, als aktives Wirken der Phantasie materialisiert. Die Heilsgeschichte wird über den Aufstieg aus der Dunkelheit der Erde zum Licht mit einer realistischen Metaphorik ausgearbeitet.

Philippa Sissis (Berlin) brachte das Blatt funktionsgeschichtlich in Zusammenhang zum humanistischen Gelehrtentum. Ausgehend von der Modellierung der Fläche und der monochromen Verdichtung stellte sie über die inszenierte Materialität von Felsen eine Nähe zu Artefakten wie der Gemme des Dioskorides her, die sich analog aus der Fläche aufbaut. In Berührung mit dem Humanismus hätte Monaco in Santa Maria degli Angeli kommen können, einer unter Abt Ambrogio Traversari sich entwickelnden Netzwerkstelle von Humanisten. Impulsgeber für den bestechenden Farbeinsatz könnte hier demnach die Antikenrezeption sein, die sich in Hinblick auf eine implizite Adressatengemeinschaft materialisierte. Thomas Klinke (Köln) bestätigte aus restauratorischer Perspektive die Vermutung einer Sammlungszeichnung als persönlichem Andachtsbild und wies auf die von Leonardo da Vinci später geschaffenen Repräsentationszeichnungen als Vorlage für die Gestaltung solcher Steine hin.

Der zweite Teil der Tagung widmete sich der materialgeschichtlichen Auseinandersetzung mit der „carta azurra“. Chris Fischer (Kopenhagen) arbeitete anhand von konkreten Beispielen vor dem Hintergrund der künstlerischen Werkstattpraxis und regionalspezifischen Ausprägungen heraus, dass im Venezianischen dieses Papier auf Grund der Analogie zum atmosphärischen Raum in seiner malerischen Wirkung genutzt wurde und trotz ihrer Herstellung aus Arbeitslumpen zumeist als Repräsentationszeichnungen mit höherem Wert galt. Andererseits barg das Papier auch einen arbeitsökonomischen Aspekt: Als Packpapier war es nicht nur günstig, in seiner blauen Färbung stellte es ohne weiteres Zutun auch den Mittelton von Helldunkelzeichnungen bereit. Klinke erklärte das scheinbar paradoxe Verhältnis von minderwertiger Arbeitskleidung zu hochwertigen Zeichnungsgründen damit, dass das teilweise nachträglich und ohne Bleichen hinzugefügte Indigo die optische Minderwertigkeit des oft aus Mischfasern bestehenden Papiers verdeckte.

Armin Häberle (Rom) beleuchtete die Auswirkungen der Eigenschaften aus der Substanz anders farbiger oder eingefärbter Papiergründe auf die künstlerische Gestaltung und ihre Problemstellungen: Sie biete sich in ihrer Tonalität im Gegensatz zum rein-weißen Papier insbesondere zur Kontraststeuerung an, wie er anhand von Beispielen der zwei-Kreide-Technik von Simon Vouet eindrücklich ableitete. Die Farbgrundzeichnung kann demnach Mittler zwischen Licht und Dunkelheit sein und trägt zur harmonischen Gesamtdarstellung bei.

Iris Brahms drehte die Evidenzerzeugung um. Sie widmete sich der materialreflexiven Auseinandersetzung weißer Zeichnungen auf schwarz eingefärbtem Papier (Oberrheinisch, 15. Jh.) und schloss damit auch an die von Löhr bereits ausgearbeitete Vorstellung von künstlerischer Einbildungskraft an. In Bezug auf Klaus Krügers Definition der ästhetischen Evidenz, die die bildliche Sichtbarkeit über eine formgebende Ausstrahlungskraft als ästhetische Erfahrung aus dem Licht formt und ins Licht treten lässt,[4] arbeitete sie heraus, dass der Schatten die Voraussetzung für das Sehen ist, das zur künstlerischen Problemstellung avanciert. Über Musterbuchvorlagen hinaus, die als Vorbereitung auf Emaillearbeiten gedient haben könnten, hatten die Blätter aufgrund des diffizilen Herstellungsverfahrens wohl den Status von Preziosen. Vor dem Hintergrund biblischer Nachtszenen reflektieren sie die Grenzen der Wahrnehmung im Sinne einer Unergründlichkeit, die sie koloristisch dem Sujet angemessen semantisieren.

Daran anschließend beleuchtete Virgine D’Haene (Antwerpen) Landschaftskompositionen in den Niederlanden (16. Jh.), wo Feuer- und Sturm- sowie nächtliche Szenen dieses Interesse an Lichtphänomenen unterstützten. Die Frage der Funktionen der Blätter reicht von Kopien nach Malereien in der Tradition des Errera Skizzenbuches über Musterbuchblätter bis hin zu eigenständigen Zeichnungen. Die Farbgrundzeichnung entbehrt eindeutigen funktionalen Zusammenhängen zu Gunsten einer forschenden Auseinandersetzung im intimen Format. Sui generis drückt sich ein experimentelles Interesse aus, dass die Semantik des Kolorits jenseits der mimetischen Referenzialität vor allem auch in einem Wechselverhältnis zu anderen Medien erprobt.

Der abschließende Teil behandelte dieses bildproduktive Interesse, das sich aus den Werken selbst heraus semantisiert und letztlich in Rückbezug zur kunsttheoretischen Auseinandersetzung der Zeit diskutiert werden kann. Am Beispiel von Hendrick Goltzius’ chiaroscuro Holzschnitten um 1600 ging Elvira Bojilova (Florenz/Hamburg) der zeichnerischen Semantik von Glanzpunkten in der linearen Schraffur nach, um den Medienwechsel von Federzeichnung zur Druckgraphik in seinen gestalterischen und semantischen Auswirkungen, Synergien und Divergenzen nachzugehen und vor dem Hintergrund der geringen kunsttheoretischen Reflexion der Zeit zu reflektieren.

Vom Medienwechsel ging ein ästhetischer Reiz aus, der sich laut Huigen Leeflang (Amsterdam) auch in Hercules Seegers Werk wiederfindet, das von Experimentierfreude zehrt. Ausgehend von teilweise zufällig generierten, gestochenen Formen auf grundierten Papieren und Stoffen stellen seine Arbeiten gängige Einordnungen von Druckgraphik und Malerei in Frage. In aufwendigen und wiederholten Bearbeitungen entstanden „Printschildery” (gedruckte Malereien), experimentierte er mit Materialien und Techniken.[5] Auch hier war die Referenz die Naturlandschaft, jedoch spielte sie mit der Multiplikation des Referenten und ihrer künstlerischen Weiterentwicklung.

Für die Farbgrundzeichnung ist die Hybridität zwischen Zeichnung und Malerei signifikant. Dieses Wechselverhältnis findet in medienspezifischen Darstellungsverfahren Eingang und führt zur Erforschung der Mittel. Die Tagung hat deutlich gemacht, dass über eine formgeschichtliche Einbettung und eine darauf aufbauend materialreflexive Auseinandersetzung sich den funktionsgeschichtlichen Zusammenhängen fruchtbar genähert werden kann. Hierdurch ist auch der Brückenschlag zwischen Nord und Süd sowie über den Zeitraum von fast 300 Jahren gelungen, der spannende Entwicklungen nachvollziehen ließ, Entdeckungen bereit hielt und Zugänge schuf. Insbesondere wurde deutlich, dass eine enge Zusammenarbeit und Verschränkung von Kunstgeschichte und Kunsttechnologie äußerst produktiv für die Auseinandersetzung ist. Brahms hat ein Forum geschaffen, das spannende neue bzw. historische Perspektiven auf die Mittel wie das Medium aufgezeigt hat. Ihr Anspruch der Mehrstimmigkeit schuf einen fruchtbaren Rahmen für den Ausbau der persönlichen Forschungsansätze der Vortragenden und DiskutantInnen.

Anmerkungen
[1] Zit. n. www.bildevidenz.de (29.06.2018).
[2] Vgl. Iris Brahms, Zwischen Licht und Schatten. Zur Tradition der Farbgrundzeichnung bis Albrecht Dürer, Paderborn 2016.
[3] Vgl. Cennino Cennini, Il libro dell’ arte, Kap. 13.
[4] Klaus Krüger, Grazia. Religiöse Erfahrung und ästhetische Evidenz (= Figur. Ästhetik, Geschichte, Literatur, Bd. 5), Göttingen 2016, bes. S. 113.
[5] Samuel van Hoogstraten, Inleyding tot de hooge schoole der schilderkonst. anders de zichtbarere werelt, Rotterdam 1678, S. 196.

Empfohlene Zitation:
Kerstin Godschalk: [Tagungsbericht zu:] Gezeichnete Evidenz auf kolorierten Papieren in Süd und Nord von 1400 bis 1650 (Kolleg-Forschergruppe BildEvidenz - Geschichte und Ästhetik, Freie Universität Berlin, 22.06.2018). In: ArtHist.net, 10.07.2018. Letzter Zugriff 29.03.2024. <https://arthist.net/reviews/18594>.

Creative Commons BY-NC-NDDieser Text wird veröffentlicht gemäß der "Creative Commons Attribution-Noncommercial-No Derivative Works 4.0 International Licence". Eine Nachnutzung ist für nichtkommerzielle Zwecke in unveränderter Form unter Angabe des Autors bzw. der Autorin und der Quelle gemäß dem obigen Zitationsvermerk zulässig. Bitte beachten Sie dazu die detaillierten Angaben unter https://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/deed.de.

^