Michel Sittow darf als einer der herausragenden Vertreter der niederländischen Malerei um 1500 gelten, obgleich er sich nur sporadisch in Flandern und Brabant aufgehalten hat. Geboren um 1468/69 in Reval (Tallinn), entstammte er der tonangebenden deutschen Bevölkerung der Stadt, die sich aus Kaufleuten und Handwerkern zusammensetzte. Sein Vater Clawes (dok. 1454-1482) war Maler und Bildhauer, bei ihm dürfte Michel seine Lehre zu Beginn der 1480er Jahre absolviert haben. Bereits 1484 aber zog der junge Maler in das mehr als 2000 km entfernte Brügge und trat dort wahrscheinlich in die Werkstatt Hans Memlings († 1494) ein. Als begehrter Maler im niederländischen Stil reiste er sechs bis acht Jahre später auf die Iberische Halbinsel, wo er 1492 von Königin Isabella von Kastilien gegen ein hohes Gehalt als Hofmaler angestellt wurde. Um 1505 kehrte er in die Niederlande zurück und trat in den Dienst Herzog Philipps des Schönen, Isabellas Schwiegersohn. Erstaunlicherweise nahm er um 1506 wieder den Weg nach Reval, von wo aus er 1514 zum dänischen König nach Helsingør reiste, nur um 1515 wieder in den Niederlanden, bei Margarete von Österreich in Mechelen, zu weilen. Im Herbst desselben Jahres hielt er sich in Segovia auf, 1516 wieder in den Niederlanden. Gegen 1518 schließlich kehrte er endgültig nach Reval zurück, wo er als Maler – eventuell auch als Bildhauer, wie sein Vater – arbeitete und Ende 1525 starb.
Sittows Leben gibt damit ein erstaunliches Beispiel für die Mobilität, die Künstler im Spätmittelalter an den Tag legen konnten; es verknüpft Kulturkreise an entgegengesetzten Enden Europas, und es zeigt einen Maler, der im stadtbürgerlichen Handwerkermilieu ebenso zu Hause war wie an internationalen Höfen. Dass er schließlich, als offenbar gefragter Meister, der höfischen Welt den Rücken kehrte, um in seiner vergleichsweise abgelegenen Heimatstadt zu arbeiten, bleibt ein merkwürdiges Phänomen. Trotz all dieser höchst spannenden Aspekte und eines großartigen, wenngleich nicht umfangreich erhaltenen Oeuvres, dürfte Sittow außerhalb von Fachkreisen ein Unbekannter geblieben sein. Eine schmale Monographie von Jazeps Trizna und eine große, mit kritischen Werkkatalogen ausgestattete Untersuchung zu den niederländischen Malern am Hof Isabellas von Kastilien von Matthias Weniger liegen vor, doch in einer monographischen Ausstellung wird Sittow nun zum ersten Mal gewürdigt.[1] 22 überwiegend kleine Tafeln sind in Tallinn zu sehen (eine mehr als in Washington, Kat. 20), von denen 18 im Katalog Sittow selbst zugeschrieben werden; zwei freilich mit Fragezeichen (Kat. 1, Kat. 19). Gegenüber dem jüngsten kritischen Katalog von Weniger fehlen lediglich drei der dort als Arbeiten Sittows eingeschätzte Werke, die großen Altarflügel im schwedischen Bollnäs, die nicht transportiert werden können, sowie zwei Werke, deren Zuschreibung an Sittow oder an Juan de Flandes umstritten ist: Die heute auf Granada und New York verteilte Kopie von Rogier van der Weydens Miraflores-Altar und, eng damit zusammenhängend, ein 1496 von Isabella bei Juan in Auftrag gegebener Johannes-Altar für Miraflores, an dem Sittow laut Weniger mitgearbeitet habe. Somit präsentieren die Ausstellung und ihr Katalog das Werk in bemerkenswerter Dichte, den wesentlichsten Teil, die Bildnisse, sogar vollständig. Dass die Zuschreibungen in etlichen Fällen jedoch alles andere als einhellig sind, zeigt Wenigers Oeuvrekatalog, listet er von den 18 hier als Sittow gezeigten Stücken doch nur zehn als autographe Arbeiten auf. Die Ausstellung in Tallinn bietet somit eine einmalige Möglichkeit des direkten Vergleichs. Dieser wird durch die sehr gelungene Präsentation gefördert: In einem weiten Rund, das in einem für die Gemälde vorteilhaften dunklen Graugrün gestrichen ist, hängen alle Bilder in regelmäßigen Abständen nebeneinander, so dass der Betrachter sie bei jeweils gleicher, guter Beleuchtung studieren kann.
Wer nicht nach Tallin reisen möchte, findet alle Werke, oftmals mit Detailabbildungen, im Katalog in sehr guter Qualität abgebildet. Insgesamt ist diese Publikation recht knapp gehalten. Vier Essays gehen dem Katalogteil voran: Greta Koppel bietet einen Überblick zur Forschung und ihren Problemen, John O. Hand beleuchtet die Rolle von Hofkünstlern, Anu Mänd gibt eine sehr lesenswerte Darstellung von Reval (Tallinn) im Spätmittelalter, während Matthias Weniger einige kritische, stellenweise den Meinungen im Katalogteil widersprechende Anmerkungen zu Oeuvre und Karriere des Malers liefert. An manchen Stellen wäre eine etwas sorgfältigere Redaktion wünschenswert gewesen, etwa wenn ein Bildnis Isabellas von Portugal (S. 12) als Kopie eines 1450/60 von Jan van Eyck († 1441!) gemalten Originals bezeichnet wird.
Unter den Gemälden wird eine homogene, nicht umstrittene Kerngruppe leicht erkennbar. Zu ihr gehört die Himmelfahrt Mariens aus Washington von ca. 1500-1504 (Kat. 3), das am besten dokumentierte Werk des Künstlers. Farblich und malerisch weicht dagegen die hier als Pendant präsentierte Himmelfahrt Christi (Kat. 4, Privatbesitz) völlig ab; es dürfte sich um eine Kopie des späten 16. oder 17. Jahrhunderts handeln (ebenso Weniger, hier S. 29). Trotz des kleinen Formats von nur 21,1 x 16,2 cm entsprechen der Typus und die Durcharbeitung des Gesichts der Assunta der mehr als zehn Jahre später geschaffenen, erheblich größeren Jungfrau in Berlin (Kat. 12), der hl. Magdalena in Detroit (Kat. 10) sowie dem Bildnis einer Heiligen in Wien (Kat. 9). Weil die beiden zuletzt genannten zweifellos Rollenporträts darstellen, ist dieser Befund erstaunlich; noch verwunderlicher wird er angesichts der von Weniger (S. 72, Abb. 2) angeführten ganz ähnlichen hl. Magdalena aus einem Retabel in der Kathedrale von Toledo, das bereits um 1490 ausgeführt wurde und an dem, so Weniger, Sittow zu Beginn seiner spanischen Tätigkeit beteiligt gewesen war. Hat Sittow hier einen idealen Typus für Frauengesichter gefunden oder aufgegriffen, den er später nicht allein für Madonnen, sondern auch für Bildnisse verwendete? Oder sollten alle diese Werke eine bestimmte Person jeweils in der Rolle einer Heiligen zeigen? Virulent wird das Problem bei der Wiener Tafel, dem vielleicht großartigsten Werk von Sittow. Zweifellos muss sie als Porträt verstanden werden, wie schon die zeitgenössische Kleidung zu erkennen gibt. Der ungeheuer plastisch und zugleich zart modellierte Kopf ist beinahe frontal gegeben, doch ist die Haube leicht schräg aufgesetzt, woraus eine äußerst lebendige Wirkung entsteht, die mit den niedergeschlagenen Augen kontrastiert. Ein solcher Blick, unüblich für Bildnisse, korrespondiert indes mit dem zarten goldenen Nimbus der Frau: Hier ist eine Edeldame der Zeit in der Rolle einer demütigen Heiligen dargestellt. Da ein spezifisches Attribut fehlt, muss der zeitgenössische Betrachter durch das Erkennen der Porträtierten auch die gemeinte Heilige identifiziert haben. Problematisch bleibt die Benennung der Porträtierten, obgleich sie im Katalog zuversichtlich als Mary Rose Tudor, Schwester Heinrichs VIII. von England, bezeichnet wird. Zumeist war die Dame als Katharina von Aragón, Tochter Isabellas von Kastilien und spätere Gemahlin Heinrichs VIII. angesehen worden, bis Paul G. Matthews 2008 in ihr besagte Mary Rose erkennen wollte.[2] Beide Vorschläge sind indes bemerkenswerte Beispiele für die Persistenz einmal gemachter falscher Beobachtungen: 1915 hatte Max J. Friedländer die Identifizierung als Katharina von Aragón vorgeschlagen, indem er auf die großen „K“ (Katharina) und die angeblichen Tudor-Rosen in ihrer Kette hinwies sowie auf den Buchstaben „c“, der sich an ihrem Ausschnitt fände und der für Castilia, das Königshaus, stünde.[3] Trizna bestätigte dies, Matthews aber liest nun die „K“ als Kürzel für Karolus (den späteren Karl V.), mit dem Mary Rose zeitweilig verlobt war, und belässt es ansonsten bei den Tudor-Rosen. Tatsächlich aber gibt es in der Kette gar keine Tudor-Rosen (eine weiße auf einer roten Rose). Zu sehen sind vielmehr stilisierte weiße Rosen und rote Blüten mit spitzen, windradartig gebogenen Blättern – also keine Rosen. Trizna wies auf einige angeblich ähnliche Beispiele in Tudor-Handschriften des frühen 16. Jahrhunderts hin, doch zeigen diese tatsächlich stets Rosen mit ihren typischen breiten Blättern.[4] Weiße Rosen und rote Phantasieblüten ergeben also keinen Hinweis auf das Haus Tudor. Der Buchstabe am Ausschnitt der Frau in Wien schließlich ist kein „c“, sondern ein „e“, wie die Detailabbildung auf S. 69 des Katalogs klar erkennen lässt. Zudem spricht der Nimbus gegen Mary Rose, denn ein Rollenbild als Jungfrau Maria kann das Porträt angesichts der hochmodischen Kleidung unmöglich sein. Ohnehin fragte es sich, warum die englische Prinzessin exakt dieselben Gesichtszüge bekommen haben sollte wie die für spanische Auftraggeber gemalten Madonnen bzw. Magdalenen. Demgegenüber ist die traditionelle Identifikation mit Katharina von Aragón viel wahrscheinlicher: Das „K“ ergäbe Sinn bei einer Katharina, die in der Rolle ihrer Namenspatronin auftritt, das „e“ aber könnte für Elisabeth (= Isabella), die Mutter Katharinas von Aragón stehen. Weniger erwägt en passant (S. 36), dass hier Isabella selbst als junge Frau gemeint sei („K“ dann wohl: Kastilien), die Sittow gleichsam retrospektiv gemalt habe – er trat erst in Isabellas Dienste, als diese Anfang 40 war. Doch wie auch immer: Mary Rose Tudor ist sicher die unwahrscheinlichste Kandidatin für das Wiener Porträt. Damit entfällt zugleich jede Grundlage, Sittows engen Terminkalender durch eine Reise nach England im Jahr 1514 zusätzlich zu belasten.
Der genannten Gruppe an Bildern von schwesterlich sich gleichenden Gestalten lassen sich problemlos die Bildnisse eines jungen Mannes in Detroit (Kat. 2), das Porträt eines alten Mannes in Den Haag (Kat. 14) und das, historisch halbwegs gesicherte, Bildnis des dänischen Königs Christian II. von 1514/15 (Kat. 11) zugesellen. Alle übrigen Gemälde sind problematisch; in meinen Augen könnten aber, entgegen der Ansicht Wenigers, auch das arg mitgenommene Bildnis eines Bärtigen im Palacio Real in Madrid (Kat. 15) und das einer unbekannten Frau in Wien (Kat. 18) von Sittow stammen. Ausstellung und Katalog präsentieren zudem eine nächtliche Geburt Christi aus Upton House (Kat. 19), die nach einer Restaurierung besser zu beurteilen wäre. Ohne Zweifel aber ist es ein zauberhaftes Gemälde, das einige später bei Gossart auftauchende Helldunkeleffekte vorwegnimmt. Im Katalog Sittow mit Fragezeichen zugeschrieben, scheint es mir eine gewisse Verwandtschaft mit der gleichfalls köstlichen, in ihren Farb- und Lichteffekten bemerkenswerten Marienkrönung des Louvre (Kat. 6) zu besitzen, die früher durchweg als Sittow galt, in Wenigers Katalogeintrag nun aber einem anonymen niederländischen Meister gegeben wird. Eine als Sittow geführte Kreuztragung aus Moskau (Kat. 20) hat in meinen Augen wenig mit dem Künstler zu tun.
Wie diese knappen Bemerkungen deutlich machen sollten, bieten Ausstellung und Katalog wunderbare Möglichkeiten, Sittows Werke nicht allein zu genießen, sondern sie durch Vergleich und kritische Auseinandersetzung mit Forschungsmeinungen auch besser kennenzulernen. Ein Besuch der Ausstellung in Tallinn lohnt unbedingt.
Anmerkungen
[1] Jazeps Trizna: Michel Sittow. Peintre revalais de l’école brugeoise, Brüssel 1976. Matthias Weniger: Sittow, Morros, Juan de Flandes, Kiel 2011.
[2] Paul G. Matthews: Henry VIII’s Favourite Sister? Michel Sittow’s Portrait of a Lady in Vienna, Jahrbuch des Kunsthistorischen Museums Wien 10, 2008, S. 140-149
[3] Max J. Friedländer: Ein neu erworbenes Madonnenbild im Kaiser-Friedrich Museum, Amtliche Berichte aus den Preußischen Kunstsammlungen 36, Nr. 9, 1915, S. 179-183.
[4] Trizna 1976, S. 32, Anm. 1.
Hand, John Oliver; Koppel, Greta (Hrsg.): Michel Sittow. Estonian painter at the Courts of Renaissance Europe, Washington, D.C,Tallinn, New Haven, London: Yale University Press 2017
ISBN-13: 978-0-300-23286-8, 128 S.
Recommended Citation:
Stephan Kemperdick: [Review of:] Michel Sittow: Estonian Painter at the Courts of Renaissance Europe (National Gallery of Art, Washington, Jan 28–May 13, 2018). In: ArtHist.net, Jul 8, 2018 (accessed Oct 15, 2024), <https://arthist.net/reviews/18593>.
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