REV 22.03.2002

Aby Warburg: Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg

Rezensiert von Tilmann von Stockhausen
Redaktion: Rainer Donandt
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Aby M. Warburg hat nur eine relativ kleine Zahl gedruckter Werke hinterlassen, zumeist handelt es sich um thematisch sehr dichte Aufsaetze, die seinen kulturwissenschaftlichen Ansatz, aber auch sein sehr breites Interesse widerspiegeln. Um so mehr interessiert sich die Forschung fuer die unvollendeten und ungedruckten Zeugnisse seiner Arbeit. In einem ehrgeizigen Unternehmen des Akademie-Verlags sollen auch diese Schriften erschlossen werden. Erschienen sind mittlerweile ein Nachdruck saemtlicher Aufsaetze Warburgs, die 1932 bei Teubner in Leipzig herausgekommen waren, der Bilderatlas Mnemosyne und das Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg. Zunaechst fuer die Gesammelten Schriften gar nicht vorgesehen, erweist es sich nunmehr als eine der interessantesten und vielleicht lesenswertesten Schriften aus dem Nachlass.

Das Bibliotheksjournal wurde nicht allein von Warburg gefuehrt, sondern diente zur internen Kommunikation zwischen Warburg und seinen beiden Mitarbeitern Gertrud Bing und Fritz Saxl. Mit dem Einzug in den Neubau der Bibliothek Warburg in der Heilwigstrasse 116 (Hamburg) im Jahre 1926 setzt dieses Journal ein, das dann bis zu Warburgs Tod 1929 insgesamt acht handschriftliche Baende fuellte, die sich im Londoner Warburg Institute erhielten. Der Forschung bekannt, tauchten in der Literatur ueber die Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg hin und wieder einzelne Zitate auf. Am Hamburger Institut fuer Kunstgeschichte nahmen sich Karen Michels und Charlotte Schoell-Glass der harten Transkribtionsarbeit an; vor allem Warburgs Handschrift ist wegen zahlreicher Abkuerzungen und Wortspielereien nicht immer leicht zu entziffern.

Neben alltaeglichen Berichten aus der Bibliotheksarbeit, beispielsweise Notizen ueber Neuanschaffungen oder ueber die permanenten Umraeumaktionen, geben die Eintraege des Journals vor allem Zeugnis von den Forschungen Warburgs. Allerdings werden im Journal keine grossen Diskussionen durchgefuehrt; statt dessen addieren sich viele kleine Hinweise und Notizen zu einem Bild von der Aktivitaet der Bibliothek und machen deutlich, dass es sich im eigentlichen Sinne eben um ein Forschungsinstitut handelte. Breiten Raum nimmt die Arbeit am Bilderatlas ein. Als Warburg 1928 mit Gertrud Bing nach Italien reiste, um dort die Arbeiten an dem Atlas fortzusetzen, nahm Warburg das Bibliotheksjournal einfach mit und machte es zum Reisetagebuch.

Zurueckhaltung laesst sich auf Seiten Fritz Saxls erkennen. Ohne Zweifel waren ihm die Eintragungen in das Tagebuch laestig, immer wieder muss er von Warburg ermahnt werden, ueberhaupt dort Rechenschaft abzulegen. Waehrend des Sanatorium-Aufenthalts Warburgs hatte Saxl die Bibliothek alleine geleitet und auch den Prozess der Institutionalisierung vorangetrieben. Nach seiner Rueckkehr musste er wieder in das zweite Glied treten. Seine verstaerkte Reisetaetigkeit deutet daraufhin, dass er der Hamburger Bibliothek gerne entflohen ist.

Obwohl die Herausgeberinnen einen ueberaus reichen Schatz an Quellenmaterial dem Leser zur Verfuegung stellen, bemuehen sie sich in der knappen Einfuehrung um Zurueckhaltung; keinesfalls soll Kritisches an der Vaterfigur einer modernen Kunstwissenschaft geaeussert werden. Die naheliegende Vermutung, dass dem Bibliotheksjournal auch eine Kontrollfunktion zu kam, wird nur angedeutet. Gertrud Bing und Fritz Saxl mussten taeglich Rechenschaft ueber ihr Tun geben, das Verruecken von Buechern notieren und die Reaktionen von Besuchern festhalten. Diese pedantische Akribie hat uns eine herausragende Quelle beschert, sie ist aber auch trauriges Zeugnis davon, wie Warburg sich im Detail verzettelte. In der deutschen Kritik wird auch dies nicht gesehen, vielmehr bedient man sich emphatisch der amuesanten Aphorismen, die Warburg mit spruehendem Geist in das Bibliotheksjournal notierte. Mit Interesse liest die Wissenschaftswelt auch, wie Warburg die Besucher der Bibliothek - meist Wissenschaftskollegen aus verschiedenen Fachbereichen, aber auch Personen des gesellschaftlichen Lebens, scharfzuengig charakterisiert. Dieser Klatsch und Tratsch aus der Wissenschaftswelt ist so brilliant formuliert, das man ihn noch heute gerne liest, zumal der Blick ins interne Tagebuch auch manchen Voyeurismus befriedigt.

Eigentlich ist das Journal eher ein Stueck Literatur, das gleichzeitig auch noch interessante Details ueber die Geisteswissenschaft der zwanziger Jahre und ueber das Denken Aby Warburgs preisgibt. Warburg als Theoretiker und Denker bleibt trotz alledem kaum greifbar. Viele seiner Aeusserungen aus der hausinternen Kommunikation sind dem Leser nicht verstaendlich, hier waere eine umfassende Kommentierung nuetzlich gewesen. Allerdings haette eine systematische Erlaeuterung ins Uferlose gefuehrt. So beschraenken sich die Herausgeberinnen auf ein kleines Lexikon der erwaehnten Personen, das von grossem Nutzen ist. Viele Vorgaenge bleiben dagegen ungeklaert. Was soll man anfangen mit dem Satz "Goettingen fragt an, was die farbigen Streifen an unsern Buechern bedeuten" (S. 7)? Hier waere eine Erlaeuterung sicherlich notwendig gewesen, denn wie soll der Leser wissen, dass ein vierstufiges Farbstreifensystem auf dem Buchruecken in der KBW die Signatur ersetzte und jede Farbe eine Signalbotschaft besass? In der Einfuehrung wird das Ordnungssystem der Bibliothek nur ansatzweise beschrieben, in dem "die Buecher als Problemstellungen und Wegweiser zu deren Loesung aufgestellt" werden (Fritz Saxl, S. 34). Das komplexe Ordnungssystem der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg ist eine wichtige Voraussetzung zum Verstaendnis des Tagebuchs, denn nur so erschliesst sich dem Leser, warum so viel Zeit und Energie der Ordnung der Bibliothek gewidmet wurde und warum Saxl und Bing persoenlich sich mit Hilfsarbeiten wie dem Signieren beschaeftigen mussten. Auf die in der Literatur ausgetragenen Debatte um das Ordnungssystem der Bibliothek gehen die Herausgeberinnen in der Einfuehrung nicht ein. Aber dies ist vielleicht auch gar nicht die Aufgabe einer Edition des Tagebuchs, das die beiden Herausgeberinnen nun der weiteren Forschung in ein hervorragend aufgemachten Form als eine leicht zu erschliessende Quelle zur Verfuegung gestellt haben.

So bleibt zum Schluss nur noch die Versuchung, wenigstens ein Beispiel aus dem unerschoepflichen Zitatenschatz des Wortjongleurs Aby Warburg zu praesentieren, der sich hier in selbstkritischer Reflexion am 22./24. Juli 1927 zu seinem Lebenswerk, der Bibliothek, aeussert: "Es ist meinen Kollegen eben doch nicht praesent, was es bedeutet, dass meine Uhr auf fuenf Minuten vor (Schluss) steht. [...] Es ist seit meiner Rueckehr mein einziges Bestreben gewesen, mich als leitende Persoenlichkeit in den Hintergrund zu stellen, soweit nicht die Selbstbeleuchtung fordernde Idee mich zum Heraustreten zwingt. Auch moechte ich bekennen, dass ich schon vor dem Kriege, meine Unternehmung als eigentlich fuer den Nachfolger geschaffen ansah und deshalb auch - sehr viel davon im Stillen - die Abgabe (nicht die Cumulierung) der Wirkungsbereiche als meine Aufgabe ansehe. [...] Ich muss mein kosmisches Gesamtbild zu treuen Haenden ueberliefern, sonst hinterlasse ich kein aus sich heraus wachsendes Erbe." (Warburg, S. 123). Eigentlich war dies schon das vorweggenommene Vermaechtnis Aby M. Warburgs.

Warburg, Aby Moritz: Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, Berlin: Akademie Verlag 2001
ISBN-10: 3-05-003409-2, XXXIX, 681 S

Empfohlene Zitation:
Tilmann von Stockhausen: [Rezension zu:] Warburg, Aby Moritz: Tagebuch der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg, Berlin 2001. In: ArtHist.net, 22.03.2002. Letzter Zugriff 26.04.2024. <https://arthist.net/reviews/184>.

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