REV 27.04.2008

Tobias Vogt: Untitled

Rezensiert von Noel Reumkens
Redaktion: Rainer Donandt

In dem Bereich der Intermedialitätsforschung, der sich die Bezüge zwischen den literarischen und den visuell-künstlerischen Zeichensytemen zum Schwerpunkt gemacht hat, ist die möglicherweise älteste grundlegende Verbindung zwischen einem visuellen Kunstwerk und seiner sprachlichen Umwelt, der Titel, bislang relativ spärlich beleuchtet geblieben. Auch wenn seit Gérard Gennettes Schule machendem Band „Paratexte“ [1] die Rolle und Bedeutung der Parerga des Kunstwerks allmählich mehr in den Vordergrund getreten sind, bleibt der Titel in der Forschung mehr oder weniger ein Randphänomen. Zwar scheint dies mit seiner Stellung am Rande des Kunstwerks im Einklang zu stehen; es verkennt jedoch die vielseitige Rolle des Titels bei der Rezeption eines Kunstwerks. Erfreulicherweise konturiert nun Tobias Vogt in seinem Band „Untitled“ die Genese und Entwicklung der Nicht-Betitelung visueller Kunstwerke und zeigt somit auf paradoxe, jedoch umso überzeugendere Weise die große Bedeutung des Betitelns.

Vogt lokalisiert die Wurzeln des „zum häufigsten Namenseintrag in den Registern zeitgenössischer Kunst“ (7) avancierten „Untitled“ in den Arbeiten von Marcel Duchamp und Piet Mondria(a)n. Duchamp verabschiedete sich mit seinen ready-mades vom herkömmlichen Kunstwerkcharakter und versah seine den Erwartungshorizont des Galerie- und Museumsbesuchers sprengenden Kunstwerke mit bedeutungsüberfüllten, absurden Titeln wie z. B. „La mariée mise à nu par ces célibataires, même (Le grand verre).“ So versicherte der Titel den Kunstwerkcharakter, den das Objekt selbst verschleierte (48). Nach Vogt führte Duchamp gerade durch die Absenz einer unmittelbaren Übereinstimmung zwischen den Werken und ihren Titeln die Konnotationsmöglichkeiten „gegen Unendlich“ (26).

Piet Mondria(a)n verfolgte einen den Betitelungsstrategien Duchamps diametral entgegengesetzten Weg, indem er gegenüber konnotationsträchtigen Titeln ein ausgesprochenes Desinteresse an den Tag legte. Bis auf einige Spätwerke wie „New York City“ und „Victory Boogie Woogie“ tragen all seine geometrisch abstrakten neoplastizistischen Arbeiten denotative Titel wie „Tableau“ und „Composition“. Mondria(a)n reduzierte die konnotative Wirkung seiner Titel auf Null, indem er nicht mit Worten, sondern durch die geometrischen Formen seiner Rastergemälde zu sprechen versuchte (51).

Auf durchaus unterschiedliche Art und Weise ebneten also die nach Amerika emigrierten europäischen Avantgardisten Duchamp und Mondria(an) den New Yorker Nachkriegskünstlern den Weg zum absichtlich unbetitelten resp. später mit „Untitled“ betitelten Werk, dem Hauptgegenstand von Vogts Band. Beide machten mit ihren Arbeiten die Nachwuchskünstler der 40er und 50er Jahre auf die Titelproblematik aufmerksam.

Das 3. Kapitel des Bandes ist den Künstlern des abstrakten Expressionismus gewidmet. Maler wie Clyfford Still, Mark Rothko, Jackson Pollock, Barnett Newman und Ad Reinhardt vergrößerten in der zweiten Hälfte der 40er Jahre nicht nur den Abstraktionsgrad und das Format ihrer Bilder, sondern veränderten zudem die Betitelungsweise (96). Zum Ausdruck eines Neuanfangs, aber auch zur Abgrenzung gegenüber der surrealistischen Titelpoesie der europäischen Vorkriegszeit und zur Betonung des Unsagbaren des Erhabenen wie auch der bedrückenden Geschehnisse des Krieges weigerten sich einige Künstler der New Yorker Nachkriegsmoderne, ihre Gemälde mit einem Titel zu versehen.

Dass Rothko und Still ihre Gemälde am Anfang ihrer Karriere noch unbetitelt ließen, hängt nach Vogt zugleich auch in hohem Maße mit der Tatsache zusammen, dass Rothko und Still zu dieser Zeit (Anfang der 40er Jahre) noch weitgehend unbekannt waren und ihr Frühwerk deswegen unveröffentlicht blieb. Die Betitelung der Kunstwerke schien den beiden Künstlern überflüssig, da sie den Zweck der Titel nur im Rahmen einer eventuellen Veröffentlichung der Kunstwerke sahen. Hier zeigt sich die wichtige Rolle des Marktes und des künstlerischen Diskurses bei der Betitelung von Kunstwerken: Solange die Werke nicht vermarktet und vom künstlerischen Diskurs vereinnahmt wurden, brauchten sie keinen Titel, was an das am Anfang seines Bandes von Vogt aufgegriffene Diktum Umberto Ecos erinnert, wonach erst die Benennung die Natur zu „etwas Kulturellem“ werden lasse (13). Vor der Vermarktung waren Stills und Rothkos Gemälde zwar nicht stricto sensu als Naturdinge zu betrachten, aber sie waren namenlos, wie - zu diesem zeitpunkt ( auch die Künstler, die sie kreierten.

Vogts Studie ist vor allem deswegen von großem Interesse, weil er die Künstler und ihre Werke als Entitäten innerhalb des großen kulturellen Machtfeldes der künstlerischen Produktion und des damit zusammenhängenden Diskurses betrachtet und sie auch als solche beschreibt. Die Künstler und ihre Tätigkeiten stehen somit bei Vogt nicht in einer künstlichen ‚splendid isolation‘, sondern werden von der Einwirkung anderer, nicht produktiver, sondern rezipierender Akteure innerhalb des kulturellen Machtfeldes geprägt. Dies trifft auch für die Betitelung, bzw. die Nicht-Betitelung der Arbeiten zu, wie er anhand von u.a. Aussagen aus Zeitungsartikeln, schriftlichen Äußerungen der Künstler selber und den Eingaben in Ausstellungskatalogen auf überzeugende Weise zeigt. So wird klar, auf welch massives Unverständnis die Nicht-Betitelung anfänglich stieß. Dieses Unverständnis und die damit zusammenhängende Kritik an der Nicht-Betitelung in Galerien, Zeitungsartikeln und der Fachpresse führte dazu, dass einige Künstler, wie zum Beispiel Pollock und Newman, sich den Erwartungen und Wünschen des Feldes und des kommerziellen Kunstbetriebs fügten und in dieser Beziehung auf die anfänglich angestrebte Autonomie ihrer Werke zugunsten des kritischen und kommerziellen Erfolges verzichteten.

Eco hält in seiner „Einführung in die Semiotik“ bezüglich des abstrakten ‚Art Informel‘ Dubuffets und Fautriers fest: „Das Werk strebt eine solche Autonomie von den bestehenden Konventionen an, dass es ein eigenes Kommunikationssystem begründet: Aber vollständig kommuniziert es nur, wenn es sich auf komplementäre Systeme sprachlicher Kommunikation stützt (die ausdrückliche Poetik), welche als Metasprachen in Bezug auf die vom Werk aufgestellte Code-Sprache gebraucht werden.“ [2] Der Titel kann für diese Metasprache einen wichtigen Anknüpfungspunkt darstellen. Das Nicht-Vorhandensein eines solchen Anknüpfungspunktes führte bei Rezensenten der New Yorker Nachkriegskunst zu Beschreibungsproblemen, was die von den jungen Nachwuchskünstlern angestrebte visuelle Autonomie ihrer Werke zu belegen scheint. Sie versuchten durch die Nicht-Betitelung „the last literary encumbrance of the plastic arts“ (Lee Hersh) zu überwinden, ihre Kunstwerke dem Bereich der Sprache zu entziehen.

Die New Yorker Galeristin Peggy Guggenheim, die in ihrer Galerie „Art of This Century“ neben etablierten Künstlern wie Duchamp und Mondria(a)n auch Still, Rothko, Newman, Pollock und Reinhardt ausstellte, legte großen Wert auf die Betitelung der Kunstwerke. Wie Vogt schreibt, konnte die Galeristin „mit skeptischen Pressestimmen und womöglich ausbleibenden Käufern aufgrund der Verweigerung eines Titels, der die Abstraktion entschlüsselt (...) nicht zufrieden sein.“ (89) Der Künstler Clyfford Still, einer der wichtigsten Wegbereiter der Titellosigkeit in den visuellen Künsten, behauptete später, die Galerie habe seine Werke mit Titeln versehen. Nachdem Guggenheim New York in der zweiten Hälfte der 40er Jahre verlassen hatte, wurde ihre Stelle von der Galeristin Betty Parsons eingenommen. Diese stand dem Titelverzicht der abstrakten Expressionisten mit mehr Verständnis gegenüber als ihre Vorgängerin, was es Still ermöglichte seinen Weg der dezidierten Titellosigkeit fortzusetzen.

Es mag als logisch erscheinen, dass gerade die Künstler, die Vogt in seinem Band als die wichtigsten und prinzipiellsten Wegbereiter der Titellosigkeit anführt, heute einen vergleichsweise geringeren Bekanntheitsgrad genießen. Künstler wie Clyfford Still und Ad Reinhardt wehrten sich energisch gegen die Betitelung ihrer Kunstwerke. Insbesondere Still, der den Titel als „Irreführung des Betrachters“ und „Bedeutungsbegrenzung“ (100) betrachtete, wird von Vogt in diesem Band als wichtiger Pionier des Titelverzichtes in der jüngsten Moderne geschildert. Während Still Ende der 40er Jahre anfing, seine Gemälde zu nummerieren, ging Ad Reinhardt eher spielerisch vor, indem er zu seiner Ausstellung von 1948 auf Anfrage eine Liste mit von den eventuellen Käufern auszuwählenden Titeln herstellte. Bei den Titeln handelt es sich um Metatitel wie zum Beispiel „painting idea“ und „sensuous-surface remark“, die vor allem auf den Akt des Betitelns hindeuten. Sowohl Still wie auch Reinhardt und der nur am Rande erwähnte Lee Hersh (der sich aber schon früher als Still zur Titellosigkeit bekannt haben soll) dürften heute in Deutschland und in Europa einem weitaus weniger breiten Publikum vertraut sein als Pollock, Newman und Rothko. Jackson Pollock, der den Wünschen der Guggenheim‘schen Galerie - möglicherweise aus finanziellen Gründen - schon früh nachgab und seine Werke erst bei Betty Parsons zu nummerieren begann, anstatt sie zu betiteln, gehört heute zweifelsohne zu den bekanntesten Künstlern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ähnliches kann über Barnett Newman gesagt werden, der von den New Yorker Nachwuchskünstlern am häufigsten an die Öffentlichkeit trat, indem er zum Beispiel das Vorwort zur ersten Gemeinschaftsausstellung der Gruppe schrieb. Pollock, Newman und Rothko versahen ihre großformatigen Gemälde gemäß den Erwartungen des damaligen Publikums und der Kunstkritik anfänglich meistens noch mit traditionellen, biblisch, mythologisch oder natürlich konnotierten Titeln. Wie Vogt festhält, „übersah die Forschung die neue Betitelungsweise, die sich, beginnend mit Still und Reinhardt von 1947 an durchsetzte“ (111), was aber zugleich „das Gelingen der neuen Betitelungsstrategie bezeugt“, indem die visuelle Autonomie der Kunstwerke relativ uneingeschränkt blieb. Für die betreffenden Künstler und ihre Kunstwerke hatte dies jedoch zu Folge, dass sich ihr Renommé weniger leicht verbreiten ließ, als dasjenige Jackson Pollocks und Barnett Newmans. Die Titellosigkeit ihrer Werke gewährleistete zwar die visuelle Autonomie der Kunstwerke, erschwerte aber zugleich die Möglichkeit, von ihnen zu sprechen oder über sie zu schreiben.

Vogts Band wirft ein neues Licht auf den abstrakten Expressionismus und das künstlerische Streben der Protagonisten dieser Strömung, indem er die unterschiedlichen Betitelungsstrategien aus verschiedenen Perspektiven fokussiert und dem Leser die überdurchschnittlich große Bedeutung weniger bekannter Künstler erschließt. Interessant sind die vom Autor hergestellten Bezüge zwischen der Titellosigkeit einerseits und Konzepten wie der „Erhabenheit“ (dem „Sublimen“) der Kunstwerke, der Entstehungszeit nach Auschwitz oder Hiroschima und schließlich dem Bourdieu‘schen Konzept des Feldes der kulturellen Produktion andererseits. Auf diese Art und Weise bekommt die künstlerische Praxis der New Yorker Nachkriegsmoderne einen umfassenden Rahmen und werden die Kunstwerke erhellt, ohne dass sie auf eine bestimmte Bedeutung reduziert werden.

Im 4. Kapitel des vorliegenden Bandes kommt Vogt auf die zweite Generation der New Yorker Nachkriegskünstler zu sprechen. Vogt beschreibt, wie sie sich von ihrer Vätergeneration distanzierte, und konzentriert sich dabei auf die Betitelungsstrategien von Künstlern wie Jasper Johns, Robert Rauschenberg, Frank Stella, Donald Judd und Dan Flavin. Von Interesse ist dabei, dass Vogt zeigt, wie sich die „Einflussangst“ („anxiety of influence“) [3] - ein Begriff, der von Harold Bloom für die Literaturtheorie geprägt wurde, - im 20. Jahrhundert teilweise von den intrinsischen (visuellen) Merkmalen der Kunstwerke auf den Parallelbereich der Betitelung verlagerte. Die jungen Künstler unterschieden sich nicht mehr ausschließlich durch einen neuen Stil oder neue Techniken von ihren Vorläufern, sondern setzten auch andere Betitelungsstrategien in ihren Kampf um die Bourdieu‘sche „distinction“ ein. Dabei griffen sie - im Gegensatz zu den abstrakten Expressionisten - vor allem auf die europäische Vorkriegsmoderne zurück, indem sie die Nicht-Betitelungen und Nummerierungen durch konnotationsfreie Objektbezeichnungen in Anlehnung an Mondria(a)ns „tableaus“ und „compositions“, wie zum Beispiel „Black Painting“ (Reinhardt und Stella), „White Paintings“ (Rauschenberg) und „Flag“ (Johns) ersetzten. Außer dieser denotativen Betitelungsweise kommt, wie Vogt darlegt, in der Zeit nach 1950 aber auch eine auf Überhöhung der Konnotation anstrebende Betitelungsstrategie auf, die eher an Duchamps ironisch absurde Betitelungsstrategien wie bei „La mariée mise à nu par ces célibataires, même (Le grand verre)“ erinnert. Die Titel von Frank Stellas Serie „Black Paintings“ - zum Beispiel das Zitat „Arbeit macht frei“ und die an Mondria(a)ns letzte Arbeiten erinnernde geographische Bezeichnung „Tomlinson Court Park“ - verweisen zwar auf die außerbildliche Wirklichkeit, sind jedoch kaum mit den auf den Gemälden gezeigten abstrakt-geometrischen Streifenmustern korreliert. Dadurch wanderte, so Vogt, die Bedeutung ins Beiwerk (Parergon) und wurde die Wahrnehmung des Bildes als bloßen Objektes im Raum ermöglicht (202).

Als letzte Station der Karriere unbetitelter Kunst wird im vorliegenden Band die Betitelungpraxis einiger wichtiger Vertreter der Minimal Art der 60er Jahre besprochen. Künstler wie Dan Flavin, Donald Judd und Robert Morris weigerten sich, ihre Arbeiten zu betiteln, wonach „Untitled“ bei ihnen zu dem am häufigsten verwendeten Titel wurde. Dabei stand die paradoxe Eigenart von „Untitled“ - wie Vogt sagt, „ein Titel, der zu fehlen angibt“ - ganz im Einklang mit den Sprachspielen der Minimalisten. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang die Schreibweise von „Untitled“. Wenn es nämlich nicht-kursiviert und ohne Anführungszeichen, also nicht als Titel dargeboten wird, unterstützt es „die vermeintliche Ausdruckslosigkeit“ (238) und Nicht-Referentialität des Kunstwerkes. Wenn es aber kursiv gesetzt oder in Anführungszeichen erscheint, weist es, wie Vogt zeigt, explizit auf das Sprachbewusstsein des Kunstwerks hin.

Vogt beschreibt in seiner Studie den Weg der amerikanischen Nachwuchskünstler zum unbetitelten und zu dem als „Untitled“ betitelten Werk in den Jahren 1940-70. Dabei geht er äußerst umfassend und detailliert vor. Störend ist jedoch die Tatsache, dass der Untertitel von Vogts Band nicht ganz mit dem Inhalt des Bandes kongruent ist. Vogt lässt die „Karriere“ der unbetitelten Kunst mit zwei europäischen Vertretern der klassischen Moderne beginnen, beschränkt sich aber danach vollständig auf die amerikanische und insbesondere die New Yorker Kunstszene der Nachkriegszeit. Es stellt sich deswegen die Frage, aus welchem Grund Vogt nicht an seinem ursprünglichen, noch im Internet zu findenden Titel „Untitled. Benennung von Kunst in New York 1940-1970“ festgehalten hat. Im Übrigen wäre es aufschlußreich gewesen, in einer Studie zur Entwicklung von unbetitelter und mit dem Prädikat „Untitled“ betitelter bildender Kunst der jüngsten Moderne auch einige Beispiele zeitgenössischer europäischer Kunst zu erörtern, die dem amerikanischen Titelverzicht entweder zuwiderliefen oder ihn aber imitierten, zumal da Vogt die Titellosigkeit mehrmals als Reaktion auf die europäische klassische Moderne und die politischen Entwicklungen in Europa bezeichnet.

Im Zusammenhang mit der Absenz der europäischen Nachkriegskunst in dem vorliegenden Band stellt sich auch die Frage, wieso man im angelsächsischen Raum das Partizip „Untitled“ verwendet, während in vielen anderen Europäischen Sprachen eine selbständig (d.h. ohne das eigentliche, bestimmte Substantiv) verwendete, elliptische attributive Bestimmung Anwendung fand. Auf Deutsch, Niederländisch, Französisch und Italienisch heißt „Untitled“ bekanntlich „Ohne Titel“, „Zonder Titel“, „Sans Titre“ und „Senza Titolo“. Vogt widmet der grammatikalischen Eigenart des Partizips und dem Grund der Verwendung gerade dieser Wortform aber keinerlei Aufmerksamkeit, obwohl die Betitelung mit „Without (a) Title“ durchaus möglich gewesen wäre. Von Interesse ist dabei, dass „Untitled“ aufgrund seines verbalen Ursprungs eine „Aktivität“ des Nicht-Betitelns, eine bewußte Unterlassung aufseiten des Schöpfers voraus zu setzen scheint, während „Without a Title“, sowie auch die oben erwähnten anderssprachigen Äquivalente das Kunstwerk als autonome, von sich selber aus auf einen Titel verzichtende bzw. eines Titels gar nicht bedürfende Entität darzustellen vermögen. Im Zusammenhang mit den in diesem Band erörterten Versuchen zur Überwindung der literarischen, sprachlichen Beeinträchtigung der Autonomie der Visuellen Künste wäre es interessant zu ermitteln, wieso gerade die Form „Untitled“ im angelsächsischen Kulturbereich zum meistverwendeten Namenseintrag in Registern zeitgenössischer Kunst avancierte.

Tobias Vogt konturiert in dem vorliegenden Band auf sehr gut strukturierte Weise und anhand von einer Vielzahl von einschlägigen Beispielen die Genese und Entwicklung eines Phänomens, das - obwohl nach traditioneller Ansicht zu den Parerga der Kunstwerke gehörend - seit dem Zweiten Weltkrieg immer mehr an Bedeutung gewonnen hat. Die Nicht-Betitelung und die daraus hervorgegangene paradoxe Betitelung mit „Untitled“ bildeten bislang einen blinden Fleck in der Kunstgeschichtsschreibung, den Vogt mit seiner Untersuchung beseitigt hat.

Der Band bietet darüber hinaus interessante Einsichten nicht nur in die amerikanische Nachkriegskunst als solche, sondern in den ganzen Kunstbetrieb und -markt, der diese Kunst umgab und ihr einen Schauplatz bot. Es gehört zu den größten Verdiensten des vorliegenden Bandes, dass Tobias Vogt einerseits die Autonomie der abgebildeten und besprochenen Kunstwerke wahrt, indem er sie - gemäß den Bestrebungen der Wegbereiter der Titellosigkeit ( nicht auf eine außerkünstlerische Bedeutung zu reduzieren versucht, andererseits jedoch die Courage beweist, die betreffenden Künstler ganz klar als durchaus nicht völlig autonome Akteure innerhalb eines sozio-ökonomischen und -kulturellen Systems zu zeigen. So wird der Einfluss beispielsweise der Kunstgalerien auf die Betitelung der Kunstwerke und somit auf ihre Wirkung geschildert. Ferner wird auch das Distinktionsbedürfnis der Künstler in seiner Auswirkung auf die Betitelung der Werke beleuchtet. Der Einbezug solcher pragmatischer Gegebenheiten bietet - wie der vorliegende Band überzeugend zeigt - interessante Perspektiven, die in der Forschung leider allzu oft außer Betracht bleiben. Tobias Vogts Band verdient es denn auch, so schnell wie möglich in andere Sprachen, und zwar - wegen des vor allem amerikanischen Hauptgegenstandes des Bandes - insbesondere ins Amerikanische übersetzt zu werden.

Anmerkungen:

[1] Gérard Genette, Paratexte, Das Buch vom Beiwerk des Buches, Frankfurt am Main 1989.
[2] Umberto Eco, Einführung in die Semiotik, München 1972, S. 265.
[3] Harold Bloom, Einflußangst. Eine Theorie der Dichtung, Frankfurt am Main/Basel 1995.

Vogt, Tobias: Untitled. Zur Karriere unbetitelter Kunst in der jüngsten Moderne, München: Wilhelm Fink Verlag 2006
ISBN-10: 3-7705-4239-8, 278 S., EUR 39.90

Empfohlene Zitation:
Noel Reumkens: [Rezension zu:] Vogt, Tobias: Untitled. Zur Karriere unbetitelter Kunst in der jüngsten Moderne, München 2006. In: ArtHist.net, 27.04.2008. Letzter Zugriff 27.09.2024. <https://arthist.net/reviews/178>.

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