REV 23.01.2008

Marie-Louise Angerer: Vom Begehren nach dem Affekt

Rezensiert von Susanne Holschbach
Redaktion: Philipp Zitzlsperger

„Languages of Emotion“ – so lautet der Titel eines der wenigen geisteswissenschaftlichen Exzellenzcluster, die sich in der letzten Runde der Exzellenzinitiative an den deutschen Hochschulen durchsetzen konnten. Der Erfolg des Forschungsprogramms, das die „enge Verbindung zwischen Symbolgebrauch, Affekt-Transfer, Imagination, ästhetischen Praktiken, psychischer Disposition und Konstruktion personaler und sozialer Identitäten“ untersuchen will [1], zeigt einmal mehr, dass die Emotion bzw. der Affekt zu einem wissenschaftlichen Gegenstand aufgerückt ist, dessen Erforschung man eine Notwendigkeit, wenn nicht gar Dringlichkeit einräumt. Von ihm erhofft man sich nicht zuletzt einen Brückenschlag zwischen Kultur- und Naturwissenschaften, insbesondere der Leitdisziplin Neurobiologie. Deutlicher konnte die Diagnose einer Konjunktur des Affekts, die am Ausgangspunkt der jüngsten Veröffentlichung der Medientheoretikerin und Kulturwissenschaftlerin Marie-Luise Angerer steht, also kaum bestätigt werden.

Für Angerer stellt das „Dispositiv des Affektiven“, dessen Wirksamkeit sie in kultur- und medientheoretischen Debatten der letzten Dekade ebenso beobachtet wie im Kunstfeld und in der Netzwelt, weit mehr dar als eine Diskursmode. Angerers Frage, der sie in ihrer Studie am Beispiel unterschiedlicher diskursiver Felder nachgeht, zielt daher auf das Erkenntnisinteresse am Affektiven, auf die Ursache für das, was sie als ein „Begehren nach dem Affekt“ bestimmt. Mit dieser Formulierung gibt Angerer bereits den Ort an, von dem aus sie das „Dispositiv Affekt“ in den Blick nimmt: die psychoanalytische, poststrukturalistische Subjekttheorie und ihre Konzepte der Sprache, des Unbewussten, der Sexualität. Der psychoanalytischen Subjekttheorie zufolge wird das Begehren durch einen konstitutiven Mangel in Gang gehalten, den es zugleich überwinden will. Der Affektdiskurs kommt dagegen, so konstatiert Angerer, als Rede von der Fülle daher, in der Emotionen für eine Ebene unmittelbarer Erfahrung, für die Überwindung der Kluft zwischen Körper und Geist, Ich und Welt stehen: „Ich fühle, also bin ich“ , so ein Erfolgstitel des Gehirnforschers Antonio Damasio, der maßgeblich zur Popularisierung der neurologischen Affektpsychologie beigetragen hat (Damasio 2000). In der Wendung zum Affekt geht es also um nichts weniger als um den Begriff des Subjekts und die Definition seiner Handlungsfähigkeit. Was aber steht auf dem Spiel in dieser Neubestimmung des Subjekts, des Verhältnisses von Geist und Körper, von Mensch und Maschine, durch eine auf neurobiologischen und kognitionswissenschaftlichen Prämissen aufruhenden Gefühlstheorie und ihrem Transfer in die Medien- und Kulturwissenschaften? Was für ein Verlust ist mit der Abkehr von Konzepten wie dem Unbewussten, der Sexualität, der Repräsentation verbunden? Wem bzw. welchen gesellschaftlichen, politischen Konstellationen arbeitet „das Begehren nach dem Affekt“ zu? – so die Fragen, die Angerer umtreiben.

Anhand der Lektüre von Autor/innen aus dem Bereich der Philosophie Neuer Medien, der Filmtheorie, dem Cyberfeminismus zeigt Angerer in fünf eng miteinander verwobenen Kapiteln, wie in den unterschiedlichen Kontexten jeweils mit dem Affektiven argumentiert wird, wogegen es ins Feld geführt wird, und welche Theorierezeptionen dem „affective turn“ [2] der zumeist ursprünglich aus einer poststrukturalistischen Richtung kommenden Positionen zu Grunde liegen. Im Zusammenhang mit aktueller digitaler Kunstpraxis, insbesondere immersiven Bild-(Sound)-Installationen wie etwa denen Bill Violas oder Char Davies’ spricht beispielsweise Marc Hansen, auf dessen New Philosophy of New Media (2004) Angerer an verschiedenen Stellen ihrer Studie eingeht, von einer technischen Erweiterung der Selbst-Affizierung, die uns ein umfassenderes und intensiveres Selbsterlebnis ermögliche. Die ‚rahmenlosen’ digitalen Bilder erfordern geradezu die Rahmung durch den (affektiven) Körper, so eine These Hansens, die er aus Erkenntnissen der Neurowissenschaften ebenso ableitet wie aus der Bildtheorie Bergsons. (32f) Hansens Theorie steht bei Angerer beispielhaft für den Einsatz des Körpers und der Affekte im Sinne einer Schließung, die kein ‚Dazwischen’ mehr zulasse, kein Eindringen von Bedeutung und Repräsentation. (37) Die Wahrnehmungstheorie Bergsons, dessen Schlüsselwerk Materie und Gedächtnis (1896) fast zeitgleich mit Freuds Entwurf einer Psychologie (1895) entstanden ist, bildet einen der Knotenpunkte in Angerers Lektüren. Im Kapitel Affektive Theorie-Läufe stellt sie beider Konzepte des Verhältnisses von Körper und Bewusstsein direkt gegenüber: „Während bei Bergson Gefühle, Vorstellungen und Empfindungen im Bild zusammentreffen, unterscheidet Freud klar zwischen dem Somatischen und seiner Repräsentation und definiert hinsichtlich des Triebs, dass wir diesen immer nur in seiner Repräsentation, nicht jedoch per se erfassen können.“ (63) In Abgrenzung wiederum zu Freuds Triebbegriff entwickelte Silvan Tomkins in den fünfziger und sechziger Jahren sein Modell von acht bzw. neun angeborenen basalen Affekten, die als primäres Motivationssystem fungieren, und denen Tomkins die Triebe unterordnete. Zusammen mit Adam Frank veröffentlichte Eve Kosofsky Sedgwick, eine der Begründerinnen der Queer Theory, 1995 einen Reader aus seinen Schriften (Shame and it’s Sisters), um ihn für die Kulturwissenschaften fruchtbar zu machen. Das Tomkinsche Affektmodell zeichne sich gegenüber dem Triebmodell Freuds, so die Argumentation der Herausgeber, durch eine größere Freiheit etwa in Bezug auf ihre [der Affekte bzw. Triebe] Objekte aus. „[...] aus dem Netz des Sexuellen herauszukommen, das Freud angeblich gewaltsam über den Menschen gestülpt hat“, wie Angerer den Rekurs von Kosofsky Sedwick und anderer auf Tomkins kommentiert (75) – und damit aus dem Dilemma eines sexuell markierten, genderspezifischen Identitätszuschreibungen unterworfenen Subjekts – versuchen auch die Theorien des Cyberfeminismus. Für den Aufbruch in eine „Trans-Gender-Welt“ steht Donna Haraways Figur der Cyborg, an deren Transgression des Humanen in Richtung Tier und Maschine Rosi Braidotti und Luciana Parisi anschließen. Einer ausführlichen Lektüre unterzieht Angerer Braidottis Umdeutung der von Agamben in die aktuelle Diskussion gebrachten Begriffe bios und zoë für ihren Entwurf einer „nomadischen Ethik“ (Transpositions. On Nomadic Ethics, 2006). Das „nackte Leben“ (zoë) steht bei Braidotti für den rebellischen Anteil des Subjekts, der noch nicht ganz den dominanten Kategorien der Subjektivität unterworfen ist, für das vom phallogozentrischen Denken ausgeschlossene Weibliche und Nicht-Humane, das es zurück zu gewinnen gelte, um im Sinne Deleuze „etwas- Anderes-zu-Werden“ (becoming others). [3] Radikalisiert wird die Vorstellung einer transversalen Subjektivität in Luciana Parisis Entwurf eines Abstract Sex (Philosophy, Bio-Technology and the Mutations of Desire, 2004), „wo das Begehren auf die Stufe von Austausch, Bewegung und Teilung reduziert ist“ (116). Gehe bei Braidotti der Begriff des Begehrens letztlich in jenem des Affekts auf – als einer generalisierenden Kraft, die das Leben antreibt –, beobachtet Angerer bei Parisi die Mutation des Begehrens zu purer Energie und damit den „Übergang zu einer radikal subjektlosen Formation organischer Körper.“ (119)

Das Problematische dieser und anderer der angesprochenen Theoriebildungen sieht Angerer darin, dass sie einer biopolitischen Instrumentalisierung letztlich ebenso zuspielen könnten, wie die Gehirn- und Kognitionsforschung. „Die Emotionen und Affekte sollen transparenter werden, um das Funktionieren von Mensch, Politik, Maschinen kompatibler zu machen“ (83), so ihre Befürchtung. In diesem Sinne ist ihre rhetorische Frage – „können wir die psychische Dimension [um damit einer Übersetzungsdimension] endgültig verabschieden, um allein einer vitalistischen Motivationskraft fortan die Verantwortung zu übergeben?“ (119) – eindeutig als Appell zu verstehen, eben dies nicht zu tun.

„Vom Begehren nach dem Affekt“, das dürfte bereits aus den wenigen hier vorgestellten Beispielen hervorgehen, eröffnet eine Vielzahl von thematischen Bezügen, unter denen man den Affektdiskurs verfolgen kann, und liefert dafür mit den großen theoretische Linien, die es zeichnet, zugleich eine Orientierung. Es bietet damit eine sehr anregende, wenn auch nicht immer ganz leichte Lektüre – bei der Menge an zitierten Autor/innen kann man schon mal den Faden verlieren. Angerers Buch ist nicht gedacht als eine Einführung zum Forschungsstand und zur Begriffsverwendung der Affekttheorien (etwa der Differenzierung zwischen Affekt, Emotion und Gefühl), auch nicht als Einführung in die Theorien, deren „emotional turn“ es nachzeichnet, vielmehr stellt es eine Diagnose und setzt ein Statement. Es ist unmissverständlich parteiisch – gegen die Affekteuphorie und die Anbiederung der Kultur- an die Neurowissenschaften –, aber keineswegs gegen eine Beschäftigung mit den Affekten, die, worauf Angerer immer wieder hinweist, auch bei Freud und Lacan nicht gänzlich unter den Tisch fallen, im Gegenteil: Affekte sollten bedacht, ins Denken eingeschlossen werden (37). Dass dies jedoch nicht der einfachste Weg ist, daran gemahnt bereits das Motto Freuds, das Angerer ihrer Studie voranstellt: „Es ist nicht bequem, Gefühle wissenschaftlich zu bearbeiten.“

Anmerkungen:
[1] „Languages of Emotion“ ist ein Exzellenzcluster der Freien Universität Berlin
(http://www.fu-berlin.de/info/
exzellenzinitiative/projekte.html#Emotion), Sprecher ist Prof. Dr. Winfried Menninghaus.
[2] Angerer sieht die Hinwendung zum Affekt in einer Linie mit dem „performative turn“ und dem „pictorial turn“, da auch diese sich gegen die dem „lingustic turn“ angelastete Überwertung der Sprache und der Struktur richtet.
[3] Deleuze’ und -/Guattaris anti-ödipales, rhizomatisches Denken der Befreiung, Immanenz und Intensität erweist sich in Angerers Lektüren als ein weiterer Knotenpunkt. Es stellt gewissermaßen eine Umschaltpunk zwischen Poststrukturalismus und Affekttheorien dar.

Angerer, Marie-Luise: Vom Begehren nach dem Affekt, Zürich [u.a.]: diaphanes 2007
ISBN-13: 978-3-935300-92-6, 152 S., [8] Bl

Empfohlene Zitation:
Susanne Holschbach: [Rezension zu:] Angerer, Marie-Luise: Vom Begehren nach dem Affekt, Zürich [u.a.] 2007. In: ArtHist.net, 23.01.2008. Letzter Zugriff 24.04.2024. <https://arthist.net/reviews/177>.

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